Diethelm Reiner Kaminski

Ein Haarkünstler



An Roberto Gafiro kommt niemand vorbei. Er hat das Monopol in unserer Kleinstadt. Zwar gibt es noch einen zweiten Friseur, Bruno Brösecke, aber der gilt als gemeingefährlich, seitdem er dem Bürgermeister bei der täglichen Rasur aus Unachtsamkeit beinahe ein Ohr abgetrennt hätte.
 
Herr Gafiro ist auch kein gewöhnlicher Friseur, er ist ein Haarkünstler, und ein feuriger italienischer dazu. In einem eleganten Haarstudio. Mit gedämpfter Opernmusik von Bellini und Rossini im Hintergrund. Wenn er gut gelaunt ist, stimmt er sogar mit seiner schmelzenden Stimme in die Arien ein. Die Damen liegen ihm zu Füßen und buhlen um seine Gunst, die er keinesfalls jeder gewährt.
 
Herr Gafiro kann machen, was er will. So hat er zum Beispiel eine Ausweiskontrolle eingeführt. Er begründet das damit, dass er für seine künstlerischen Entscheidungen unter allen Umständen das Alter der zu Frisierenden wissen müsse. Die Männer argwöhnen, dass er auf diesem Wege an Namen, Alter und Anschrift der Damen kommen möchte, denn in die Ausweise der Frauen vertieft er sich viel länger als in die der Männer. Wer protestiert, kriegt zu hören: „Gehen Sie doch zur Konkurrenz, dem Ohrenabschneider.“
 
Oder: „Wenn Sie darauf bestehen … aber ich übernehme keine Garantie. Das Risiko tragen dann ganz alleine Sie.“ Das möchte aber niemand eingehen, und so händigen alle brav ihre Ausweise aus.
 
Bei Roberto Gafiro gilt es auch bestimmte Regeln und Tabus zu beachten. Wer abfällige Bemerkungen über die sizilianische Mafia, die italienische Nationalmannschaft oder den Vatikan macht, wird mitten in der Haarbehandlung hinauskomplimentiert und braucht sich so bald nicht mehr blicken zu lassen.
Es kommt auch vor, dass Herr Gafiro für eine Stunde oder mehr aus dem Studio geht
und seine Kunden einfach warten lässt, sich auch anschließend nicht entschuldigt. Das braucht er auch nicht, denn letztlich ist jeder froh, dass es weitergeht und er nicht auf den nächsten Tag vertröstet wird. Es wird gemunkelt, dass Herr Gafiro diese Pausen braucht, um die Sonderwünsche bevorzugter Kundinnen zu erfüllen.
 
Dafür gibt es auch Beweise: blonde, schwarze, rote Haare auf den Polstern seines Fiat. Das behauptet jedenfalls Erwin Brunck, der Tankwart der Tankstelle, bei der Herr Gafiro seinen Fiat regelmäßig waschen und reinigen lässt.
 
Neben der Kasse hat Herr Gafiro ein weiß gedecktes Tischchen mit einem Strauß stets frischer Rosen aufgestellt. Dort haben die Kunden Gelegenheit, ihrer Zufriedenheit in Form von Naturalien – Rotwein, Schinken, Kaffee oder Käse – oder in Form eines diskret verschlossenen Briefumschlags sichtbaren Ausdruck zu verleihen, wovon besonders die Damen reichlich Gebrauch machen.
 
Auch hier streuen Neider und eifersüchtige Ehemänner das Gerücht, der Tisch diene als Nachrichtenstation zwischen Herrn Gafiro und seinen Kundinnen. Auch würden liebeswütige Frauen gelegentlich unzweideutige Angebote hinterlassen, deren Ernsthaftigkeit mit einigen Geldscheinen unterstrichen würde.
 
Da ich, krankheitsbedingt, meine Haarpracht schon in jungen Jahren eingebüßt habe,  bin ich von Herrn Gafiros Marotten verschont geblieben und habe sein Treiben eher amüsiert verfolgt. Das hat sich geändert, seit meine Lebensgefährtin sich – statt wie früher einmal alle zwei Monate – neuerdings wöchentlich in Herrn Gafiros Haarstudio begibt und auch zunehmend größere Beträge von unserem gemeinsamen Konto abhebt, ohne es für nötig zu halten, mir über deren Verwendung Rechenschaft abzulegen.
 
Zugeben muss ich aber auch, dass sie schon lange nicht mehr so aufmerksam und zärtlich zu mir gewesen ist. So habe ich allen Grund, Herrn Gafiro eher dankbar als böse sein.
 

05.08.2006

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