Diethelm Reiner Kaminski

Schläferin



Sie lag zusammengeknäuelt auf zwei der vier gepolsterten Sitzplätze im Zugabteil. Die Knie hatte sie unter ihr Kinn gezogen. Die Arme und Beine schienen miteinander verknotet zu sein. Ein normaler Mensch hätte zum Schlafen alle vier Plätze gebraucht, aber die Frau atmete so gleichmäßig und entspannt, als hätte sie die bequemste Schlafposition der Welt eingenommen.
Eine Schlangenfrau? Wie groß mochte sie sein? Das würde sich zeigen, wenn sie sich erhob. Sie schlief schon fast zwei Stunden. Irgendwann musste sie ja wach werden. Spätestens bei der nächsten Fahrkartenkontrolle.
Die ließ auch nicht lange auf sich warten, brachte aber keine Aufklärung. Die Schläferin löste auf den Ruf „Die Fahrausweise bitte“ nur eine zarte Hand aus dem Körperknäuel und streckte sie leicht von sich, ohne die Augen zu öffnen oder ihre Schlafposition zu verändern. In der Hand hielt sie den zusammengefalteten Fahrschein. Der Schaffner nahm ihr das Ticket aus der Hand, faltete es auseinander, besah es sorgfältig, entwertete es mit seiner elektronischen Zange, faltete es wieder zusammen, drückte es der Frau in die Hand, die sie augenblicklich wieder einzog und in das Knäuel aus Kopf, Körper und Beinen schob.
 
Beim nächsten Halt öffnete ein Mann mit zwei Kindern die Tür zu unserem Abteil. Er blickte sich kurz um und fragte: „Sind hier noch drei Plätze frei?“
Auf meiner Seite schliefen zwei Reisende, ein Mann und eine Frau. Sie hatten sich die Mäntel über die Gesichter gezogen. Auf dem freien Platz neben mir hatte ich meine Reisetasche abgestellt. Es ist praktischer, seine Siebensachen in Reichweite zu haben. Dann braucht man die Tasche nicht umständlich aus der Gepäckablage zu heben und wieder zu verstauen.
„Wenn die Frau sich nun mal ausstrecken möchte“, schoss es mir durch den Kopf, und schon sagte ich: „Leider nein. Alles besetzt. Die Leute sind nur kurz ins Bistro gegangen. Aber weiter hinten in den Waggons sind noch genügend Plätze frei. Habe ich eben selber gesehen“, log ich.
Die Schläferin rührte sich auch in der nächsten Stunde nicht. Der Mann und die Frau unter den Mänteln schnarchten weiter leise vor sich hin. Ich vertrieb mir die Zeit damit, die Schläferin in Gedanken zu entknäueln, sie in eine normale Sitzposition zu bringen, sie aufzustellen, um ihre Größe zu schätzen, mir ihr Gesicht vorzustellen, sie probeweise sprechen und lachen zu lassen.

Über diesen Träumereien musste ich selber eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, war die Schläferin verschwunden. Die vier Sitzplätze hielten der Vater und seine beiden Kinder besetzt. Alle drei schauten mich feindselig an und schwiegen, sprachen auch miteinander kein Wort.

Ich zog mir den Mantel über den Kopf und versuchte zwischen Wachen und Schlafen die kleine Schläferin weiter zu entknäueln und enträtseln. Aber ihr Geheimnis löste ich nicht. Nicht einmal im Traum.

 
25.01.2010

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