Diethelm Reiner Kaminski

Die Wände hoch



Die beiden Familien waren zwei Stunden zu früh zur Geburtstagsfeier im Hotel Kormoran eingetroffen.
 
„Geht spielen, bis wir euch rufen“, sagte Onkel Erwein, „wir haben noch was Wichtiges zu bereden.“
 
Chantal hielt eine zu einem Trichter geformte Hand an den Mund und imitierte Schluckgeräusche, um anzudeuten, was für eine wichtige Besprechung das war.
 
„Und was sollen wir hier spielen?“, maulte Frikka.
 
„Geht meinetwegen die Wände hoch“, erteilte ihr der von der langen Autofahrt entnervte Vater eine Abfuhr. Chantal und Frikka nahmen die Jüngste, Nadia, in die Mitte und verzogen sich nach draußen.
 
„Eigentlich keine schlechte Idee. Wir laufen die Wände hoch. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Um die Wette. Wer den höchsten Fußabdruck auf der Wand hinterlässt, hat gewonnen“, schlug Chantal vor.
 
„Erst mal eine Wand finden, wo uns niemand sieht.“
 
Sie gingen um den weiträumigen Hotelkomplex herum. Überall nur Parkplätze und Versorgungsauffahrten, aber dann fanden sie schließlich doch eine tote Ecke, wo die Heizungs- und Belüftungsanlagen des Hotels untergebracht waren.
Nach tagelangem Regen war der Boden außerhalb der breiten Betoneinfassung rund um das Gebäude stellenweise aufgeweicht und morastig.
 
„Schuhe ausziehen“, kommandierte Chantal. Sie machte es vor, zog Schuhe und Strümpfe aus und watete mehrmals durch eine schlammige Pfütze. „Toll warm, viel besser als in den engen Schuhen.“
 
Sie nahm einen kurzen Anlauf und lief zwei Schritte die weiß getünchte Wand hoch, hatte aber Mühe wieder auf den Beinen zu landen, ohne zu stürzen. An der weißen Wand, in etwa einem Meter Höhe, war deutlich ihr zierlicher schwarzer Fußabdruck zu erkennen, der an den Rändern wässerig auseinanderlief.
 
„Wer schafft es höher?“, forderte sie ihre Cousinen auf, es ihr gleichzutun.
 
„Aber ich bin doch viel kleiner als ihr“, protestierte Frikka.
 
„Gleiche Regeln für alle. Bei der Olympiade sind auch nicht alle Athleten gleich groß. Dafür bist du schließlich auch leichter als wir.“
 
Und tatsächlich schaffte es Frikka mindestens zwanzig Zentimeter höher.
Das konnte nicht einmal die sportliche Nadia überbieten.
 
„Ganz schön bescheuert, was ihr da macht“, sagte auf einmal eine Mädchenstimme.
 
Chantal, Frikka und Nadia wandten sich um. Ein etwa  vier Jahre älteres Mädchen stand dort an eine Platane gelehnt und zeigte ihnen einen Vogel.
 
„Schaut nur mal, wie ihr die Wand versaut habt. Wenn ihr runterfallt, sehr ihr genauso aus. Und das in eurem Hochzeits-Outfit“.
 
„Geburtstag. Wir sind hier zum 80. Geburtstag unseres Opas“, korrigierte Nadia die Vermutung.
 
„Der Dreck ist noch gar nicht das Schlimmste. Habt ihr dran gedacht, wie ihr euch verletzen könnt, wenn ihr auf den Betonboden stürzt?“
 
Hatten sie nicht. Mit 13 oder 14 denken Kinder nicht an Gefahren, sondern nur an ihren Spaß.
 
„Das sagst du nur, weil du dich selber nicht traust“, sagte Chantal verächtlich.
 
Kaum ausgesprochen, nahm das fremde Mädchen einen Anlauf, lief mit unglaublicher Energie etwa zweieinhalb Meter die Wand hoch, machte einen eleganten Salto rückwärts und landete sicher, mit gebeugten Knien die Wucht des Aufpralls abfedernd, auf dem Boden.
 
„Wow“, staunten die Cousinen. „Und das mit Rock und Schuhen. Da hast du bestimmt lange geübt.“
 
„Habe ich“, sagte das fremde Mädchen. „Zusammen mit meiner besten Freundin. Wir haben viele Jahre von einer gemeinsamen Artistenkarriere geträumt.“
 
„Und jetzt? Jetzt wollt ihr nicht mehr?“, fragte Chantal.
 
„Nicht wollen? Wir können nicht mehr“, sagte die Fremde.
 
„Und warum könnt ihr nicht mehr?“, fragte Frikka.
 
„Das heißt, ich könnte schon, aber allein, ohne meine Freundin, macht es keinen Spaß. Und ich möchte Marion nicht noch unglücklicher machen.“
 
„Unglücklich. Was ist mit deiner Freundin?“

„Sie ist gestürzt und sitzt seit einem Jahr im Rollstuhl“, sagte die Fremde mit trauriger Stimme.
 
„Und du? Was machst du?“, wollte Nadia wissen.
 
„Nichts Sensationelles. Ich bin Zimmermädchen hier im Hotel. Wie manche Gäste ihre Zimmer hinterlassen. Da gehe ich auch jeden Tag die Wände hoch. Zum Beispiel, wenn ich sehe, wie ihr diese Wand hier beschmiert habt.“
 
„Wirst du uns jetzt verraten?“
 
„Wie sollte ich? Hab ja selber mitgemacht. Und jetzt Füße waschen. Kommt mit, ich zeige euch, wo hier unten eine Dusche ist.“
 

17.07.2008

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