Andreas Rüdig

Die Hexengeschichte

  

Die Hexengeschichte

Unsere Bank wächst und gedeiht prächtig. Das ist offensichtlich. Werfen Sie doch nur einen Blick in unsere Bilanz. Seit Jahren verzeichnen wir Rekordgewinn auf Rekordgewinn. Und wissen nicht, wohin damit. Aber mir ist da eine Idee gekommen. Wir brauchen ein neues Repräsentationsgebäude, ein Gebäude, in dem wir Feste feiern, Tagungen durchführen, Konferenzen und Kongresse abhalten und Ehrungen vornehmen können. Ich habe da auch schon ein Objekt im Auge. Oben in Hubertshausen, dort gibt es ein riesiges Industriegebiet. Dort gibt es eine Hütte für seltene Erden, die schon vor langer Zeit aufgegeben wurde. Dementsprechend stehen dort heute viele Hallen und Verhüttungsanlagen leer. Ich habe mir die Gebäude angesehen. Heute sind da natürlich viele Spinnweben und viel Unkraut. Wenn man aber alles wieder herrichtet, dann können wir die Verpupungs-, äh, Entschuldigung, die Verpuffungsanlage bestimmt als Repräsentationsobjekt nutzen.

Ich weiß auch schon, wie es dort aussehen soll. In dem kleinen Gebäudeteil rechts vom Eingang mit seinen ineinander verschachtelten Räumlichkeiten werden wir die Gastronomie unterbringen. Naja, Gastronomie und Hotellerie im weiteren Sinne eben. Wer schon auf unsere Kosten übernachtet, soll ja auch ein wenig Spaß und Freude haben. Dieser Raum eignet sich gut für den Stehempfang. Und dort ist der Übergang zur Veranstaltungshalle. Hier ist deren Eingang, dort drüben der Bühnenbereich und hier der Zuschauerraum. Dieser Raum ist wirklich perfekt dafür geeignet.

Wie teuer das alles ist? Nun, der Ankauf des Gebäudes einschließlich der maroden Gebäude wird uns schlappe 3 Millionen kosten. Der Umbau des Repräsentationsgebäudes schlägt mit einer müden Million zu Buche. Und was wir mit den übrigen Gebäuden machen, muß noch gründlich durchdacht werden. Vielleicht ein Freizeit- und Vergnügungspark? Vielleicht ein Kongreß- und Tagungszentrum für unsere Landesregierung? Ein riesiges Sportareal für unseren örtlichen Sportbund? Schaun mer mal, wie unser ungekrönter Kaiser sagen würde. Ich muß da noch meine Kollegen im Vorstand fragen; ich kann und darf das leider nicht alleine entscheiden.

3 Millionen alleine für Grund und Boden. 1 Million mindestens für die Renovierung einer baufälligen Industriebrache. Der Mann ist wahnsinnig. Unser Geld ist sauer verdient. Sollen wir es mit beiden Händen zum Fenster `rausschmeißen? Ich sage: Nein! Was sagen Sie, meine Herren Kollegen?

Es ist nur beipflichtendes Gemurmel zu hören.

Der Gedankenzauber ist eine magische Praktik. Er wurzelt in der Annahme, daß die menschlichen Gedanken Einfluß auf die Personen und Objekte haben. Die zaubernde Person nimmt sich dabei vor, ganz fest an eine Personen, einen Gegenstand oder einen Wunsch zu denken – so soll der gewünschte Effekt herbeigeführt werden. Ist der Gedankenzauber auch ganz real feststellbar? Ich hoffe es jedenfalls. Nun, wir werden sehen...


Daß Gedankenzauber nichts mit Hokuspokus fidibus zu tun hat, ist mir ja auch klar. Man braucht keine Nadeln in Puppen zu stecken oder Zauberkräuter in Kessel mit brodelnden Wasser zu stecken. Ein Foto von der Person bzw. dem Gegenstand reicht schon völlig aus.

Ich habe hier ein solches Foto von dem Magen-und-Darmtrakt-Entwindungs-, äh, schon wieder dieses Versehen, ich bitte um Entschuldigung, also ich habe hier ein Foto von dem Verpuffungsgebäude. Ich bitte jetzt um absolute Ruhe, meine Damen und Herren. Ich muß mich jetzt konzentrieren. Auf das Gebäude konzentrieren, um genau zu sein. Ich starre das Foto an. Ich starre das Gebäude an. Und spüre erst einmal nichts. Da kommt überhaupt keine Rückmeldung. Stimmt etwas nicht mit der GFÜ, der Gedankenfernübertragung? Sehen Sie den Löffel da vorne? Konzentriere ich mich auf ihn, fliegt er durch die Luft, genau in Ihre Kaffeetasse. Dieses Industriegebiet scheint mich aber nicht zu mögen.

Der Namenszauber ist ebenfalls eine magische Praktik. Personen sollen mit Hilfe ihres Namens auf magische Zeit und Weise beeinflußt werden. Diese Beeinflussung kann auf verschiedene Art erfolgen. Der Name kann in einem Ritual schlicht ausgesprochen werden. Der Name kann aber auch in Gesängen, Zaubersprüchen oder Erzählungen erwähnt werden. Eine Nebenform besteht darin, die Namen mächtiger Ahnen und Götter anzurufen (nein, nicht mit dem Telefon, Sie Quatschkopp) (wir machen das in einer Zeremonie); diese Ahnen und Götter sollen die magische Wirkung des Namenszauber verstärken.

Wie heißen meine Vorstandskollegen mit Vornamen? Julius. Bertram. Berthold. Karl-Heinz. Ernst-August. Quentin. Ah ja, Quentin, das ist gut. Der ist leicht zu beeinflussen. Ich bin hier gerade eine Buchstabensuppe am Essen. Ich werden mal darin herumrühren und schauen, wessen Name ich zu erst habe. Mal sehen. A-N-N-A? Nein, das geht nicht. Das gilt nicht. Also nehme ich Ernst-August. Ist ja auch egal, wer dran glauben muß.

Ich schaue auf sein Foto. Ich starre auf sein Foto. Und greife schlußletztendlich zum Telefonhörer. Ernst-August, du alte Nuß, wieso hast du bei der letzten Vorstandssitzung nicht für meinen Vorschlag gestimmt, die Hütte für seltene Erden zu kaufen? Wie – du hast Angst gehabt? Vor unserem Chef? Wieso hast du Angst gehabt? Ach so, er erpreßt dich mit deinen vielen Puff-Besuchen? Gestehe sie doch endlich deiner Frau, dann ist diese Gefahr doch endlich ausgestanden. Ach so, der Mann an deiner Seite soll nicht wissen, daß du manchmal Frauen beglückst? (in Gedanken: Mann, ist der dämlich, jetzt kennt doch bald jeder sein Geheimnis und kann ihn erpressen) Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Du brauchst dich nicht zu schämen. Du brauchst auch nicht in Tränen auszubrechen. (in Gedanken: Idiot. Wenn soll ich denn jetzt um Hilfe bitten?)

Auch der Liebeszauber ist eine magische Praktik. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, daß Menschen durch das Verabreichen von zumeist Getränken dazu gebracht werden können, sich in eine andere Person zu verlieben. Bei dem Liebestrank geht es darum, ein echtes Gefühl bei der begehrten Person auszulösen. Bei den Aphrodisiaka geht es dagegen vielmehr um die Steigerung der sexuellen Potenz beziehungsweise des Genußerlebens. Manche Zauberer benutzen auch Amulette, die sie geliebten, beliebten und somit begehrten Person anheften, um den Liebeszauber auszulösen.

Wer in meinem Aufsichtsrat ist wohl am ehesten für den Liebeszauber empfänglich? Die meisten Aufsichtsräte sind schon lebensälter und verheiratet und da sie stockkonservativ sind, sind sie für die Reize des weiblichen Geschlechts nicht mehr empfänglich. Möchte ich sie irgendwie kompromittieren und durch gezielte Hinweise auf die richtige Spur bringen, muß ich mir schon ein paar Tricks einfallen lassen.

Man nehme
1 Kilo Schwarzwurz
je 1 Prise schwarzen, weißen und roten Pfeffer
2 Erbsen
etwas Anis, Ingwer, Salz
zerriebenes Horn eines Nashorn
geschabten Elefantenzahn
274,5 g Roggen
2,9 g Hoden eines räudigen Katers
sowie geringe Mengen Sexualduftstoffe des Goldfisches,

koche sie zu einer Suppe und lasse sie auf Trinktemperatur abkühlen. Je nach Geschmack kann Lauch, Rosenkohl, Blumenkohl und Suppengrün dazugegeben werden. Kümmel, Majoran, Petersilie und Fenchel können – je nach Geschmack – gleichfalls beigemengt werden. Nur Sahne ist strengstens verboten. Sie hebt die Wirkung des Liebestranks auf. So oder ähnlich würden moderne Kochbücher die Zubereitung des Liebestrankes beschreiben. Daß geröstete Misteln zu den unverzichtbaren Grundvoraussetzungen gehören, verschweigen sie geflissentlich. Auch Gisbert Augustin Ypsilonti-Icks (in der Regel kurz „X“ genannt) weiß nix, äh, nichts davon.

Sag mal, Timotheus, mein Sohn, du bist doch noch nicht verheiratet. Kennt du dich vielleicht im liegenden Gewerbe aus?

Aber Papa! Ich bin jetzt empört. Hast du nicht immer gesagt: Kein Sex vor der Ehe?

Ja, habe ich. Viele dieser Damen bieten aber einen Begleitservice an. Und einen solchen Begleitservice würde ich jetzt gerne in Anspruch nehmen.

Was hast du gegen Mama?

Nichts. Sie ist die beste Ehefrau von allen. Deswegen möchte ich sie ja aus der Geschichte heraushalten.
Aus welcher Geschichte?
Die Geschichte, die ich dir jetzt erzählen werden.
Der erste Teil der Geschichte hat ja noch geklappt. Timotheus hat mich mit Adolfine bekanntgemacht. Sie wäre die beste, intelligenteste und hübscheste Damen-Begleitservice, die er kenne. Behauptet zumindest Timotheus. Ich habe Adolfine auch mit Gisbert Augustin bekanntgemacht.Da ich Gisbert Augustin den Liebestrank unbemerkt einflößen konnte, brauchte ich eigentlich nur noch auf dessen Wirkung warten. So dachte ich zumindest. Bis Gisbert-Augustin auf mich zukam und liebestrunken keuchte: „Heirate mich, Chef.“ Äh – habe ich was verpaßt? „Ja. Daß Adolfine ein als Frau verkleideter Mann ist.“ Ein Travestit? „Klar. Der reichlich flache Busen, die Perücke, die schrille Schminke – das spricht doch alles Bände. Und außerdem habe ich in einem unbedachten Augenblick mal unter den reichlich knappen Rock geschielt – das Gehänge ist eindeutig. Aber, ich weiß nicht, irgendetwas geschieht mit mir. Ich bin trotzdem total in Adolfine verknallt...“

Diesen Satz hätte Gisbert – Augustin nicht sagen dürfen. Damit hatte ich ihn in der Hand. Verliebt in einen transvestitischen Mann. Das kann sehr gefährlich für einen Mann in der Führungsetage sein. Gisbert-Augustin war die Hütte für seltene Erden ja aus seiner beruflichen Tätigkeit bekannt. Ein Satz wie „Komm, Gisbert Augustin, laß uns mal zur Hütte gehen und sie uns anschauen.“ reicht da schon völlig. Er weiß ganz genau, daß ich unseren Kollegen von dem beglückenden Erlebnis berichte, wenn er nicht folgsam ist...

Chef, kommen Sie doch bitte mal mit!?

Nanu, was ist?

Die Umbau-Arbeiten in der Halle der Blähungen gehen gut voran. Die Glaser haben schon die alten Fenster repariert, Schreiner die ersten Türen ausgewechselt. Jetzt sind die Maler und Tapezierer am Werken, vertreiben Feuchtigkeit und Schimmelflecken, entfernen die Schmierereien. Als ich ihm durch die Türe folge, ist es so, als wäre ich auf einmal in einer anderen Zeit.

Wie sieht es in einem Hexenladen aus? Sind Sie schon einmal dort gewesen? Nein? Dann muß ich Ihnen das alles erzählen. Traditionell liegt der Eingang auf der linken Seite. Dort beginnt der Rundgang durch den Laden und setzt sich dann im entgegengesetzten Uhrzeigersinn fort. In einem Hexenladen können die Hexen alles kaufen, was sie brauchen. Es gibt eine Kräuterecke für ihre Zaubertranke. Misteln gibt es genauso wie Nieswurz, Thymian, Zimt und die berühmt-berüchtigten Salbei-Hopfen-Mischungen. In der Tier-Ecke gibt es lebende Mäuse, kleine Drachen, feuerspeiende Echsen und anderes Ungetier. Die Abteilung für das Einbalsamierte liegt zumeist direkt nebenan. Hier gibt es getrocknete Elefantenrüssel, gestoßenes Nashorn-Horn, gemahlene Mammut- und Elefantenstoßzähne, Eunuchen-Hoden,Vampir-Stoßzähne oder getrocknete Fledermausflügel. Die Bekleidungskammer befindet sich zumeist in einem Nebenraum. Schließlich muß ja nicht jeder zufällige Käufer, der sich im Hexenladen aufhält, sehen, was die Hexe unter ihrem Hut und Umhang trägt. Hier gibt es auch die kleine Kosmetikabteilung. Warzenwuchsmittel, Pflegemittel für den Damenbart, Faltenvertiefer sowie weitere Mittel, die die Häßlichkeit unterstreichen sollen, sind hier erhältlich. Viele Hexenläden bieten auch Stöcke und repräsentative Flugbesen an.

Gut, daß der Arbeiter mich gerufen hat. So weiß ich, was sich in dem Gebäude verbirgt. Vielleicht kann ich es ja mal einsetzen.


Sagen Sie, guter Mann...

ja, Chef?

Wo ist denn der Besenstartplatz?

Der … Besenstartplatz? …?

Ja, genau.

Was meinen Sie damit?

Na, den Platz, von dem aus die Hexen zu ihren Rundflügen starten?

Oh, ach so, ja, das meinen Sie. Der ist oben auf dem Gasometer. Das hat den Vorteil, daß die Hexen sofort in die gewünschte Richtung fliegen können und nicht erst ein paar Umwege durch das Werk nehmen müssen.

Und wie komme ich da hin?

Na, mit dem Aufzug. Oder wollen Sie die glitschigen Sprossen hochklettern?

Nein, natürlich nicht. Ich werde mal hochfahren und nachsehen, wie die Flugbedingungen sind. (Kurze Zeit später) Hübsche Aussicht von hier. Der Wind weht auch gut. Mal sehen, wie weit ich komme. (5 Sekunden später hört man ein lautes Platschen) Mist. Nur bis zur Pfütze direkt vor der Haustüre.

Die Idee, hier Drachen- und Besenflugstunden anzubieten, war also naheliegend. Nachdem der erste Schrecken überwunden und der dummerweise herbeigerufenen Notarzt bescheinigt hatte, daß die Haxen nicht gebrochen sind, machte ich mich an die Arbeit. Ich engagierte Fluglehrer, erkundigte mich, wann und vor allem ob der Luftraum frei ist und besorgte mir die Drachen und Besen und schaltete die erste Anzeige.

Haben Sie auch einen Besen mit Sitz?

Eine alte, sehr alte Hexe war die erste Kundin. Ich habe Gicht und Rheuma, berichtete sie. Ich kann nicht mehr so locker auf dem Besen-Stock sitzen wie früher. Die Reaktionszeiten sind langsamer, das Lenken fällt schwer. Da brauche sie Trips und Nachhilfe mit „diesen neumodischen Besen“, wie sie es nannte. Sie bestand ihre Abschlußprüfung mit Auszeichnung.

Daneben gibt es auch einen Fachhandel für Hexenutensilien. Ein Salamander löscht Feuer. Kröten und Schlangenfleisch sind Zutaten für diverse Zaubertränke. Korallen sollen Dämonen abwehren, die Kinder bedrohen. Bergkristalle lindern Augenleiden, Granat stärkt das Herz. Die menschenförmige Alraunwurzel ist bei vielen Hexen beliebt. Die Mumienhand aus getrocknetem Menschenfleisch ist Bestandteil vieler Arzneimittel. Der Liebestrank Philtrum ist im Liebeszauber wichtig.

All diese Sachen verschicken wir. Auf einem Besen reist die Hexe durch die Luft. Der Besen, der sie begleitet, transportiert die bestellten Gegenstände.


Bei den historischen Zauberern hat der Zauberstab nie eine bedeutende Rolle gespielt. Erst, als der Okkultismus und die Schauzauberei entstanden, gewann dieses magische Utensil seine heutige Bedeutung.

Als ich mit Gisbert Augustin die Hütte der seltenen Erden durchstreifte, entdecke ich mit ihm nicht nur den oben beschriebenen Hexenladen. Ein kleiner Schuppen erregt gleichfalls meine Aufmerksamkeit. Was sich darin befindet, möchte ich von Gisbert Augustin wissen. Sein ratloses Gesicht zeigt es ganz deutlich: Er hat genauso wenig Ahnung wie ich. Während Gisbert Augustin eher zögerlich und ängstlich im Hintergrund bleibt, klopfe ich neugierig an die Tür. Schließlich scheint Licht durch die Ritze der Tür. Also muß jemand zu Hause sein. Ein brummeliges „Herein“ ertönt, kaum daß das letzte Klopfgeräusch verklungen ist. Also öffne ich die Türe. Ein gleißend helles Licht strömt mir entgegen und blendet mich anfangs. Im ersten Augenblick kann ich nichts erkennen. Doch das ist schnell vergangen. Als ich über die Türschwelle trete, befinde ich mich wieder in einer jenseitigen Welt. Oder etwa nicht? Der kleine Raum sieht aus wie eine winzige Schreinerei. Links vom Eingang liegen helle Holzbalken. Es gibt Sägen, Hobel, Feilen, verschiedene Gerätschaften, mit denen Holz festgehalten werden kann, Schnitzwerkzeug und viele andere Handwerkergeräte.

Und mitten drin: Ein kleiner, runzeliger Mann mit Rauschebart. Er trägt eine Latzhose aus Segeltuch, einen knielangen, wallenden Umgang und einen Spitzhut. „Ja, bitte, was wünschen Sie,“ fragt er mich mürrisch, ohne kaum aufzublicken. „Oh, Verzeichung...“ fange ich etwas verlegen an. „Nun reden Sie schon,“ fährt er mich da plötzlich an. „Gleich fängt mein Kurs an.“ Ja, was für ein Kurs denn? „Na, ich bringe Zauberern bei, wie man den Zauberstab richtig schwingt.“ Oh – ich wußte gar nicht, daß ich in einer minikleinen Schule gelandet bin. „Schule? Von wegen, so ein Quatsch. Sehen Sie nicht, daß Sie in der Werkstatt für Zauberstäbe sind? Das hängt doch draußen überall aus. Also, was wollen Sie?“ Ich kann ihm ja schlecht verraten, daß ich die Aushänge nicht gesehen habe und nur durch Zufall in seine Werkstatt geraten bin. „Sie kennenlernen,“ behaupte ich daher. Ein bißchen schleimen kann ja bestimmt nicht schaden. „Ich interessiere mich für einen dieser Zauberstabschwingerkurse.“ - „So ein Quatsch! Sie sind dafür doch völlig ungeeignet.“ Wieso bin ich völlig ungeeignet? „Ihre Finger sind nicht feingliederig genug. Ihre Augen sind nicht stechend. Außerdem haben Sie keine Ätzwunden im Gesicht.“ Wieso soll ich denn Ätzwunden im Gesicht haben? „Na, dann hätten Sie schon mit mit Pyrotechnik und Zauberchemikalien gearbeitet.“ ...und als Kind einen Chemiebaukasten gehabt? Ha ha ha. Sehr gut der Witz. Damit muß ich es mir wohl mit dem Mann verdorben haben. „Sehen Sie den Kreis da drüben in der Ecke,“ pflaumt er mich an. „Das ist ein magischer Kreis. Wenn ich mich da reinstelle und mir dreimal auf die Stirn tippe, vergißt man mich ganz schnell. Sobald ich aber einen ganz gewöhnlichen Holzstab in der Hand halte, wenn ich in den magischen Kreis trete, kann ich den Holzstab in einen Zauberstab verwandeln.“

In diesem Augeblick ist ein leichtes Quietschen hinter mir zu hören. Sollte Gisbert Augustin etwa eintreten wollen, ohne vorher anzuklopfen? Der Alte reagiert schneller, als sein sein Aussehen vermuten läßt. Er packt mich an der Hand, und schon sind wir im magischen Kreis. „Hubzu habziuäh,“ murmelt er vor sich hin. Und schon...

Komische Bruchbude. Was macht mein Chef nur da drin? Mal sehen … er hat die Tür aufgemacht und ist eingetreten … also ist nicht abgeschlossen … also müßte ich da auch reinkommen … ich mache die Tür auf, sie klemmt leicht und quietscht etwas …

Hier ist ja nur eine Rumpelkammer. Kein Licht ist an. Niemand ist drin. Na ja, eine Maus höre ich quieken. Und in den Spinnweben ist eine Spinne. Nein, es sind zwei! Und wie dich mich anstarren. Da kriegt man ja richtig Angst. Schnell weg hier.

Wo ist mein Chef? Hineingegangen ist er in diese Bretterbude. Das habe ich ganz deutlich gesehen. Herausgekommen ist er nicht. Das hätte ich gesehen. Wie hätte er auch herauskommen sollen? Ich bin ja auch nur ein paar Sekunden hinter ihm durch die Tür getreten.

Wo ist mein Chef? Ich bin ratlos. Ich habe ihn verloren. Soll ich ihn jetzt suchen? Mitten in der Nacht? Auf einem fremden Industriegelände? Auf dem ich mich nicht auskenne? Was bewegt sich da drüben? Ach so. Nur Unkraut. Nur gut, daß ich den Weg zurück zum Auto finde. Oh mein Gott, ich habe ja ganz vergessen, daß wir mit dem Wagen meines Chefs gekommen sind. Ich lehne mich erst einmal an die Tür und zünde mir eine Zigarette an.

Was blinkt denn da drüben? Die Reklame für eine Bar? Ja, bin ich jetzt in einem Wild-West-Film gelandet? Nein, ich bin immer noch auf dem Gelände der Hütte für seltene Erden. Da drüben ist dieser komische Schuppen. Da drüben ist der Körpergas-, meine Güte, jetzt rede ich schon so komisch wirr wie mein Chef. Da drüben ist die Verpuffungsanlage, da der Gasometer, dort die LKW-Waage. Und trotzdem blinkt dort ein Licht. Ich werde ihm folgen. Ich bin jetzt im Verwaltungsgebäude. Es ist natürlich ausgestorben. Klar – hier arbeitet ja auch niemand mehr. Und trotzdem fliegt das Licht da vor mir her. Es hat mich magisch in seinen Bann gezogen. Ich folge ihm, gehe durch lange, lange verlassene, dunkle Gänge, stoße mir die Knie an Stühlen und Tischen, komme dann zu einer offenen Tür und trete ein. „Willkommen im Archiv,“ sagt in diesem Augenblick eine Stimme.

Die wenigen Zauberanleitungen, die aus dem Mittelalter und der Zeit danach überliefert sind, wurden alle in Latein geschrieben. Der „Picatrix“ ist ein Beispiel dafür. König Alfons von Kastilien ließ ihn 1256 aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzen.

Zaubersprüche sind aber unabdingbar für die Hexerei. Möchte man die Liebe zwingen, Butter ranzig werden lassen, Schätze finden, Diebe abwehren oder in die Zukunft blicken? Die Bücher enthalten die Lösung. Sie beschreiben die guten wie bösen Regeln, die den Zauberspruch verstärken sollen zahllose Beschwörungen und Gebete gegen alle möglichen Krankheiten, gegen Ungeziefer im Haus, aber auch gegen ungeliebte Schwiegermütter. Die „Sigilla Salomonis“, die „Claviculae Salomonis“, die „Gertruden – Bücher“ und die „Schildwach-Bücher“ sind genauso Anleitungen zur Hexerei wie die „Faustischen Höllenzwänge“.

Warum ich Ihnen das alles erzähle? Den Grund kann ich Ihnen schnell sagen. Das kleine Licht, dem ich gefolgt bin, ist eine riesige Bibliothek und Archiv zugleich. Wie das alles möglich ist, fragen Sie? Archive seien doch verstaubte Orte, in denen altes Papier aufbewahrt wird und vor sich hin modert, wenn es nicht ordnungsgemäß konserviert wird. Auch mit Bibliotheken ist es ähnlich. Blasse Männlein in grauen Anzügen irren hier durch die Gänge zwischen den Regalen und wirbeln selbst mit ihrem Schneckengang Staub auf. Doch diese helle Miniaturarchivbibliothek ist anders. Sie enthält alles Wissen aus den jenseitigen Welten, aber nicht in ihrer ursprünglichen Größe, sondern in wahnsinnig komprimierter Form. Diese Datenkompression bewirkt auch das helle Licht – es ist nichts als strahlende Wärme. „Tritt ein,“ fordert mich die Stimme auf, „hier wirst du alles finden, was du brauchst.“ Auch das Wissen, das ich brauche, um die Hütte der seltenen Erden zu kaufen? „Aber natürlich. Traue dich und tritt ein.“ Und wie? „Oh, das ist ganz einfach. Berühre mich.“ Folgsam, wie nur ein Gisbert Augustin sein kann, berühre ich das Licht – und befinde mich plötzlich in einer großartig eingerichteten und prächtig ausgestatteten Bibliothek der geheimen Wissenschaften. „Oh, wie geschieht mir,“ kann ich mich da nur wundern. „Das ist ganz einfach,“ antwortet mir die Stimme. „Das ist Datenkompression auf molekularer und atomarer Ebene. Wir Hexen und Zauberer haben dich so verkleinern können, daß selbst ein Elektronenmikroskop Mühe hätte, dich zu sehen.“ Und wie geht das? „Nichts ist einfacher als das. Ein spezieller Röntgen-Strahler läßt die Atome und Moleküle zusammenrücken, bis sie einander berühren, ohne allerdings miteinander zu reagieren. Welch angenehme Überraschung, da ist ja -

Herr Zauberstabdirigiermeister? Ja, mein Sohn? Ich habe da mal eine Frage. Und die lautet, mein Sohn?

Ich erzähle Gwendolyn (so lautet sein Name) von unserem Plan, die Hütte der seltenen Erden zu kaufen. Und daß ich noch keine Ahnung habe, wie ich die Kollegen im Vorstand überzeugen kann. Ich muß wohl ziemlich überzeugend klingen. Gwendolyn stellt mir nur eine Frage. „Wollt ihr Sterblichen uns Zauberer und Hexen vertreiben?“ Mitnichten wollen wir das. Wir wußten ja bis heute noch nicht einmal davon, daß es euch gibt. Ihr Hexen und Zauberer könnte gerne bleiben. Wenn ich ehrlich sein soll, wäre es mir sogar lieb, wenn ihr bleiben würdet. „Wieso? Weshalb? Warum?“ Naja, vielleicht könnte wir ja einander nützlich sein. Ihr hättet eine Heimat, von der nur ein, zwei Eingeweihte wissen und aus der euch niemand vertreiben kann. Und wenn unsere Firma hier eine Veranstaltung durchführt, könnt ihr uns helfen, für die Unterhaltung zu sorgen. „Na, dann ist ja gut. Ich vertraue dir, Menschling. Du hat es gesehen, wie ich dich bestrafen kann, wenn du mein Vertrauen mißbrauchst. Folge mir in die Bücherei.“ Und jetzt raten Sie mal, wen ich dort treffe. Genau: X

Schwarze Magie ist schädlich für uns Menschen. Sie fügt Mensch und Tier Schaden zu, verursacht plötzliche Unwetter, vernichtet die Ernte und raubt den menschlichen Opfern den Willen. „Schwarze Magie“ ist aber leider die fehlerhafte Übertragung des griechischen Begriffes „Nekro – mantie“ = Weissagung durch einen herbeizitierten Totengeist. Beim Übersetzen wurde aus dem griechischen Wort nekros = Leichnam der lateinische Begriff niger = schwarz, womit die Mißverständnisse erst begannen. Ich, Gisbert Augustin, werde sie am Beispiel von Karl-Heinz erst ausräumen...

Karl-Heinz ist ein richtiges Muttersöhnchen, unselbständig, heute von seiner Frau abhängig (früher von seiner Frau Mama), ohne sie hilflos, von beiden Damen verhätschelt und verwöhnt. Ansehen tut man ihm das aber nicht. Immer eine gepflegte, gutsituierte Erscheinung, tritt er in den Sitzungen immer selbstbewußt auf. Er kann Sachverstand vorweisen. Er wirkt gut vorbereitet. Und da er die interne und externe Kommunikation betreut, braucht er auch nicht viel Durchsetzungskraft. Die Autoren möchten ja was von ihm (nämlich, daß er ihre Texte veröffentlicht). Also gehorchen und kuschen sie, wenn er mit seiner leisen Stimme spricht. Da unser Unternehmen in der Außenwirkung eine gute Reputation besitzt, ist er der rechte Mann am richtigen Ort. Nur als ich ihn einmal unerwartet besuchen ging, bekam ich mit, wie er sich verzweifelt und laut, aber erfolglos, gegen seinen Hausdrachen durchzusetzen versuchte … Aber lassen wir das. Vor einem Jahr ist seine Mutter auf den Friedhof umgezogen. In Karl-Heinz lebt sie aber weiter. „Mama würde jetzt sagen..“ - mit diesen Worten hat er in einer Sitzung schon so manchen Vortrag begonnen, zumindest leiste und flüsternd, nicht laut, damit hätte er sich lächerlich gemacht und selbst aus dem Gremium katapultiert.. Mama lebt ihn ihm weiter...

Aber was rede ich da? Ich merke: Ich bin zu viel alleine. Wie war es noch mal: Wie bin ich auf das Thema gekommen? Ach so, ja: Totenbeschwörung bei Mama.


Wuff, puff, wuff – das dreimal
für den Orkus wird das zur Qual
gib her den Körper, den völlig toten
kommt herbeigeschlichen auf den Pfoten
dein unergründlich, dein reichlich Wissen
laß es sein mein Ruhekissen
zeige mir den Pfad, den rechten
trenne mir vom völlig schlechten
reihe mir den Heil`genschein
dein treuer Diener will ich sein.

Hört sich nicht gruselig an, nicht wahr? Ist es im Endeffekt aber. Man verkauf auf diese Art seine Seele. Mich stört das aber nicht mehr wirklich. Seit ich weiß, wie ich meinem Chef helfen kann (und wenn ich ihn erst einmal ausgeschaltet habe, selbst zum Boß geworden bin), bin ich Feuer und Flamme für die Hütte der seltenen Erden. Hihihihi (= schrilles, teuflisch-wahnsinniges Lachen). Huch – wer ist da? Ach so, es ist nur die Mama von Karl-Heinz, als Geist natürlich und dem Reich der Toten entstiegen. Ich brauche Ihre Hilfe, Madame. Kennen Sie die Hütte der seltenen Erden, Teuerste? Ja? Das ist gut. Ich arbeite für die größte Bank vor Ort, müssen Sie wissen, und wir wollen Gelände und Gebäude kaufen. Na ja, und Ihr Sohn, der Karl-Heinz, also der Karl-Heinz steht uns im Wege … Sie werden uns helfen, beste aller Mütter, und Ihren gnädigen Herrn Sohnemann ins Gewissen reden, sympatischte aller Mamas? Das freut mich aber, nein, wirklich, wie mich das freut.

„Oh wie wohl ist mir beim Bade!“ Es ist immer herrlich, nach einem anstrengenden Arbeitstage in die Wanne zu steigen, mit dem Quietscheentchen zu spielen und einfach nur zu plantschen. He – wer krault mir da an den Zehen? DU? Mama? Wie kommst du hierher?

Ich komme aus dem Orkus, dem Reich der Toten und lebenden Seelen. Ich habe gehört, daß du ungezogen gewesen bis; habe ich dir je erlaubt, nicht artig zu sein? Deine Kollegen beschweren sich schon über dich. Sie behaupten, du würdest einem Grundstückskauf im Wege stehen. Stimmt das? Tatsächlich? Muß ich dir frechem Blag wirklich die Ohren langziehen? Du änderst jetzt sofort deine Meinung.

An seinem hilflos-ergebenen Blick erkenne ich, daß wir gewonnen haben. Karl-Heinz hat sich aus lauter Angst vor seiner Mutter uns angeschlossen.

Der Rest ist schnell erzählt. Von nun an hat die Seltene-Erden-Hütten-Fraktion die Mehrheit im Führungsgremium. Wir können also mit Stimmenmehrheit den Kauf von Land und Gebäuden beschließen. Der Rest (Abschluß des Kaufvertrages, Gang zum Notar und Grundbuch, Überweiseung des Kaufpreises) ist also nur noch Formsache. Ich hoffe, meine Kollegen wissen, worauf sie sich da einlassen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.08.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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