Katharina Gröblinger

Eine alte Dame und eine Mauer voller Türen


„In der nahen Zukunft werden Sie an einer Mauer mit vielen Türen ankommen“, erklärte sie dem jungen Mann. „Sie wird so unerwartet vor Ihnen auftauchen wie eine Oase in der Wüste. Egal welchen Weg Sie auch einschlagen und wie lange Sie die Route Ihrer Reise planen, Sie werden eines Tages vor ihr stehen.“
Während sie diese Worte sprach, schaute sie gedankenverloren aus dem Fenster, fast so als ob sie mit sich selbst und nicht mit dem Mann reden würde. Das war auch sein Eindruck. Aus Höflichkeit und Neugier folgte er ihrem Monolog aber aufmerksam.
„Es kann Ihnen auch niemand helfen oder Sie auf diese Konfrontation vorbereiten. Sie werden hilflos und verloren vor dieser Mauer stehen. Der Weg, der hinter Ihnen liegt, wird ruhen und der Weg, der vor Ihnen liegt, ist noch nicht gepflastert.“
Der junge Mann war sich nicht sicher, ob eine Antwort von ihm erwartet wurde. Schließlich rang er sich zu einer Frage durch, obwohl oder gerade weil ihm die ganze Situation schon ein wenig unangenehm geworden war.
„Was soll ich also machen, wenn ich vor der Mauer mit den vielen Türen stehe?“, fragte er mit einem leicht arroganten Unterton. „Anklopfen oder Abwarten?“
Kaum hatte er die Frage gestellt, bereute er seine Überheblichkeit auch schon wieder. Obwohl er nicht wusste, was er von der alten Dame halten sollte, wollte er sie auf gar keinen Fall beleidigen oder gar ihre Geschichte oder was auch immer sie ihm zu vermitteln versuchte ins Lächerliche ziehen.
Sie hatte den Unterton seiner Frage sehr wohl wahrgenommen, doch bevorzugte sie es den Kommentar ihres Mitreisenden zu ignorieren.
„Es gibt im Leben verschiedene Arten von Hindernissen, wenn Sie so wollen.“
Sie schenkte der Landschaft, die wie ein surrealistisches Gemälde am Fenster vorbeizog, einen intensiven und nachdenklichen Blick und fuhr anschließend fort.
 „Eines Tages werden Sie also auf eine Mauer mit vielen Türen stoßen. Die Türen werden identisch sein und keine von ihnen wird eine Nummer oder gar eine Aufschrift tragen. Nur eine Mauer mit Türen.“
„Warum erzählen Sie mir diese Geschichte?“ Er wirkte etwas unruhig. Einerseits weil er endlich das Ende der Geschichte bzw. des Rätsels Lösung wissen wollte und andererseits weil seine Reise bald zu Ende sein würde und er aussteigen musste. Die Stimme am anderen Ende des Lautsprechers hatte seine Haltestelle bereits emotionslos angekündigt.
 
„Manche Menschen vergeuden ihr ganzes Leben mit der Wahl der richtigen Tür. Das Problem ist, dass es die eine richtige Tür nicht gibt.“ Sie machte eine kurze Pause um sich zu räuspern. „Das wollen wir aber nicht wahrhaben, weil wir der Meinung sind, dass es für jedes Problem die EINE richtige Lösung geben muss. Das Problem hat die Lösung sozusagen bereits im Gepäck.“
Sie holte tief Luft und schaute dem jungen Mann zum ersten Mal direkt in die Augen. Ihr durchdringender  und zugleich warmer Blick traf ihn wie ein Pfeil das gehetzte Wild auf einer nebeligen Waldlichtung.    
„Keine Wahl wird die richtige sein“, erklärte sie ihm. „Wie sollen Sie auch wissen, welche Tür die richtige ist, wenn Sie nicht wissen, was sich dahinter verbirgt?“ Sie zuckte mit den Schultern und schmunzelte geheimnisvoll.
Dem jungen Mann wurde diese Unterhaltung langsam aber sicher suspekt. Wer war diese Frau, die ihm ungefragt diese Geschichte erzählte? Er kannte sie nicht einmal, geschweige denn wusste er ihren Namen. Sie teilten sich lediglich ein Abteil auf einer Zugfahrt. Er fuhr täglich mit dem Zug und hatte schon einige interessante Menschen kennen gelernt, aber so etwas war ihm noch nie zuvor untergekommen.
Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine gewöhnliche alte Dame. Sie saß direkt am Fenster, die vorbeiziehende Landschaft so gut wie nie aus dem Blick lassend, sie trug ein elegantes, wenn auch ein wenig aus der Mode gekommenes Kostüm. Der dazu passende Hut lag auf dem Sitz neben ihr und ihre Tasche hatte sie direkt neben ihren Füßen am Boden platziert. Sie saß aufrecht, fast steif, in ihrem Sitz, die Füße aneinandergepresst, als würde sie frieren. Auf ihrem Schoss lag ein Buch, das während ihrer Unterhaltung mit dem jungen Mann ruhte. Von Zeit zu Zeit strich sie immer wieder über die abgewetzten Kanten des Buches, das kein Buchumschlag mehr gegen die Spuren der Zeit verteidigte.   
 
Einerseits fühlte er sich von der alten Dame belehrt, andererseits auf eine seltsame und fast unheimliche Art und Weise verstanden. Sie aber schien weder seine Zweifel noch seine Verwirrung zu bemerken.
Den Blick starr aus dem Fenster gerichtet, fuhr sie seelenruhig fort.
„Es gibt nur eine Lösung. Reißen Sie die Mauer nieder. Lassen Sie keinen Stein auf dem anderen. Geben Sie keine Ruhe bis die Mauer samt ihren Türen dem Staub der Geschichte angehört. Die Welt wird Ihnen offen stehen und ihre Geschichte wird beginnen.“
Um die Wichtigkeit ihrer Worte zu betonen, bohrte sich ihr Blick wieder in seine Augen.
„Aber was geschieht, wenn eine Mauer gar keine Türen hat, egal wie lang man nach ihnen sucht? Wenn man gar keine Wahl hat, egal was man tut, egal wie lang man darüber nachdenkt?“
Er war sich fast sicher, dass sie keine Antwort auf seine Fangfrage haben würde. Schon allein deswegen, weil die Zeit nicht mehr reichen würde. Er musste aussteigen und war damit beschäftigt seine Sachen zusammenzusuchen. Die alte Dame brachte seine Geschäftigkeit nicht aus dem Konzept. Ganz im Gegenteil.
„Diese Art von Mauer ist die gefährlichste überhaupt.“ Sie machte eine kurze Pause. „Warum? Weil sie nur in unseren Köpfen und Alpträumen existiert. Diese Art von Mauer ist eine Illusion. Wenn Sie also an einer solchen Mauer stranden, wird es Zeit aufzuwachen und Ihren Weg fortzusetzen.“
 
Der Mann hatte sich bereits seinen Mantel angezogen. Seinen Schirm hielt er fest in der einen und seinen Koffer in der anderen Hand. Es war nicht seine Absicht unhöflich zu erscheinen, aber die Zeit drängte. Er wollte sich gerade von der Dame verabschieden und sich bei ihr bedanken, auch wenn er noch nicht recht wusste für was, als sie ihm zuvorkam. Sie schien es fast eiliger zu haben als er selbst.
„Junger Mann, es wird Zeit für Sie auszusteigen. Es hat mich sehr gefreut. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
Er fühlte sich überrumpelt und nickte nur höflich. Sie lächelte ihm zu und nahm ihr Buch zur Hand. Ohne dem Mann einen weiteren Blick zu schenken, öffnete sie es und begann umgehend zu lesen. Dieser starrte sie verwirrt an und verließ schließlich das Abteil. Er folgte dem Gang Richtung Tür. Die Landschaft kam zum Stillstand und der Zug hielt am selben Bahnsteig wie immer.
 
Die Tür ging auf.
Bevor er die Stufen hinunter stieg, drehte er sich noch einmal um, aber er sah nur die vielen Leute hinter sich, die auch aussteigen wollten. Als er die Stufen hinunter stieg, seinen Koffer und Schirm fest in der linken Hand haltend, dachte er an die alte Dame und ihre Worte. Er war sich nicht sicher, was diese Begegnung zu bedeuten hatte.
Als alle Leute ausgestiegen waren, ertönte ein Pfeifen. Die Tür schloss sich und der Zug setzte sich langsam wieder in Bewegung. Noch immer am Bahnsteig stehend, drehte er sich nicht noch einmal um, sondern ging zielstrebig auf den Ausgang zu.
 
  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.09.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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