Angelika Vitanza-Lima

Gelebtes Leben

Gott, war das wieder einmal anstrengend gewesen! Die kleine, alte Frau hielt inne, um nach einer Sitzgelegenheit Ausschau zu halten. Ja, gleich da vorn war noch ein Plätzchen frei. Ansonsten war heute recht viel los im Park. Erschöpft ließ sie sich auf einer Holzbank nieder. Eigentlich war es ja viel zu kalt, jetzt hier zu sitzen, hatte es in der Nacht doch ordentlich gefroren. Genau richtig für die Eisbahn, die bereits im letzten Jahr der Renner gewesen war Auch jetzt herrschte dort wieder ein reges Treiben. Von hier aus konnte sie alles gut über-schauen, allerdings würde sie bald wieder gehen müssen, denn sie war nicht darauf erpicht, sich eine Nierenentzündung zuzuziehen. Nein, davon hatte sie nun wirklich die Nase voll, hatte sie doch erst vor wenigen Wochen deswegen das Bett hüten müssen.

Ach, wie herrlich das junge Volk sich auf dem Eis amüsierte! Ja, das waren noch Zeiten gewesen, als sie als junges Mädchen ihre Pirouetten auf dem gefrorenen See gedreht hatte! Oh ja, sie war sehr sportlich gewesen und eine aparte Schönheit dazu. An Verehrern hatte es ihr nie gemangelt – zum Leidwesen ihres allzu gestrengen Vaters. Dennoch hatte sie immer gewusst, dass er insgeheim sehr stolz auf sie gewesen war, zumal sie ja auch noch der viel zu früh verstorbenen Mutter ähnelte. Sie selbst konnte sich nicht an sie erinnern, war bei ihrem Tod noch viel zu klein gewesen. Sie hatte aber nie das Gefühl gehabt, dass ihr eine Mutter gefehlt hätte, denn der Vater war stets für sie da gewesen, hatte sie quasi auf Händen getragen.

Ihre Kindheit war wunderschön gewesen. Sie erinnerte sich noch sehr genau an ihren siebten Geburtstag. Sie war am 1. Dezember geboren, und da machte es viel Sinn, irgendetwas, das man im Winter gebrauchen konnte, geschenkt zu bekommen. Als sie das liebevoll verschnürte Paket öffnete, hätte sie ihrem Vater beinahe die Luft abgedrückt, so stürmisch hatte sie ihn in ihrer Freude umarmt. Sie hatte zugleich lachen und weinen müssen, als sie diese prächtigen Schlittschuhe in den Händen hielt. Sie spürte jetzt förmlich wieder das Gefühl des glatten, weißen Leders in ihren Fingerspitzen. Meine Güte, war das ein Freudentag gewesen!

Ein Kältegefühl zog wie ein Strom über ihre Wangen. Oh, da waren ihr doch jetzt tatsächlich ein paar Tränchen entronnen! Wie kalt es aber auch geworden war. Sie sollte jetzt wohl doch besser gehen. Sie hatte wirklich keine Lust, wieder krank zu werden. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Ihr Blick fiel auf eine Horde kleinerer Kinder. Sie rollten eine Schneekugel, eine andere stand bereits in der Nähe bereit. Sie musste lachen, als sie sah, wie sehr sie sich abmühten, die Kugeln aufeinander zu setzen. Am liebsten hätte sie mitgeholfen.

Mein Gott, wenn sie daran dachte, wie viele Schneemänner sie in ihrem Leben gebaut hatte... Natürlich wurden dafür daheim immer die größte Möhre und mehrere Kohlen stibitzt. Der Vater hatte dann immer so getan, als hätte er den Diebstahl nicht bemerkt. Als Hut musste dann immer irgendein alter Kochtopf herhalten, und natürlich bekam der Schneemann noch den guten alten Besen, der im Hof stand, in die Seite gesteckt. Nur einmal hatte der Vater denn doch geschimpft, denn irgendein Strolch hatte diesen Besen gestohlen. Das war aber auch zu ärgerlich gewesen. Sowas aber auch!

So, jetzt musste sie aber wirklich gehen. Brrr – war das kalt! Ihre Glieder waren ja schon richtig steif gefroren. Tja, das Alter machte sich jetzt von Tag zu Tag mehr bemerkbar. Wäre sie doch noch einmal so jung wie die beiden Verliebten dort drüben! Sie lieferten sich gerade eine wilde Schneeballschlacht. Entzückend! Jedesmal, wenn das Mädchen getroffen wurde, kreischte es übertrieben laut, woraufhin sie natürlich mit einem zärtlichen Kuss getröstet wurde. Jaja – diesen Trick hatte sie auch gekannt. Ihr Werner konnte damals aber auch zu gut trösten. Wenn sie daran noch dachte...

Sie schloss die Augen und sah ihn vor sich. Wie sehr sie sich doch geliebt hatten! Wie niedlich er doch ausgesehen hatte mit den von der Kälte geröteten Ohren und der ebenso roten, süßen Stupsnase. Ja, die Stupsnase, die hatte sie immer am meisten an ihm fasziniert. Noch im Alter von 76 Jahren hatte sie ihm das Aussehen eines Lausbuben verliehen. Ja, ihr Werner - ihr guter, liebevoller Werner! Er wartete dort oben auf sie. Bis jetzt hatte sie sich ganz schön viel Zeit gelassen. Ja, geduldig war er auch schon immer gewesen. Dass sie es nun schon seit 12 Jahren ohne ihn ausgehalten hatte, war ihr irgendwie unbegreiflich. Wahrscheinlich hatten die vielen schönen Erinnerungen sie die doch eigentlich sehr einsamen Jahre überstehen lassen.

Sie sah ihn jetzt sehr deutlich vor Augen. Sein Lächeln – dieses herrliche, sympathische Lächeln, das auf sie immer solch eine ansteckende Wirkung gehabt hatte. Sie sollte jetzt aber doch allmählich aufstehen und gehen! Sie spürte ihren Körper ja schon gar nicht mehr. Nein, dieses Lächeln... Sie mochte noch nicht die Augen öffnen. Sie hatte jetzt auch gar nicht die Kraft dazu. Hatte sie nicht gerade eine Stimme vernommen? Nein, so was! Ihr Werner rief sie! Erst hatte er laut gerufen – jetzt flüsterte er. „Schau nur, Gabi, die alte Frau hier auf der Bank! Sie hat mich gerade noch angelächelt, und dann hat sie tief aufgeseufzt. Ich glaube, sie stirbt – um Gotteswillen, schnell, ein Krankenwagen!“

„Ach was, macht Euch keine Umstände, mein Werner hat mich doch nur gerufen“, hatte sie noch sagen wollen, doch es kam kein Ton über ihre Lippen. Sie spürte nur noch, dass sie lächelte. Ja, so hatte Werner sie am meisten geliebt...


©Angelika Vitanza-Lima – 2001-12-27

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