Ingrid Hagenbücher

Eine Geschichte aus Wolle

Das Kind hüpfte begeistert von einer Pfütze in die andere. Der Regen hatte die Straße zum Glänzen gebracht und die Unebenheiten derselben in blitzende Wasserlachen verwandet. Nun schien die Sonne wieder und das Wasser in den Pfützen war einfach zu verlockend.
„Platsch, platsch, platsch“ und die Tropfen sprühten umher. Plötzlich wurde das Kind am Arm gepackt und unsanft aus der Pfützenlandschaft gerissen.
„Schämst du dich nicht, den neuen Mantel so dreckig zu machen?“ Schuldbewusst sah das Kind an sich herunter und schob dann trotzig die Unterlippe vor. Der neue Strickmantel aus roter und blauer Wolle, hübsch gestreift und mit vergoldeten Knöpfen – das kleine Mädchen hatte ihn erst am Tage zuvor zum 5. Geburtstag bekommen – sah wirklich sehr beschmutzt aus.
Die Tante seufzte: „Du weißt doch, dass ich extra einen Pullover von mir aufgetrennt habe und aus der Wolle etwas Neues für dich gestrickt habe.“
Beide standen einen Moment wie verloren da und schauten sich an, die Tante den Blick nach unten gewandt und Marie den Blick nach oben.
„Es hat doch soviel Spaß gemacht“, flüsterte das Kind und schlug die Augen wieder nieder.
Energisch ergriff die Tante die Hand von Marie und zog sie hinter sich her.
„Wir müssen uns jetzt beeilen, wenn wir noch etwas Brot bekommen wollen“, sagte sie begütigend. Vorsichtig die Füße auf den Boden setzend, um den neuen Mantel nicht noch mehr zu beschmutzen und die Tante nicht noch ärgerlicher zu machen, folgte Marie.

Es waren schlechte Zeiten, der Krieg war vorbei, das war gut, aber die schlechten Zeiten kamen erst noch. Es gab kaum etwas zu kaufen und für alles brauchte man Marken. Kinderbekleidung war ganz schwer zu bekommen, man brauchte dazu entweder Beziehungen oder einen guten Draht zum Schwarzmarkt. Beides hatte Tante nicht.
Aber heute hatten sie doch noch Glück, sie konnten einen halben Laib Schwarzbrot ergattern und das machte die Tante gelassener. Marie durfte ein Stück des Weges voran laufen – aber nicht durch die Pfützen.

Während der nächsten zwei Jahre wuchs Marie beträchtlich. Sie kam in die Schule und das Lernen gefiel ihr. Sie wollte ganz viele Bücher lesen und so viel wissen, wie es nur ging.
„Du fragst mir noch Löcher in den Bauch“, jammerte die Tante immer wieder.
„Und ich dachte, wer ein Loch im Bauch hat, der hat Hunger“, entgegnete Marie keck und kicherte.
Hunger hatten sie immer. Die Tante bekam nur wenig Witwenrente und Maries Eltern waren beide im Krieg umgekommen. Die Waisenrente von Marie reichte nicht einmal für die Bekleidung.
Aber Marie hüpfte jetzt nur noch ganz selten durch Pfützen und dem Strickmantel konnte auch nichts mehr passieren, der war nämlich bereits wieder aufgetrennt worden und hatte sich unter den geschickten Händen der Tante in einen Pullover für die Schule verwandelt. Sie hatte dieses Kleidungsstück noch mit Hilfe eines gefundenen Wollknäuels aus gelber Wolle aufputzen können, so dass der Halsausschnitt, die Ärmelenden und der Abschluss in der Taille von hübschen Blenden verziert waren. Marie gefiel der Pullover. Vielleicht, wenn sie nicht mehr gar so schnell wuchs, konnte sie ihn noch länger tragen.

Dann fand die Tante eine Arbeit in einer nahegelegenen Gärtnerei. Sie hatte Pflanzen schon immer geliebt und es machte ihr Freude, den ganzen Tag damit beschäftigt zu sein. Und sie verdiente wieder Geld, zwar nicht viel, aber es reichte gut für aus für Marie und sie selbst.

Die Jahre vergingen wie im Fluge. Marie war ein fleißiges Mädchen und schaffte die Schule sozusagen mit links. Den schönen Schulpullover hatte sie sogar noch fast drei Jahre tragen können – aber nun passte sie wirklich nicht mehr hinein und die Tante wollte ihn schon an ein anderes Kind verschenken.
„Nein“, protestierte Marie, „bitte nicht!“
„Kannst du ihn nicht auftrennen und etwas neues daraus machen?“
Die Tante überlegte, dann nahm sie den Pullover an sich und legte ihn in ihr Schlafzimmer.

Das Ende der Schulzeit für Marie nahte. Und sie wusste auch schon, was sie werden wollte: auch Gärtnerin wie die Tante. Da hatte sie mit Pflanzen und Wasser zu tun und beides gefiel ihr.

Der Tag der Abschlussfeier und Zeugnisvergabe nahe. Die Tante zog sich des Öfteren in ihr Schlafzimmer zurück und tat geheimnisvoll. Marie ahnte etwas, war sich aber nicht sicher. Dann kam der große Tag und am Morgen beim Frühstück lag ein schön eingewickeltes Päckchen neben Maries Teller.
„Kannst aufmachen“, brummelte Tante vergnügt und Marie ließ sich das nicht zweimal sagen. Trotzdem ging sie vorsichtig mit der Schleife und dem Papier um, das würde man für ein anderes Geschenk wieder benutzen können. Dann zog sie eine hübsche Baumwollbluse aus der Verpackung und strahlte.
„Da ist noch etwas“, sagte die Tante und schaute sie erwartungsvoll an.
Marie entdeckte eine Wollweste in rot, blau und gelb und einen dazu passenden Schal.
„Danke, danke, danke“, sagte sie atemlos und zog sofort die Bluse und die Weste an. Alles passte. Marie war glücklich und Tante natürlich auch.

Und wieder vergingen einige Jahre. Marie hatte einen netten jungen Mann getroffen und nach Beendigung ihrer Ausbildung geheiratet. Die Wollweste war in den Tiefen eines alten Kleiderschrankes verschwunden, sie dachte gar nicht mehr daran, obwohl sie die Tante mindestens einmal die Woche besuchte. Ihr ging es nicht mehr so gut, sie war alt geworden und sehr dünn, und ständig fror sie.
„Da ruft jemand nach mir“, erklärte sie Marie und ihrem Fritz, „ich werde euch bald verlassen.“
Marie sah sie traurig an: „sag doch nicht so etwas, Tantchen, die musst noch durchhalten, wir haben eine Überraschung für dich!“
Und strahlend erzählten sie der Tante, dass bald Nachwuchs kommen würde, nur noch wenige Monate und die Tante konnte einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen in die Arme schließen.
Tante lebte wegen dieser Nachricht wieder auf, sie fühlte sich besser und wartete genauso ungeduldig auf die Geburt wie Marie und ihr Mann.
Eines Tages bekam Marie einen Rappel, wie man so schön sagt. Es waren nur noch wenige Tage bis zur Entbindung und Marie hatte das Gefühl, sie müsste die ganze Wohnung aufräumen, alles herrichten, alles gründlich putzen, die Vorhänge waschen und die Schränke durchschauen. Wer jemals ein Kind auf die Welt gebracht hat, kennt das und weiß, dass nach so einem „Anfall“ die Geburt nicht lange auf sich warten ließ.
Unter anderen alten Sachen fand Marie auch die Weste wieder und den Schal, die Tante ihr zu ihrem Schulabschluss gestrickt hatte. Die Wolle glänzte noch wie neu. Die Stücke waren immer gut gepflegt worden und Marie zeigte sie der Tante, ganz stolz, dass sie diese noch aufbewahrt hatte.
„Aber jetzt passe ich beim besten Willen nicht mehr da rein“, erklärte sie. „Wir werden sie verschenken.
Die Tante nahm die Strickwaren gedankenvoll in die Hände. „Überlasse sie mir“, meinte sie und ging in ihr Zimmer.
Am nächsten Tag brachte Marie einen hübschen kleinen Jungen zur Welt. Und einige Tage später bekam Florian, auf diesen Namen wurde er getauft, eine wunderhübsche blaue Mütze von der Tante, mit leuchtend gelbem Häkelrand. Marie nahm Tante in den Arm und drückte sie zärtlich. „Du bist die beste Tante der Welt“, sagte sie. „Aber nun ist Schluss mit der Handarbeit, du hast mir die Strickerei nicht umsonst beigebracht, gibt mir die restliche Wolle und ich werde auch einmal mein Glück damit versuchen.
Als es dann Winter wurde und die Tante wieder stark fröstelte gab Marie ihr eines Tages ein hübsch eingewickeltes Päckchen. Das Papier kam der Tante gleich bekannt vor und die schöne Schleife auch. Neugierig packte sie es aus.
Zum Vorschein kamen rote Pulswärmer, doppelt gestrickt mit einem Rand aus blauer Wolle, passend zum Wintermantel der Tante. Sie probierte sie gleich an und behauptete: „mir ist auf der Stelle ganz warm!“

Tante trug diese Pulswärmer bis zu ihrem Tod.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.10.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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