Gerda Schmidt

Die Abrechnung

 Die zwei Jahre Therapie hatten bei Herrn Müller erfolgreich angeschlagen. Nachdem er sein Leben wieder in den Griff bekam, konnte er an der Arbeit vollen Einsatz bringen. Seine Ehe litt nicht mehr an den früher häufig auftretenden Jähzornsausbrüchen und er fand erneut Freude am Klavierspielen. Nur ab und zu plagten ihn Albträume, in denen er von seinem ehemaligen Chef heimgesucht wurde. Das Problem lag damals darin, dass Herr Malser ihn ständig traktierte. Dieser inkompetente Mensch leitete die anfallende Arbeit direkt an ihn weiter und erwartete ein fertiges Ergebnis. Für auftretende, technische Schwierigkeiten hatte der Chef kein Verständnis. Seit Herr Malser die Firma im Sommer verlassen hatte, funktionierte die ganze Abteilung besser. Trotz aller Bemühungen seines Psychologen, konnte Herr Müller es immer noch nicht ganz verwinden, dass er nie eine Genugtuung bekommen hatte, obwohl sich herausgestellt hatte, dass nicht sein Verhalten fehl am Platze war, sondern mangelnde Kenntnisse der Materie von Seiten seines Vorgesetzten. Dazu kam die fehlende Kompetenz seines Chefs mit Menschen und deren Fähigkeiten umzugehen. Herrn Müller war sich im Klaren darüber, wie wichtig es für den Erfolg seiner Therapie war, bald zu handeln.
 
Gerhard Müller saß am Klavier und spiele das zweite Klavierkonzert von Brahms. Seine Finger glitten flink und routiniert über die Tasten, bis er zum fünften Mal an die Reprise gelangte. Jedes Mal blieb er an dieser Stelle hängen oder spielte ein B-Moll, was einen halben Ton zu tief war. Verärgert knallte er den Deckel des Manuals zu und drehte sich wütend auf dem Hocker um. Schon wieder schweiften seine Gedanken ab und er konnte sich nicht auf die Noten konzentrieren. Weshalb ließ sein Kopf es zu, ihn mit den Erinnerungen zu belasten? Am Besten wäre es wohl, wenn er sich einen Termin bei Dr. Mayer-Mendel geben lassen würde. Noch besser wäre es allerdings, gleich etwas zu unternehmen. Er knipste die Klavierleuchte aus und ging entschlossen in sein Büro.
 
Mit einem forschen Satz ließ sich Herr Müller in seinen Bürosessel plumpsen. Aus der obersten Schublade seines Schreibtisches angelte er ein Blatt Papier, das er vor sich auf die Schreibtischunterlage legte. Er strich es glatt, als sei es gerade erst von der Papierrolle geschnitten worden. Dann zog er einen Füllfederhalter aus der Westentasche und drehte die Kappe langsam ab. Ein Probestrich auf der Unterlage überzeugte ihn, dass der Stift bereit war, seine Gedanken dokumentarisch festzuhalten. Er begann zu schreiben.
 
Lieber Herr Malser, -
 
Dummes Zeug. Er wollte doch einen Drohbrief verfassen. Schnell knüllte er den Bogen zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Das zweite Blatt Papier wurde aus der Schublade gezogen. Herr Müller überlegte kurz, bevor er zu schreiben begann.
 
Herr Malser,
lange ist es her …
 
Rascher als zuvor landete der Briefbogen bei dem anderen im Abfall. Somit beförderte er den dritten Bogen auf den Schreibtisch. Dieses Mal überlegte er etwas länger, was er eigentlich schreiben wollte. Dann legte er los.
 
Herr Malser,
Sie sind ein gemeiner Schuft. Viel Dreck hängt an Ihrem Stecken. Ich hoffe Sie haben viel Pech an Ihrer jetzigen Arbeit. Ich halte fachlich, sozial und menschlich nicht viel von Ihnen. Wer so gestört herumläuft wie Sie und auch noch so aussieht, dem ist das Glück sicherlich nicht hold. Es wäre besser, Sie würden nie mehr einen Fuß in unsere Firma setzen, sonst ergeht es Ihnen schlecht.
Mit bösem Gruß
Ihr ehemaliger Mitarbeiter GM
 
Nun ja, stilistisch war es sicher kein Meisterwerk, aber inhaltlich konnte der Brief sich sehen lassen. Zufrieden faltete Herr Müller den Briefbogen zusammen und legte ihn säuberlich unter die Schreibauflage. Bei der nächsten Sitzung mit Dr. Mayer-Mendel wollte der Schreiber das Meisterwerk mitnehmen. Der Psychologe sollte ihm den Brief Korrektur lesen und etwaige Fehler verbessern. Herr Dr. Mayer-Mendel hatte schließlich vor Jahren als Lektor in einem Verlag ein Volontariat absolviert und reichlich Erfahrung mit guten Texten. Als ausgezeichneter Therapeut unterstütze er sicher auch ein reges Engagement. Gerhard Müller setzte sich erneut ans Klavier und spielte die missglückte Fuge fehlerfrei. Der Klang des Instruments versetzte ihn in eine Wolke, aus der ihn tausend Geigen begleiteten.
 
Herr Müller hätte mindestens vier Wochen auf einen Termin warten müssen, doch eine Absage eines Patienten ermöglichte ihm, bereits am folgenden Mittwoch eine Therapiestunde zu bekommen. Voll Erwartung, was der Psychologe über seinen Brief sagen würde, nahm er das Schriftstück mit. Er erklärte dem Therapeuten, weshalb er den Drohbrief geschrieben hatte, und dass er ihn gerne von ihm korrigiert hätte. Dr. Mayer-Mendel überflog den Text und schüttelte dann den Kopf.
„Herr Müller, das können Sie unmöglich so stehen lassen. Sie müssen konkreter, eventuell persönlicher werden. Wenn Sie tatsächlich vorhaben, Herrn Malser ins Gewissen zu reden und ihn richtig treffen wollen, müssen Sie etwas anders vorgehen.“
„Ich dachte mir bereits, dass Sie denn Stil bemängeln würden. Leider liegt mir als Naturwissenschaftler eher der protokollarische Stil. Da kommt es mehr auf Fakten, als auf Feinheiten der Sprache an.“ Ihm war seine ungelenke Art doch etwas peinlich.
„Ich würde Ihnen gerne ein paar kleine Änderungen einfügen und an diversen Stellen etwas stilvolle Effekte anhängen. Wenn Sie wollen, kann ich das bis zur nächsten Stunde für Sie anfertigen. Wir besprechen dann den Inhalt“, bot Dr. Mayer-Mendel Herrn Müller an.
 
Herr Müller freute sich zwar über die zugesagte Hilfe seines Therapeuten, doch mit solch einem schlechten Ergebnis seines Briefes hatte er nicht gerechnet. Der Psychologe erfasste sofort den Zustand seines Patienten und griff dessen Unmut mit Fragen auf. 
„Was störte Sie an Herrn Malser besonders? Sie dürfen ruhig Details aufzählen, die Ihnen unwichtig bis lächerlich vorkommen“, ermunterte er Herrn Müller.
„Wissen Sie, an einem Menschen, den man nicht mag, stört einen alles. Das fängt an bei den wässrig-blauen Augen, über den Kindervollbart bis zu den dicken Wurschtfingern. Von der Prinz Eisenherz Frisur ganz zu schweigen.“
„Gut, gut, weiter so. Dabei verarbeiten Sie gleich die Wut, die sie auf diesen Menschen haben.“
Der Therapeut notierte sich alle Bemerkungen, die Herr Müller von sich gab.
„Seine Handschrift spiegelt seinen Charakter wieder. Kleinkariert, ohne Stil und wie ein Fähnchen im Wind. Herr Malser benutzte nämlich einen nichtdokumentenechten Bleistift. Er hatte zwar kein Chefprofil, war aber gezwungen ein Chef zu sein, denn er wusste nicht, was Kollegialität ist.“
„Wie war denn das Verhalten Ihres Chefs gegenüber den anderen Kollegen?“ wollte der Psychologe wissen.
„Unsicher, zurückhaltend, unkollegial, nicht hilfsbereit, egoistisch, unkameradschaftlich, ohne Informationsfluss und stur. Er stahl sich oftmals wie ein Dieb aus dem Haus oder schloss sich im Büro ein. Wenn er mal log, verriet er sich meist schon selbst im nächsten Satz. Der Mann war einfach ein Trottel. Leider hinterließ er einen Scherbenhaufen, denn ich aufzuräumen habe. Doch heute konnte ich wieder eine Ladung bei Ihnen in den Müll kippen.“
Herr Müller atmete einmal tief durch. Seine Zornesfalten hatten sich etwas geglättet und die Stunde war ebenfalls um.
„Machen Sie sich keine Gedanken wegen des Briefes. Ich werde Ihnen einen sorgfältig ausgearbeiteten Entwurf vorlegen, der all Ihrem Zorn gerecht wird und seine Wirkung nicht verfehlt.“
Mit diesen Worten verabschiedete sich der Psychologe und begleitete Herrn Müller hinaus.
 
Nachdem Dr. Mayer-Medel alleine war, setzte er sich an seine Aufzeichnungen und schrieb einen Brief, der nichts zu wünschen übrig ließ. Zusammen mit den Patientenunterlagen räumte er das Schriftstück in die Kartei, wo es bis nächste Woche ruhte.
 
Herr Müller konnte die nächste Sitzung kaum abwarten. Voll Ungeduld erschien er zum abgemachten Termin und setzte sich mit Spannung auf seinen Stuhl. Mit fragendem Blick schaute er den Therapeuten an.
„Wollen wir gleich mit dem Brief beginnen oder möchten Sie ihn sich zu Hause in Ruhe zu Gemüte führen?“
Dr. Mayer-Mendel stellte diese rhetorische Frage, obwohl er sah, wie der Mann auf das Schreiben fast schon brannte.
„Ja, bitte sofort. Ich möchte keine Zeit verlieren.“
„Nun, dann lesen Sie mal.“
Der Psychologe händigte seinem Patienten das Blatt Papier aus und beobachtete dessen Gesicht. Herr Müller las im Stillen.
 
Hallo blonder Michel,
oder ist es Dir lieber, wenn ich Dich mit Deinem Spitznamen Mireille Matthieu anspreche? Lange ist es her, aber nicht so lange, dass Du Dich nicht mehr an Deinen Lieblingsmitarbeiter erinnern kannst. Es sei denn, sie haben Dich als Kind mit dem Klammersack gepudert.
Leider hatte ich bis heute keine Gelegenheit ein paar intime Worte mit Dir zu reden. Zu schnell war Dein Abschied. Das will ich gleich mal nachholen.
Wie ich höre, bis Du zum Wiederholungstäter geworden und leitest nun die Analytik eines großen, homöopathischen Unternehmens. Du hast also immer noch nicht begriffen das Analytik von anal kommt. Dabei warst Du doch selbst das größte Arschloch.
Andererseits bietet es sich für eine Null, wie Dich, geradezu an, an der Quelle des Nichts zu sitzen. Je höher die Potenz, desto weniger Substanz ist drin. Und wo Nichts ist, ist auch nichts zu holen. „Similia similibus curantur“ Ähnliches wird mit Ähnlichem geheilt. Dann fang schon mal mit Brechwurz an. Das lindert Brechreize. Vielleicht genügt es auch schon, wenn Du nicht immer wie eine Sau über die Autobahn fegst.
 
Was macht Deine Handschrift? Ich hoffe doch, Du lässt sie nicht offen herumliegen. Sie gibt einfach zuviel von Dir Preis. Ob sie nun Deine kleinkarierte Engstirnigkeit verrät oder den schwäbischen Geiz kundtut, in jedem Fall konnten alle den schwerfälligen Charakter daraus ableiten. Das lag wohl zum Teil an zuviel Blei. Tja, jeder hinterlässt Spuren, sogar der Radiergummi.
 
Liest Du immer noch wie ein Erstklässler den Text brav und laut von der Wand? Es ist zwar löblich, dass Du das Alphabet inzwischen beherrschst, doch liegt der Sinn einer Botschaft nicht vielmals zwischen den Zeilen? Welchen Sinn ergäbe es denn Deiner Meinung nach sonst, weshalb wir Vorschriften als Gruppe durcharbeiten mussten?
 
Stehst Du mittlerweile im Guinessbuch der Rekorde? Es gibt wohl niemanden der sooft einen Satz in Folge mit dem Namen Isaac Newton beginnen kann, wie er Teeränder in der Tasse hat – und das sind mindestens 70 Stück. Beharrlichkeit ist Deine Stärke, selbst wenn es sich um Kalkflecken im Wasserglas handelt.
 
Deine Affinität zu Wasser wurde Dir sicher schon in die Wiege gelegt. Wahrscheinlich hätte Dich Deine Mutter am liebsten im Fruchtwasser ertränkt. Schade, dass es nicht geklappt hat. Die Familie beherbergt anscheinend mehrere Verlierer. Ach, der Papa ist wieder Schuld? Produzenten haften in der Regel nur bis 25 Jahre. Danach darf man den Kleinen ruhig die Verantwortung über sein eigenes Leben übertragen. Für ein Mamasöhnchen ist das natürlich sinnlose Liebesmüh.
Immerhin gibt es somit eine Frau auf der Welt, die Dich liebt. Mütter hatten es noch nie leicht. Das würde allerdings auch Deinen Geiz erklären. Mit 30 CHF Taschengeld im Monat macht man keine großen Sprünge.
Fehlt mir nur noch zu erwähnen, wie schön sich sogar die Aktienkurse erholt haben, seit Du diese Firma endgültig verlassen hast. Kein Ordnerlabel oder Vorschrift, kein Protokoll oder sonstige Daten zeugen von Deinem ehemaligen Dasein. Hast Du wohl auch hier sparsam gearbeitet. Oder war Dein plötzlicher Abgang gar nicht so freiwillig?
 
Ehrlichkeit ist eine Tugend und man lernt sie meistens in der Jugend. Da Du niemals jung warst und schon altklug auf die Welt kamst, kann man Dir betrügerische Machenschaften nicht mal schwer verübeln. Ich sage nur Weihnachtsbestechung.
 
Es grüßt Dich in der Hölle Dein einzig ehrlicher Mitarbeiter
GM
 
Mit weit aufgerissenen Augen las Herr Müller den Brief zu Ende. Er konnte es gar nicht glauben, diesen Text tatsächlich mit eigenen Augen gelesen zu haben. Dr. Mayer-Mendel saß zufrieden zurück gelehnt in seinem Sessel. Er wartete auf einen Kommentar seines Patienten.
„Das ist ja die reinste Beleidigung, die sie verfasst haben. Ist das nicht ein bisschen zu massiv? Kann mich Herr Malser deswegen nicht verklagen? Ich meine wegen der freien Behauptungen. Ist das nicht unverschämt in dieser Weise.“
Herr Müller schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Nein, nein, das ist schon richtig so. Der Drecksack schuldet mir noch das Geld für drei Stunden.“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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