Wilhelm Pfeistlinger

Der Storch von Cáceres

Der Storch von Cáceres
(Beruhend auf einer Begebenheit)


Leicht erhob er sich in die Freiheit. Leicht bewegte er sich in ihr. Leicht kehrte er aus ihr zurück. Leichtigkeit war sein Wesen, Freiheit sein Metier.

Als er die Landung in der warmen Enge seines Nestes auf dem Turm des Klosters San Juan zu Cáceres, Südwestspanien, in eine machtvolle Umarmung seiner wartenden Gefährtin ausweitete, überkamen den Zaungast ein Stockwerk tiefer, unter den Arkaden des Dachgeschosses so nah wie nur möglich am Geschehen, Gelassenheit und Staunen. Was erhebt den Menschen über den Vogel, erhebt sich doch der Vogel über den Menschen? Das anschließende kurze, wilde, kreischende Schauspiel, als sich der Storch an den Rücken des Weibchen preßte, führte dem Zuschauer die Wahrheit der eigenen Bedeutung und den Rang seiner Gattung vor Augen. Der Storch, der die Kinder bringt: Was sind wir für Vögel, daß wir unseren Jungen deren Entstehung immer wieder mit Hilfe dieses Bildes glaubhaft zu machen versuchen ? Auf welche tiefere Nabelschnur verweist sie unser Unbewußtes damit ?

Das Geschnatter im Menschenpark nahm kein Ende. Die bis in den letzten Winkel zu zweckkonformen Informationstempeln und Kommunikationsschiffen umfunktionierten altehrwürdigen Räume der mittelalterlichen Klosteranlage hallten wider vom Gurren, Murren und Knurren, vom Brummen, Summen und selbst noch vom Verstummen, vom Zwitschern, Quietschen und Girren, vom Lispeln, Wispern und Flüstern, vom gesamten Gezanke, Gegacker und Gezischel der vergangenen Tage. Nunmehr hatte sich alles in die Prunkräume unter die Dachfassade begeben, wo die abschließenden Pressekonferenzen der Außenminister der Europäischen Union den angestauten Wirrwarr der Stimman- wie Stimmeinsätze zu einem einzigen Klanggebräu zu bündeln vorgaben. Die schrillsten Vögel unter ihnen wußten dies allerdings rasch zu vereiteln und im Nu war das Klanggebräu zum uniformen Gebräuklang verdünnt.

Pro Schnabel eine Stimme. Alle waren sie vertreten, aus den unterschiedlichsten Kehlen und Schnäbeln drang eine ähnliche Sprache, die meistens dasselbe besagte: nichts oder doch immerhin, daß wir Menschenvögel unseres Europa mit einer Stimme und dieselbe Sprache sprechen sollten.

Der kleinste gemeinsame Nenner, was kümmerte er den Turmherren, der frei und prachtvoll weiterhin seinen sozialen Verpflichtungen nachging. In seiner Freiheit zählen nur Größen. Allerdings auch die kleinsten unter ihnen.

Als amtierender Präsident der Vereinten Menschenvögel durfte in diesen Monaten der iberische Menschenhabicht herumflattern. Er stach durch eine für einen Raubvogel seltene Unscheinbarkeit hervor, doch konnten selbst sein unansehnlich blasses Gefieder und sein armseliger Körperbau nicht verhehlen, daß er blieb, was er war – ein Raubjäger, der raffgierig stets sofort und restlos seine Beute zerpflückte und aufpickte, ein Geizhals, der stets ängstlich, mißtrauisch und kampfbereit über seinem Territorium kreiste, bedacht im Wind zu fliegen, ein aggressiver Verteidigungsstratege, der sein Jagdgebiet unaufhörlich von Feinden und Eindringlingen bedroht erachtete, und stets bereit war hinabzustoßen. Sein erstes und einziges Ziel bestand in der Verteidigung der eigenen Jagdgründe und Jagdrechte. In allem anderen war mit ihm zu handeln, doch was die Jagdgründe und Jagdrechte anlangte, pickte er auf jedem Häppchen und Körnchen herum. Und waren Häppchenfonds und Körnchenvorrat aufgebraucht, pickte er in sinnloser Prävention nach jedem, der ihm in die Nähe kam.

Der Storch von Cáceres kam in niemandes Nähe. Ihm war die Kunst der Menschen, ihre Versöhnungsbemühung, dem Turm von Babel Kirchtürme, Leuchttürme, Wolkenkratzer, Zwillingstürme, Europatürme folgen zu lassen, Vorrat genug. Auf ihren Spitzen ließ er sich nieder, auf ihnen setzte er sich aus. Was geschähe mit ihm bei Ausmerzung der Türme? Viele Menschenvögel meinen, ihn von ihren Türmen und Schornsteinen vertreiben zu müssen. Sie vermuten wohl, ein Stück Freiheit zu gewinnen, wenn sie ein Stück Heimat weniger teilen. Ist der unbehauste Turm unsere Freiheit und Heimat? Vermögen wir unvermittelt in den Himmel zu reichen? Und unbegleitet gar? Der Storch von Cáceres, trägt er nicht die versammelten Nöte und Bitten höher, als der Schall unserer verlesenen Versammlungsprotokolle und Erklärungen dies vermag? Wer in Cáceres gearbeitet und gebetet haben mag, mag für die Menschen gearbeitet und zu Gott gebetet haben. Vielleicht hätte er auch ein wenig der Freiheit und Leichtigkeit des Storches eingedenk arbeiten und beten können.

Allerdings war kaum etwas von Beten zu merken unter den Menschenvögeln. Ihr Präsident, der Menschenhabicht, flatterte zwischen ihnen hin und her und konnte es nicht lassen, dann und wann in sein notorisches Gehabe, das Picken, zu verfallen. Wenn das Picken unter dem kleineren Federvieh auch die gewöhnliche Schnabelbetätigung sein mag, einem Habicht geziemt dieses ständige kleinförmige Gehacke nicht, weshalb der Menschenhabicht im Bürokratenjargon der Vereinten Menschenvögel immer wieder „Der Picker“ genannt wird. Präsident Picker war in diesen Tagen der römische Oberkommissär Täuberich zur Seite gestellt, so bestimmten es die Satzungen der Menschenvögel, die ihn anhielten, immer um das Wohl des Ganzen zu werben. Sein geduldiges Gurren beeindruckte auch in Cáceres einmal mehr, auch der ungewöhnliche Wohllaut seiner Worte, der, egal welche Sprache Täuberich gerade verwenden wollte, alles wie verinnerlichten Gesang ertönen ließ, allerdings in verkehrt proportionalem Verhältnis zu Stimmkraft und Durchsetzungsvermögen stand. Ihm wäre das Beten noch am ehesten zuzutrauen, würde er sich nicht unentwegt in die gutturale Anmut seiner eigenen Rede verlieben. Wenn er allerorts sein eigenes Belcanto endlos fortzuspinnen versucht, schlummern nicht nur der wolkengewöhnte belgische, sondern auch der sonnenverwöhnte römische und hesperische Himmel nach und nach in einschläferndes Grau in Grau hinweg. Letztlich hörte daher auch in Cáceres niemand auf den um Vermittlung, Ausgewogenheit und Frieden bedachten Täuberich.

Sollte für Gott und seinen Storch nicht die Möglichkeit einer Ausnahme gelten. Der Storch von Cáceres, seine glänzenden Schwingen um die Partnerin gehüllt - in ihrer Schönheit waren sie ihrer selbst und ihrer Schönheit so unbewußt, wurden sie so offen und frei, daß getrost zu hoffen ist, Gott müsse wach geblieben sein für jede noch so eigenartige Schönheit, auch jene der Worte des Herrn Präsidenten Täuberich. Wenn dicke Luft um Gott liegt, der Storch von Cáceres könnte sehr wohl Gottes Fächer spielen.

Der dritte Leitvogel im innersten Kreise der Vereinten Menschenvögelregierung kontrastierte denkbar stark zu Täuberich. Falke galt unter den Menschenvögeln als alter Haudegen der Luftpiraten, dereinst iberischer Jagdgenosse des „Picker“, dem er nach Aufkündigung der Partnerschaft zum scheinbaren Wohle des Ganzen durch seine Behendigkeit samt seiner immensen Verbissenheit weiter zur Seite steht, ohne aber daraus ein Hehl zu machen, seine eindrucksvollen Loopings mehr in privatem Sportsgeist und aus persönlichem Ehrgeiz zu betreiben. Ein gejagter Jäger, ständig im Schleudersitz, ein Francis Drake – der Vogelszene. Letztlich bedürfen die Vereinten Menschenvögel auch der Härte und Schärfe dieser Führerpersönlichkeit, würden sie doch sonst gänzlich von Geieradler und Adlergeier dominiert werden.

Falke, ob seiner revierumfassenden Verteidigungsfunktion der „Hohe Vertreter“ genannt, und in seinem Schattenflug Oberkommissär Täuberich, Präsident Habicht, der „Picker“, sowie in ihrem Gefolge gelegentlich noch einige ab ovo zum Trabantendasein bestimmte Menschenvögelchen widerstehen den zwei Giganten bisweilen. Unter den Kleinen der großherzogliche Kolibri, die blutleere Nordseemöwe, der eingebürgerte Pub-Duck oder die einst flügge, nun jedoch gar im Herzen Europas heimisch gewordene Papageiin, als Exotin unter den Vogelstimmimitatoren bekannt und angesehen. Vom Hohen Falken zu unvorhersehbaren, manchmal wahnwitzigen Sturzflügen der Existenzbekundung in letzter Sekunde flankiert, zetert diese kleine Luftflotte unter ohrenbetäubendem Kriegs-, Jammer- oder Verzweiflungsgeheul gegen die stolze Armada dieser Allianz der Herrscher über die beiden zentralen und größten Reviere des Kontinents. Seit dem Zeitpunkt, als Doppeladler und Doppelgeier nach Jahrhunderten gegenseitiger Zerfleischung nicht bloß Frieden geschlossen, sondern sich gar in einer Vernunftehe miteinander vermischt haben, sind die äußeren Verbündeten zum Doppelgegner im Verbunde geworden. Kämpfte man einst in abwechselnder blutsbrüderlicher Treue mit dem einen gegen den anderen, wurde man jetzt von beider elterlicher Fürsorge simultan überwältigt. In Cáceres wurde klar, daß die probateste Methode, sich diese bedrohliche Doppelbemutterung vom Leibe zu halten immer noch in der gegenseitigen Aufwiegelung der beiden Jungrassen besteht. Man stärkt das Ganze, indem man die beiden schwächt, man schwächt sie, indem man sie jeweils stärkt, man gewinnt, indem man sie gewinnen lässt, sie verlieren durch ihren Gewinn und gewinnen mit allen zusammen durch diesen Verlust. Alles gründet in der Akzentuierung ihrer Fürsorglichkeit.

Nie zuvor hatte das Paradoxon dieser Taktik jemand so auf den Punkt gebracht wie der schöne lombardische Perlhahn „Silvio“ in Cáceres nun am Ende dieses üblichen Unisono-Konzerts, als er inmitten einer ihn paparazziartig umgebenden Buntspechtmenge, meinte, die Balance im Reich der Vereinten Menschenvögel sei einzig und allein durch die gleichzeitige Befriedigung der Wünsche und Süchte Adlergeiers einerseits und Geieradlers andererseits zu erhalten. Jeder müsse in den Glauben gewogen werden, das Wohl der Menschenvögel sei ausschließlich ihm zu verdanken, jeder müsse darin bestärkt werden, er habe zuerst daran gedacht, danach geschürft, darum gekämpft, völlig unabhängig davon, was daraus geworden sein mag. Dies sei alles, was man für die gemeinsame Sache tun könne. Direkt, so Auerhahn mit einem verächtlichen Seitenblick auf die Kleingefiedermenagerie, solle man überhaupt nichts beitragen, dies würde nur destabilisierende Wirkung haben. Selbst solle man sich statt der Erweiterung der Agenden der Vogelaußenpolitik eher der Verbesserung der Köderqualität der Vogelinnenpolitik widmen und den Genüssen der Streif- und Raubzüge im jeweiligen Stammrevier nachflattern. Nach erfolgreicher Plünderung schließlich gebe es nichts Wohligeres, als sich in seinem Nest in den heimgetragenen Beutestücken zu ergehen und dem Rest der Welt zu entsagen. Die Perlhahnsche Trippelgleichung, auf deren Wegen auch sein guter Freund, der einst mächtige, jenseits des Kanals angesiedelte Königspfau neuerdings seine Räder schlage: Schaffen gleich Raffen, Nutzen gleich Stutzen, Kriegen gleich Siegen. Was uns gemein sei, sei eben dies: das Gemeine. Immerhin sei es uns aber gemein, gab der Perlhahn zum besten. Alles Weitere bewege sich im Bereich reinen Wunschdenkens. Im übrigen wünsche er sich für künftige Tagungen dieser Art, dass die Gastgeber Vorkehrungen gegen die andauernde Belästigung durch Vogelgeschrei und Vogelmist träfen, lenkte die Augen der umstehenden Journalistenmenge mit einem Fingerzeig nach oben und begann beinah noch im selben Moment, seinen rechten Fuß nervös an dem altehrwürdigen Mauervorsprung hinter sich zu reiben.

Der Storch von Cáceres ließ ab von seiner Gefährtin. Er wurde ruhig und ließ sich betrachten. Bald würden die Blicke in Gelächter übergegangen und die Neugier mit den Menschenvögeln verflogen sein, und er würde wieder aufsteigen, seine schützenden Kreise ziehen, in das Turmrund von San Juan zurückkehren und von neuem Nähe suchen und Nähe spenden. Als ob er den Himmel von uns Menschenvögeln abschirmen und dennoch unsere Hoffnung nach oben tragen könnte. „Unsere Hoffnung auf gute und gesunde europäische Menschenkinder“, dachte der Zaungast bei sich, schloss sich dem Tross der Delegationen an und schwärmte mit der seinen in einer Flotte aus Limousinen und Minibussen von Europa nach Hause zurück.





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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.02.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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