Jutta Miller-Waldner

Der Leuchtturm

Ich verstehe nicht, was die fremde Frau hier sucht. Schließlich lebe ich hier, weil ich allein sein will. Dazu bin ich hergekommen. Ich will mit niemandem reden, ich will keinem etwas schuldig sein, ich will in Ruhe gelassen werden. Ich habe in meinem Leben mit zu vielen Menschen gesprochen. Ich bin in meinem Leben zu vielen Menschen etwas schuldig geworden, ich habe zuviel Schuld auf mich geladen. Lasst mich doch nur alle in Ruhe!

Doch diese Frau gibt keine Ruhe. Ich kenne sie nicht, und ich mag sie nicht. Ich mag niemanden mehr. Warum lässt sie mich nicht in Frieden?

Heute ist es das vierte Mal, dass sie erscheint. Ich erblicke sie immer schon von weitem, wie sie da im Watt läuft, die Schuhe zusammengebunden in der linken Hand, das blonde Haar flatternd im Wind. Wieder bleibt sie vor dem Leuchtturm stehen. Aber sie kommt nicht hoch. Warum nicht? Doch ich will das auch nicht, ich bin zufrieden mit meiner Einsamkeit. Ich habe sie mir gewählt. Ich musste sie wählen. Da ist meine Schuld. Meine Schuld, mit der ich leben muss. Mit der ich leben will.

Andere Männer verkriechen sich in einem Kloster oder begeben sich auf eine Pilgerfahrt, sie geißeln sich. Sie tun Buße. Oh ja, ich tue auch Buße. Auf meine Art. Was soll ich im Kloster, wenn ich mein Vertrauen zu Gott verloren habe. Was soll ich auf einer Pilgerfahrt, mich geißeln, wenn ich das Vertrauen auf Hilfe verloren habe. Nicht nur dieses Vertrauen, ich verlor das Vertrauen zu jedem, zu allem, zu mir.

Jetzt kommt diese Frau die Treppe empor. Was will sie von mir? Wohin soll ich denn noch fliehen? Ich mag keine Neugier, ich mag nicht reden. Wer interessiert sich denn wirklich für einen anderen Menschen? Wen interessieren meine Qualen, meine Gedanken? Meine Gedanken, die unentwegt kreisen und kreisen, ein wirbelndes Rad, das mir nie Ruhe lässt, nicht am Tag und erst recht nicht bei Nacht.

Ich lebe auf einer Insel. Ich habe mir nicht umsonst eine Insel gewählt, eine winzige Insel. Nur ich wohne hier. Hin und wieder sehe ich Krabbenfischer am Strand oder auch mal einen Vogelkundler. Aber wir stören uns nicht. Es sind ebensolche Käuze wie ich …

Warum ich ausgerechnet in einem Leuchtturm wohne? Ganz allein? Ja, sehen Sie, da ist eine Schuld, die ich abbüße.

Warum ich so bereitwillig von meiner Schuld spreche? Wissen Sie, liebe Dame, ich weiß nicht, wo Sie herkommen. Aber ich weiß, wo Sie hingehen.

Oh, ich sprach zu leise? Ach, es war nichts Wichtiges.

Oh ja, ich will von meiner Schuld sprechen. Ich muss über meine Schuld sprechen. Ich werde verrückt, wenn ich es nicht tue. Ich werde wahnsinnig. Wissen Sie überhaupt was Wahnsinn ist?

Zucken Sie nicht zurück. Haben Sie noch nie Wahnvorstellungen gehabt?

Sie haben Angst vor mir? Aber warum sind Sie immer wieder hergekommen? Warum haben Sie mich gestört? Warum sind Sie die Treppe emporgestiegen? Wegen der Aussicht?

Ach, ich interessiere Sie? Sie kennen mich doch gar nicht.

Was, einfach so, als Mensch? Bin ich denn überhaupt noch ein Mensch? Der Mensch definiert sich durch den Menschen, ist das nicht so? Um mich herum leben nur Möwen und Albatrosse. Dann bin ich wohl eher ein Vogel.

Lachen Sie nicht. Ich mache keinen Spaß. Doch, ich mache nur Spaß. Nehmen Sie’s nicht ernst, was ich so sage. Ich bin es nicht mehr gewohnt, mich zu unterhalten. Ich weiß nicht mehr, wie man mit Menschen umgeht. Man verlernt es mit der Zeit.

Meine Schuld? Sie geben keine Ruhe, nicht wahr? Sind Sie Pastorin, Rechtsanwältin? Etwa von der Zeitung? Wollen Sie an meiner Schuld verdienen?

Oh, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen. Es war nicht so gemeint.

Ganz kurz, ganz einfach: Früher lebten hier mehr Menschen. Es gab genug zu tun für sie; denn damals konnte man noch mit dem Pferdewagen herüber, die Insel war ein beliebtes Ausflugsziel. War in, würde man heutzutage sagen. Und nun ist sie fast im Meer versunken. Der Deichbau macht alles kaputt, verstehen Sie. Meine Mutter betrieb einen Andenkenkiosk, mein Vater war ein Säufer. Underberg. Viele Fläschchen Underberg am Tag. Vielleicht war es die Einsamkeit. Sei’s drum. Für uns Kinder bildeten das Watt und die Dünen und der Sand das herrlichste Spielparadies, das man sich nur denken kann.

Nun, um es kurzzumachen: Eines Nachts schlichen wir Jungs, das waren der Hein und der Claus und der Schorschel und ich, uns zum Leuchtturmwärter mit ein paar Buddeln unterm Arm. Der Wärter war unser Freund, denn er klönsnackte das spannendste Seemannsgarn, und, was viel wichtiger war, er nahm uns ernst. Die anderen hatten dazu keine Zeit. Das schnelle Geld machen mit Fischbrötchen und Jubiläumsaquavit und Andenken hatte alle gepackt. Und so tranken wir einen Rum und klönsnakten und tranken noch einen Rum und klönsnakten, wie das so geht.

Habe ich schon gesagt, dass es eine stürmische Nacht war? Nein? Jedenfalls schlug ein Blitz im Leuchtturm ein und verursachte einen Kurzschluss. Das wäre noch nicht einmal so schlimm gewesen. Man hätte nur den Notgenerator anwerfen brauchen. Aber die Buddeln waren inzwischen leer. Selbst die Donner rissen uns nicht aus unserem Rausch. Es hätte neben uns brennen können, wir hätten es nicht bemerkt.

In der Nacht kenterte ganz nahe bei der Küste ein Fischerboot. Da war kein Leuchtturm, der den Weg anzeigte, und so lief es auf eine der vielen Untiefen hier in dieser Gegend. Mea culpa – unsere Schuld ...

Was sagten Sie? Nein, natürlich wurde niemand gerettet. Wie denn auch – in solch einer Nacht. Sie waren wohl noch nie in einer Sturmnacht auf dem Meer?

Wir Jungs jedenfalls waren im Morgengrauen verschwunden. Dass wir mit dem Leuchtturmwärter einen gehoben hatten, glaubte ihm natürlich niemand.

Wie alt wir damals waren? Zwölf, dreizehn, schätze ich. Grüne Jungs halt.

Was sagen Sie da? Dummer Jungenstreich? Was wissen Sie schon von Schuld, die jemand auf sich nehmen muss. Wer wertet Schuld?

Aber es ist meine Schuld. Ich hatte sie gut verdrängt. Bis es irgendwann nicht mehr ging. Und dann gab ich alles auf. Meine Familie, mein Haus, meine Karriere, alles.

Nun leuchte ich den Schiffen und gebe den Schiffbrüchigen Hoffnung und vermittle allen Menschen auf der See und auf Land Geborgenheit in tiefster Nacht.

Aber keiner kennt meine Geschichte. Nur Sie. Warum sind Sie auch hergekommen? Warum haben Sie meine Ruhe gestört? Nun schulde ich Ihnen etwas. Man schuldet immer jemandem etwas, wenn man sich mit ihm einlässt. Ich ertrage noch mehr Schuld nicht.

Wissen Sie, ich weiß nicht, wo Sie herkommen. Aber ich weiß, wo Sie hingehen.

So. Nun wird mich diese Frau nie wieder behelligen. Und das Geheimnis ist endgültig begraben … begraben … begraben …



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