Aylin Kurt

Es wartet immer noch - Teil 1


Es war der dritte Anlauf.
Beim ersten Mal hatte ich vor lauter Nervosität mit meinen fahrigen Fingern einen Zahlendreher in die Rufnummer getippt, die ich nach langem, intensivem Suchen endlich dem allwissenden Internet entlockt hatte, und nun dem Tastenfeld meines Telefons anvertraute.
Beim zweiten Mal hatte ich den Hörer auf die Station geknallt, nachdem der erste Piepton wie eine pfeifende Warnung an mein Ohr geklungen war.
…Tu es nicht…. Lass es lieber sein….
Ich hatte Angst. Angst davor, dass nicht die Person an den Hörer ging, die ich erwartete, sondern...
Ich zögerte, tat es aber schließlich doch.
Und beim dritten Versuch ging Hanna direkt nach dem ersten Wartezeichen an den Apparat.

 
„Hanna Bartock, guten Tag?“ klang es dynamisch aus dem Hörer, und ich fühlte mich erschlagen von der Souveränität, die meine ehemalige beste Freundin ausstrahlte. So ungewohnt… so fremd…
Der Nachname hatte sich geändert… aus Silbert war Bartock geworden… sie hatte wohl geheiratet…
Hanna Silbert, die als Kind genauso schüchtern gewesen ist, wie ich selbst…
„Bartock am Apparat, mit wem spreche ich?“ klang es etwas ungeduldig aus dem Telefon, und ich schluckte überfordert.
„Hanna… hallo…. Hier ist Evelynn…“ kam es heiser aus meiner trockenen Kehle.
„Evelynn- wer, bitte?“
Ich räusperte mich, und versuchte, nicht enttäuscht zu klingen. „Evelynn Woolff.“
Pause. Ich kam mir in diesem Augenblick mehr denn je vor, wie eine Verliererin auf ganzer Linie… Ich hätte laut losheulen können, doch ich riss mich zusammen.
„Wir waren zusammen auf der Schule, wir waren… sehr gut befreundet… und…“
„Ah, natürlich, Ewwie!“ zwitscherte es plötzlich aus dem Hörer, und ich war mir nicht sicher, ob die Freude echt war, mit der meine damalige Freundin sprach. „Hast du gerade schon einmal versucht, mich zu erreichen?“
„Nein.“ log ich.
Schon wieder Pause.
„Wie geht es dir?“ fragte ich dann vorsichtig, obwohl es mich nicht wirklich interessierte. Ich wusste inzwischen, dank der modernen Medien, dass Hanna Erfolge auf allen Gebieten verbuchen durfte. Im Job. In der Familie. In der Liebe…
„Bestens, bestens!“ tönte es mit einer Spur von Überheblichkeit an mein Bewusstsein, als sie mir antwortete. „Albert und ich haben geheiratet, und ich erwarte im September unser zweites Kind! Natürlich musste ich meine Arbeit bei National Geographics erst einmal auf Eis legen, aber spätestens im…“
„Hanna, erinnerst du dich an das Monster vor dem Fenster?“ unterbrach ich ihren Redefluss kalt und abrupt.
Und noch eine Pause.
Diesmal schien sie mir länger und grausamer, als ihre Vorgänger.
„Hanna…?“ wiederholte ich unnachgiebig. „Kannst du dich erinnern?“
Ein beleidigtes Räuspern klang aus der anderen Leitung. „Ewwie, warum kommst du mir jetzt mit so einem Kinderkram? Klar erinnere ich mich,- du hast ziemlich lange an diesen Unsinn geglaubt, und das war auch der Grund, weshalb wir uns später letztendlich auseinander gelebt haben. Ich fand es eigentlich ziemlich schade; wir haben früher immer so viele witzige Dinge gemeinsam erl-…“
„DU HAST ES DOCH AUCH GESEHEN, DU BLÖDE KUH! DU HAST ES SELBST GESEHEN!!!“ schrie ich plötzlich völlig enthemmt in den Hörer, und dann vernahm ich nur noch das Knacken auf der anderen Seite.

 
Aufgelegt.
Ich hielt den Hörer immer noch in meiner zitternden Hand.
„Gesehen hast du es. Aber du hast es anscheinend niemals zu dir hineingelassen…“ flüsterte ich in die tote Leitung, aus der es nur noch leise rauschte.
Ich lauschte dem trügerischen Klang, und schloss die Augen.
„Hörst du gerade zu? SIE hat dich NICHT hineingelassen… Sie war eben schon immer viel vernünftiger als ich… “


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.10.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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