Wolfgang Weniger

Worte am Draht

 

Der 1973 in der ARD gezeigte zweiteilige Fernsehfilm „Welt am Draht“ von R.W. Fassbinder be-

wirkte  Erstaunen und offenbarte  Befremdlichkeiten,   provozierte aber auch Neugier beim Zu-

schauer infolge kaum zu glaubender Geschehnisse.

Vermochte doch ein  hochentwickelter  Computer mittels  virtueller Wirklichkeit eine detaillierte

Kleinstadt  einschließlich  der in ihr existierenden Wesen mit  Bewusstseinseigenschaften zu si-

mulieren.  Dieser  Perfektion fehlte nur ein wesentliches  Modul weitergehenden Wissens:  jene

Kleinstadtmenschen ahnten nicht, dass ihr Dasein nur auf reiner Simulation beruhte.

 

Der gegenwärtige Leistungsstand elektronischer Rechenanlagen ist äußerst beeindruckend,  ih-

re  Fertigkeiten für Simultanprozesse sind geradezu phantastisch,  aber eine Simulation in der-

artiger Vollkommenheit? Sicher, es wird immer Grenzen in der Vorstellbarkeit und technischen

Umsetzung geben – und dennoch…

Zunächst verfügen wir einmal über Simulationen in ihrer einfachsten Form,  den Computerpro-

grammen für Handlungsabläufe mit situationsbedingten Lösungsvarianten.  Vorhaben und  ma-

nuelle  Begabung des Anwenders  produzieren  im  Spiel visuelle  Szenen des Aufbaus oder der

Zerstörung. Das ist immerhin schon Interaktion, im Sinne der Informatik. Nützlichere Perspek-

tiven  bieten dagegen die  Programme einer Kategorie, die Trivialnutzungen gar nicht erst inte-

ressant erscheinen lässt, weil einfacherweise der Spielanreiz fehlt.

Die derzeitig zu beobachtende gesellschaftliche Entwicklung wird allemal bestimmt durch Com-

puterprogramme für Forschung und Arbeitswelt.  Infolge der  Computervernetzungen  ergeben

sich für den Nutzer sich ständig ändernde Handlungsweisen, also soziale Interaktionen mit ent-

sprechenden Verhaltensprozessen.

Das nachweisliche Verändern des allgemeinen Verhaltens bewirkt plausibel ein anderes Vorge-

hen in der Kommunikation.  Der direkte Weg scheint umständlicher und schwieriger. Beziehun-

gen stellen sich immer häufiger über „Chaträume“ dar.   Kommunikation per SMS ist ein alltäg-

liches Bedürfnis, als Ladegerät für die Seele scheinbar ausreichend.

Und die Sprache ist anders geworden.   Eine der Ursachen könnte tatsächlich in der Vielfalt der

elektronischen Datenverarbeitung liegen, denn Internetplaudereien und elektronische Post ent-

wickeln neue Spracheigentümlichkeiten, bedingt durch modifiziertes Realitätsempfinden. Ist je-

doch eine Sprachverarmung nur durch diese und weitere datenverarbeitende Tätigkeiten denk-

bar,  wenn Mausklickmentalität und schematischer  Softwaregebrauch  allmählich  das erlernte

Sprachniveau lähmt?   Hinsichtlich der Wiederholbarkeit  sprachlicher  Vorgänge  gewiss  nicht.  

Das  Stereotyp ist eben kein spezielles Phänomen,  welches einfachhalber  der  Datenverarbei-

tung angelastet werden sollte.   Es sind wohl ebenso modische  Gegebenheiten, die quasi über

Nacht sprachliche Begriffe strapazieren.    Freilich,  Redewendungen und Schlagworte kommen

und gehen seit je,  ein Bedarf an gedanklicher Bequemlichkeit wird auch künftig erfahrungsge-

mäß vorhanden sein.

Aber nicht allein die  Sprachgewohnheiten fallen auf, es ist das Fremde in der Sprache, mittler-

weile weit verbreitet und ungemein favorisiert, so dass nichts mehr befremdet und Fremdspra-

che genau genommen begrifflich neu definiert werden müsste.

Englisch  ist denn auch die  Sprache der  Computerwelt.  Wie auch sonst. Termini wie  „screen-

shot“ und  „provider“  gehen einstweilen nicht nur  „online“ leicht über die Lippen – Worte,  bei

denen Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym `Theobald Tiger´die Pranke gehoben und in Kon-

frontation mit der ständig wachsenden Macht der Anglizismen gefährlich gefaucht hätte.

Kommunikation ist belangvoll,  alltäglich,  jedoch folgenreich, sobald der Automatismus produ-

zierte Daten erst einmal im Netz platziert hat. Die Datenlawine ist schier frei von Fehlerselekti-

on und die Schwelle des heutigen  Peinlichkeitempfindens bei vielen Datenurhebern erstaunlich

niedrig.   Sich mitzuteilen scheint verpflichtender,  als die Scham vor der Lächerlichkeit.  Wort-

austausch per Internet erfordert gedankliche Schnelligkeit und mancher besitzt diese Gabe nun

mal nicht. Satzaufbau und Wortwahl geraten dann mitunter ungewollt kurios.

Die Wirkung des Wortes lebt ja  weitgehend,   abgesehen vom individuellen  Kenntnisstand der

angesprochenen Person,  als erstes von der dargebotenen Überzeugung und dann,  fast gleich- 

                                                                 -1-

 

zeitig,  greifen die oberen Einordnungsmechanismen wie falsch oder richtig, wahr oder unwahr.

Darauf  folgt die Reaktion mit den wohlbekannten  Empfindungen,  das gesagte,  geschriebene

Wort hinterlässt jeweilige Wirkung, es beeindruckt, bewegt uns, bringt uns in Wut, und manch-

mal lässt es uns gänzlich unberührt, weil dummerweise ein wenig die Wortgewandtheit fehlt.

Gerade dieses  Manko aber könnte demnächst eine Aufwertung  erfahren,  wenn nämlich tradi-

tionelle Bewandtnisse nicht weiter gefragt sind  und die technische Entwicklung  peu à peu eine

Sprache des zweckgebundenen  Eilschriftcharakters hervorbringt,  wenn die geschulte Sprache

ohne Phantasie und ausschließlich produktiver Vorstellungsverknüpfungen zu einem harmlosen

Informationsträger verkümmert.  Welche  Erforderlichkeiten  begründen sich  eigentlich  in den

Einsichten  des  Programmierers  und  seiner  Sprache?   Vielleicht wird  ja  eine  digitale Tech-

nik  stufenweise die Sprache im Sinne der mathematischen Aussagenlogik reglementieren  und

folglich Kommunikationsvereinfachungen willkürlich bestimmen.  Eines scheint sicher, reduzier-

te Sprache ist überschaubar, verwaltbarer im politischen System.

Der Hinweis sei erlaubt, Gebräuchlichkeiten zur simplifizierten Sprache zeigen sich gegenwärtig

ohnehin recht ungeniert.  Wortstandards  in den Medien sind meist verlässliche Indikatoren für

vordergründige, gar nicht mal wirklich subtile Formen manipulativer Absichten.  Standards sind

wirkungsvoll  durch Nachahmung.  Und tatsächlich,  bestätigt  dank moderierender Akteure mit

vorgefertigten  Wortblöcken  bescheidet sich das  allgemeinvorhandene  Anspruchsniveau  und

neigt zu verärgernd langweiligen Sprachgewohnheiten. Sie ist präsent, die Dominanz der Wort-

hülsen.

Wenngleich, noch gibt es sie,  die gegensätzliche Welt des Wortes.  Dazu bedarf es bislang kei-

nes Simulators, keines Labors für synthetisch formulierte Poesien. Noch ist sie nicht illusorisch,

die Erzählkunst von Heine und Remarque, oder die saloppe Eloquenz Tucholskys.

Stirbt aber die  Magie des Wortes,  wenn wir es digitalisieren,  wird der Zauber der gescannten

und ins Netz gestellten Werke  Schillers  und  Goethes an Wirkung einbüßen,  weil wir vor dem

Bildschirm abweichend von erlernten Gewohnheiten lesen und empfinden?

 

Der künftige Umgang mit den Worten am Draht ist nicht unbedingt vorhersehbar.   Die sich ra-

sant  entwickelnde Informatik stellt von selbst adäquate Anforderungen an den Nutzer.  Indivi-

duelle Computerkenntnisse und Mentalität werden seine Aktionen  steuern.  Könnte er sich nun

für die in der Realität vorhandenen Bedingungen entscheiden,  unter Berücksichtigung bewähr-

ten Wissens,  dann wäre sein Tun  höchstwahrscheinlich sinnvoll.   Entscheidet er sich dagegen

für die Dinge einer virtuellen Scheinwelt,  könnten  alsbald kreative Impulse hinsichtlich  bisher

ungelöster  Phänomene in eine irrtümliche  Richtung  gehen.   Seine zunächst schimärenhaften

Absichten dürften womöglich  irgendwann  irgendjemanden Schaden zufügen. Überwiegt dabei

erst einmal die Versuchung zur  illegalen Cyberhandlung,  ändern sich die Interessen.   Gewiss,

zwangsläufig müssen keine kopfgesteuerten Drahtgewirre allerlei Unfug nach sich ziehen. Den-

noch stehen fortan Goethes Worte zur Disposition, werden gelöscht, weil die Sprache des com-

puterversierten  Enthusiasten sich nur  jener Programmiersprache  bedient,  mit der er  Sicher-

heitslücken aufspürt und in fremde Computersysteme  einzudringen  versucht.

Wäre es daher gleicherweise  vorstellbar,  wenn die dunkle Seite seines Hirns eventuell auf  die

Abschaltung des regionalen  Elektrizitätwerkes zielte?   Erfolg durch erreichten Endzweck hieße

hier aber auch gleich Zusammenbruch, infolge seines urplötzlich kollabierenden PC’s.

Er wird also zögern und die Berührung mit der  Bestätigungstaste letztlich vermeiden.  Und das

ist sein Glück.  Denn ihm widerfährt dafür Erstaunliches:  aus der Tiefe des Monitors  erscheint

unerwartet  Remarque,  als vollkommene Simulation.  Stumm ergreift dieser die Tastatur, ver-

ständnisvoll lächelnd und mit ruhiger Geistigkeit, so,  als käme er aus der Zukunft.   Dann diri-

giert er sie in den Draht,  seine Worte, beeindruckend und gekonnt, zur herbeigewünschten Er-

hellung des programmierten Verstandes.

 

 

 

 

 

 

 

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