Karl-Heinz Franzen

Oh, Britney

Gestern saß ich im Bus nach Travemünde, um ein wenig an der Ostseeküste flanieren zu gehen. Ich fahre gerne einmal nach Travemünde, weil ich dort nicht nur das Rauschen der Baltic Sea, sondern auch große Pötte ein- und ausfahren sehen kann. Ich stelle mich dann an die Mole der Travemünde-Ausfahrt zur großen Welt und lade zu den Containern auf den Seeschiffen meine Sehnsucht mit auf und wünsche ihr ‚Gute Reise’. Ja, es lohnt sich für mich auch immer wieder, hier die Passat zu besuchen und an Bord sich die große, große Reise rund um den Globus hin zu den Namensgebern, den Passatwinden, vorzustellen. Ja, ich gebe es gerne zu, ich bin ein „Träumer vor dem Herrn“.
 
Zu einer richtigen Arbeit, wie es meine Eltern nennen würden, hat es mich zu keiner Zeit getrieben. Wozu auch Regelmäßigkeiten, die mich nach kurzer Zeit langweilen? Ich jobbe hier, ich jobbe dort. Wenn ich jobbe, dann bin ich allerdings absolut zuverlässig. Oft bin ich gefragt worden, ob ich nicht für länger oder fest … Für länger oder fest? Ja, und wo bleibe ich mit meinem eigenen Leben? Nein. Ich komme gerne, wenn Not am Mann ist. Aber bitte nicht regelmäßig Not am Mann. So hat die eine oder andere Firma es auch schon versucht, mich zur Festanstellung zu überlisten. Da habe ich jedoch klare Kante gezogen, so nach meinem Motto: „Wenn Ihr das noch einmal versucht, dann sucht Euch einen anderen Not am Mann!“ Ich arbeite nur, wenn das Geld in meiner Blechdose, die ich in der Küche auf einem Regal deponiert habe, nicht mehr den Boden bedeckt. Da ich sowohl handwerklich hochbegabt bin … ohne jede Frage ... Ich bin so einer, der alles kann. Ich setze mich einen Moment „vor das Objekt“. Gehe der Funktionalität gedanklich auf den Grund … ich traue mich … und bums … das Ding läuft wieder … Auch im Verwaltungsdienst bin ich gut zu gebrauchen. Dort sind die Zusammenhänge für mich wesentlich einfacher zu durchblicken. Ob als Sekretär oder als Buchhalter oder als Pförtner … Und, wie gesagt, wenn ich arbeite, dann exakt, freundlich, pünktlich, zuverlässig. Im Grunde der ideale Kollege.
 
Also ich sitze heute im Bus zu einer Zeit, als sehr offensichtlich die Schule endet für die 12- bis 16jährigen Menschlein. So schätze ich sie altersmäßig „Pi mal Daumen“ ein. Groß sind sie. Die Jungs mit kieksender oder schon sonorer Bassstimme. Hier und dort zeigt sich, dass der Rasierapparat täglich seine Arbeit antreten könnte. Doch da sind die jungen Männer genauso faul wie ich. Nur nichts Regelmäßiges. Gut gewachsen in Kontur und Form auch schon die Mädchen, die an der Schwelle zur Frau vor sich hinkichern. Einiges hat die Mehrzahl dieser jungen Leute gemeinsam: 1. Traumhaft gut gewachsene Zähne. Sie tragen schon in diesem Alter ein exaktes Gebiss. Kein lustiger Eckzahn, der vorsteht. Kein wildes Durcheinander in der unteren Zahnreihe, weil … ja, weil die Natur so arbeitet. 2. Ein Handy mit sagenhaften, raumfüllenden Klingeltönen und, und, und … Ach, es geht mir nicht um die Darstellung der heutigen Jugend. 3. Natürlich Knöpfe im Ohr vom MP3-Player, meistens mit der Freundin oder dem Freund geteilt … und dann gehen die Arme nach oben und die vorgespreizten Zeigefinger zeigen den Takt und sie strahlen sich an, die jungen Leute, und sie tauschen die Musik aus und, und, und … ja, und? Britney Spears steht offensichtlich heute im Bus hoch im Kurs. Ich habe mich mit dieser amerikanischen Piepsstimme noch nicht näher beschäftigt. Ich kenne diese Person von den Überschriften aus den Medien, dass sie gerne über die Stränge schlägt, und dass sie sich zu einem Moppel entwickelt haben soll, der zwar immer noch gut aussieht, aber besser lachen als singen kann.
 
So begleitet mich die lärmende Spears-Jugend bis Travemünde Strandbahnhof und die blondmähnige Femme Fatale, Britney Spears, bleibt merkwürdigerweise mit ihrem Song ‚Hold it against me’ in meinen Gehirnwindungen hängen. Da ich ein Träumer bin, lasse ich mir dieses, wenn auch sehr widerwillig genießend, geschehen. Nach einem langen Spaziergang bei bestem Herbstwetter, sonnig und kühl, an der Wasserfront der Ostsee entlang, stieg ich wieder in den Bus zur Rückfahrt in mein Heim. Jetzt, am frühen Abend, zählte ich die Passagiere zu meinesgleichen … Richtig wohl erschöpft und müde zu Hause angekommen, also durchgepustet, schmierte ich mir schnell eine Stulle mit Käse und eine mit feiner Leberwurst, die ich begann, mit großem Genuss zu verzehren … und die singende Britney hatte mich auch jetzt nicht verlassen.
 
Teufel, noch einmal, dachte ich so und, was will die von mir und … ja, das habe ich nun davon, sie steht neben mir, Britney Spears! Leibhaftig neben mir, und sie bittet mich in vorzüglichem Deutsch, ihr doch auch eine Stulle mit Käse und eine Stulle mit Leberwurst zu schmieren. Ein wenig erstaunt reagierte ich wohl doch, denn sie sah mich mit großen, wirklich schönen Augen an und wiederholte ihre Bitte. Und dann zeigte sie mir ihr Lachen. Abgesehen von den hübschen Beißerchen … Sie überzeugte mich mit diesen lachenden Lippen sofort zum Handeln. Morgen früh würde ich einen Zwieback essen. Trocken, staubig … ach, ich würde morgen früh gar nichts essen … ich würde morgen früh …
 
Der Rest ist schnell erzählt. Sie aß mit großem Appetit die beiden Stullen. Trank dazu ein Glas Mineralwasser ohne Gas und erzählte mir so nebenbei ‚dies und das’ aus ihrem Leben. Es ging mir „alles“ quer durch den Kopf. Ich hatte nur noch Augen für sie und ihr Lachen. Dann nahm sie ihre CD, die auf meinem Wohnzimmertisch lag, in ihre zarten Hände. Die CD hatte ich mir, jetzt gestehe ich es, noch kurz vor der Busabfahrt in einem Travemünder Plattenladen gekauft, zupfte aus ihrer Jeansjacke einen Kugelschreiber hervor und signierte meine Neuerwerbung auf dem Booklet. Dann legte sie die CD in meinen Rekorder ein und sang mir, sozusagen im Play-back, ein paar Lieder daraus, zu herrlichen Körperbewegen in ihren hautengen Jeans, vor. Ich vermochte nicht zu sagen, dass sie mir zu rund, zu moppelig erschien. Natürlich spielte mein Rekorder auch ‚Hold it against me’; Britney tanzte und lachte dazu einfach hervorragend.
 
„Ich kann überhaupt nicht singen“, gestand sie mir mit einem absolut ehrlichen Blick auf die Hülle ihrer neuesten CD, „und doch ist wohl etwas an mir, was so viele Menschen jeder Altersklasse an mir mögen. Wow. Wow. Wow.“ Sie beugte sich zu mir vor, gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und flüsterte ‚Danke, Jens-Peter’ und verschwand von einer Sekunde zur anderen aus meiner Nähe. Wow. Wow. Wow. Jens-Peter, sie kannte sogar meinen Namen.
 
Ich erhob mich, noch leicht verwirrt, räumte das Glas und das Brettchen in die Küche und wollte gerade … nein, nein, nein, niemals … Ich ging in den Keller, holte das alte Aquarium nach oben, gut, dass ich es aufbewahrt hatte, räumte auf dem Sideboard in meiner Wohnstube „den alten Platz“ von Fridolin und Frederike, meinen lieben verblichenen Goldfischlein, wieder frei und … Ja … Die signierte CD, das Brettchen mit ein paar restlichen Krümeln der Stullen und das Trinkglas, in dem sich noch ein kleiner Rest Mineralwasser gesammelt hatte, hatten ihren Altar gefunden. Das darüber „auf den Kopf“ gestellte Aquarium sicherte den Reliquien eine staubfreie Zone. Die kleine Tiffanyleuchte, die gleich daneben positioniert stand, spendete dem Ganzen etwas Sinnliches, nein, nein, nein, ein wenig Übersinnliches gar.
 
Irgendwie bin ich den jungen Leuten von heute Nachmittag sehr dankbar, dass sie mir die Ohren und die Augen geöffnet haben für die Jetztzeit. Irgendwie muss ich aber auch sagen, dass das die Aufgabe der jungen Leute ist, oder?
 
Dass aber Britney Spears zu mir gekommen ist! Wenn sie schon meinen Namen kannte, dann musste sie doch auch wissen, was für eine Lebenseinstellung ich habe, was für ein Mensch ich bin, oder? Vielleicht kommt sie ja wieder zu mir. Vielleicht hat es ihr bei mir gefallen! Der zärtliche Kuss auf die Stirn war jedenfalls nach meinem Gefühl keine O8/15-Beigabe!
 
Werde mich sehr bemühen, dass ich immer mindestens zwei Stullen abends noch extra habe. Werde mich mit ihrem Leben beschäftigen müssen, damit ich mich mit ihr unterhalten kann. Dann habe ich selbstverständlich darauf zu achten, dass ich einigermaßen ansprechend angezogen und vielleicht auch frisch geduscht bin? Aufräumen sollte ich wirklich regelmäßig und den Geschirrspüler jeden zweiten Tag einsetzen. Ich könnte Staub wischen und auch vor dem Haus das Laub fegen und … Wenn ich so recht darüber nachdenke, dann wäre es mir sogar ein wenig vorstellbar, dass ich mich in sie verliebe. Ich würde für sie kochen, wenn sie mir ihre Lieblingsgerichte nennen wollte. Vielleicht bliebe sie auch, wenn es ihre Termine erlaubten, ein paar Tage bei mir. Ich würde ihr dann mein Zimmer herrichten und für mich selbst das Gästebett im Keller beziehen. Ich wollte immer für sie da sein und ihr jeden Wunsch von ihren so zuckersüßen Lippen ablesen. So, es ist spät geworden. Wir werden es sehen. Morgen ist auch noch ein Tag.
 
„Nein, es ist mir nicht möglich, für die nächsten vier Wochen eine Vertretung zu übernehmen. Tut mir leid, ich bin verpflichtet! Nein, ich weiß noch nicht zu sagen, wann ich wieder frei sein werde.“
 
Copyright by Frei Schnauze
22. November 2011
 

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