Tilman Otto Wagner

Ein bescheidener Vorschlag

Absolute Stille – welch' unerreichtes Paradies!

Lärm – wie damit umgehen, wenn die normalen 40 Dezibel überschreitet werden?! Wir wachen auf, draußen scheint die Sonne, und schon ist ein Zwitschern aus dem benachbarten Baum zu vernehmen. Wenn am Abend zu viel gezwitschert wurde, kann solch ein unauffälliges Tirilieren am Morgen schon mal lästig sein. Es wird zum Fenster geeilt. Wie schön es doch wäre, wenn in den wenigen Sekunden, die wir zum Fenster benötigen, nicht ein lautes Hämmern, Bohren und Klopfen aus dem Stiegenhaus dröhnen würde? Zu den üblichen Wohngeräuschen können wir es nicht zählen! Das Vögelchen hat schon längst sein vorübergehendes Zuhause verlassen, der nachdenkliche Blick zum Himmel schweift ab. Der Tag bricht an. Es ist 06:07 Uhr. Surrender Hubschrauber fliegt vorbei. Oje, oje, oje! Wo sind die Ohrstöpsel geblieben? Geschmeidig in der Ohrmuschel würden sie sich anfühlen, sanft und rosa, und jetzt liegen sie irgendwo verstaut. Autsch! 70-Dezibel-Grenze erneut überschritten. Die Mülltonnen rumpeln und knattern im Innenhof: Boom! Bang! Boom! Schnell ins Badezimmer rennen, Türe schließen, Blick in den Spiegel … Gott sei Dank, sie sind noch dran – die Lauscher! Ha, siehe da, die Ohrstöpsel liegen auf dem Spiegelbrett. Und sauber sind sie noch dazu! Schnell einstülpen, und schon ist das süße Vogelzwitschern wieder in den Ohren.

Und wenn man bedenkt, dass Lärmschutzbestimmungen vom Obersten Gerichtshof bloß pro forma erdacht werden! Denn auf der Polizeiinspektion sitzen die Beamten ihre 40-Stunden-Woche ab, um auf jene zu warten, die sich über den „höllischen Lärm“ in ihrer angemieteten oder gekauften Wohnung beschweren oder gar Anzeige wegen Lärmbelästigung erstatten. Denn „himmlische Ruhe“ soll es nur im Himmel geben, wo Cherubins dann leichtfüßig über den Wolken tänzeln.

Doch wie verhält es sich mit Donner und Blitz? Auch keine Lärmschutzverordnung vorhanden. Denn im Düsentempo jetten wir von Ost nach West und Nord nach Süd. Im Flieger ist’s dann meistens ruhig. Eine Zukunft in der Luft? Oder doch auf dem Boden der Tatsachen bleiben und die 140 Dezibel in Kauf nehmen! Wo das Zuknallen der Türen beinahe unerträglich wird, beinahe … Denn unsere Stimme kann laut sein, so an die 129 Dezibel. Also digitales Schallpegelmeßgerät kaufen und die mobile Messung zur Bewertung des Stressfaktors im Büro oder bei Straßenlärm regelmäßig durchführen! Was dabei rauskommt, ins Tagebuch eintragen und bei nächster Gelegenheit – zum Beispiel beim alljährlichen Couchsurfing – ins Gespräch bringen. Ist auch eine gute Methode, lärmüberreizte Neuronen schonend umzupolen.    

Wenn schon einmal ein Fensterrahmen gegen die Wand des Schlafzimmers knallt und lautes Getöse den Raum zum Vibrieren bringt, braucht unser Trommelfell eine Pause. Das Trommelfell ist mit dem Zentralen Nervensystem verbunden, deswegen müssen wir äußerst vorsichtig damit umgehen. Am besten gleich einen Hörtest machen. Das hilft zur Verstärkung des Glaubens, dass Lärm bloß eine unangenehme Nebenerscheinung unserer Zeit ist. Dann kann man sich ruhig dem Vogelgesang hingeben – am besten beim Wochenend-Spaziergang in den Park oder auf den benachbarten Berg.

Das Zwitschern im Internet wird auch lauter: Twitter heißt das Webtool unserer Zeit. Zwar ist das einstige Brummen und Rauschen älterer Computer-Modelle längst nicht mehr beim Arbeiten oder Internetsurfen ein Thema, doch müssen wir über unsere Kopfhörer schon so manches Ungeräusch in Kauf nehmen, wenn wir mit einem Freund über Skype reden oder uns ein YouTube-Video oder einen Download anhören.
Musik, ja, Musik ist das beste Rezept gegen Lärmstörungen. Wie schön es doch wäre, wenn wir unsere tägliche Dosis an Musik überall genießen könnten! Denn allerorten sieht man sie – die iPod-Junkies. Da denkt man sich: „Kann das sein? Nie wieder den widerlichen Alltagslärm ertragen müssen, weil sanftes Piano-Klimpern oder berauschende Ambiente-Klänge unsere Ohrmuscheln verwöhnen. Das ist es!“ Gleich einen Brief an den Obersten Gerichtshof schreiben und eine Gratisverteilung von iPods an alle Bewohner der Stadt anfordern. So hätte der Hersteller dann auch gleich eine Riesengratiswerbung für seine digitalen Musik-Player. Man stelle sich vor: Millionen zufriedene Gesichter in den Straßen, alle mitunter von sanfter Musik durch den Tag begleitet. Kein Anbrüllen wegen Anschubsen, keine grimmigen Gesichter in der Warteschlange beim Shoppen, keine üble Nachrede beim Business-Meeting, kein Anschiss vom Chef, wenn die Quote nicht erfüllt ist – was für eine traumhaft-schöne Vorstellung, wenn Lärm zu leichtfüßigem Tänzeln durch die Fußgängerzone wird! Dann könnten wir auch den Lärmschutz vergessen.

Fliehen wir nicht in den Urlaub oder ins erkaufte Paradies wegen den alltäglichen Lärmbelästigungen durch den Nachbar oder nächtlichen Anrufen unserer verflossenen Liebe? Und wenn wir schon im Flieger sitzen – den türkisfarbenen Himmel vor Augen – ist das unerreichte Paradies absoluter Stille schon in Reichweite. Wenn da bloß nicht alle zehn Minuten ein lästiger Sitznachbar nach irgendwelchen sinnlosen Gesprächsfetzen schnappen oder nervtötende Durchsagen aus den Lautsprechern unseren Geduldsfaden überstrapazieren würden! Dann ist’s schon wieder so weit: Die Ohrstöpsel müssen her! Aber wer kann sich noch daran erinnern, wo sie zu Hause eingepackt wurden? Also heißt es: „Improvisation is the mother  of invention“. Papiertaschentücher können in solchen Situationen Wunder vollbringen – anfeuchten, zusammenknüllen …, und schon herrscht wieder Stille im Ohrenhalter.     
Das Lärmschutz und Schutz vor dem Geräusch der Anderen oft miteinander verwechselt werden, obliegt dem Verantwortungsbereich gesunden Menschenverstandes. Doch wo ist dieser zu finden? Kreuz und quer durch die Breitengrade des Kontinentes auf der Suche nach der letzten Portion gesunden Menschenverstandes. Hört sich das nicht eher nach dem Titel einer Seifenoper an? Mensch und Verstand – das ist schon einmal eine heikle Mischung, denn Verstand, also implizite das Denken, Hören und Sprechen sind ein komplizierter Balanceakt auf dem Seil der Kommunikation im alltäglichen Leben. Dass Denken und Hören oder, besser gesagt, Zuhören wirklich auf den Sinnbestand der Tatsachen bezogen sind, ist nun mal Faktum. Ein Grund mitunter, weshalb der größte Prozentsatz an Teenagern und Jugendlichen den längsten Teil ihrer Freizeit in Clubs und Diskotheken verbringt. Über 117 Dezibel werden dann schon mal schnell in Kauf genommen, wenn das alkoholisierte Subjekt eh schon kommunikationsunfähig ist. Denn Sprechen und vor allem Zuhören wird bei so hohen Schallfrequenzen unmöglich. Trommelfell & Co. völlig betäubt, der Begriff „Lärm“ wird im irrationalen (Anti)Denken erstrecht ausgeschaltet. Die Hörgeräte-Hersteller freuen sich, HNO-Ärzte ebenfalls, das Geld klingt und rasselt in den Bankkonten der Gebietskrankenkassen …, aber was wird aus dem Morgengesang des Vogels oder den sanften Klängen der Wellen, wenn sie am Ufer des Meeresstrandes brechen?! Unsere Ohren brauchen Ruhe und Entspannung. In einem Wald oder auf einem Berg etwa sind nur 10 Dezibel Geräuschkulisse linderndes Balsam für unsere Lauscher. Hirn und Herz können entspannen, unser Organismus neue Energie tanken. Denn bei Lärm schüttet der Körper verstärkt die Stresshormone Cortisol und Adrenalin aus. Dadurch werden Blutdruck und Herzfrequenz erhöht, das Blut wird zähflüssig und die Blutfettwerte steigen an. Eine Gefahr für unser Herz. Deswegen braucht unser Gehörsinn eine Abwechslung. Ruhe ist das Lebenselixier per se … für Jung und Alt.

Wer sich schützen will, soll es auch tun! Denn in der Großstadt wird Lärm zur alltäglichen Qual; ob Straßenverkehr, kreischende Kleinkinder oder Handyklingeln in der U-Bahn – er ist überall, durchdringt Mauern und Häuser, bahnt sich den Weg durch alle Spalten und Nischen des Molochs. Und die Menschen machen ungeniert weiter. Keiner hat mehr Zeit zum Hinhören, was der andere sagt. Ist doch eh wurscht! Hauptsache man hört noch den Feueralarm rechtzeitig, sonst brennt das Haus nieder, ohne das wir es hören. Bei dem ständigen Bohren und Hämmern, Stampfen und Knattern kommt man ja gar nicht mehr zur Ruhe. Was bleibt denn einem anderes übrig, als den Weg zum Amt zu tun, um sich seinen rechtlichen Anspruch auf Stille zu holen, und das in siebzehnfacher Ausfertigung vom „Amt für laute Angelegenheiten“. Dann kann man zu Hause auf der Couch liegen, denn man hat ja seine amtliche Bestätigung, dass Ruhe erlaubt ist! Zwanzig Sekunden später beginnt der blinde Labrador der Nachbarin im zweiten Stock heiser zu bellen. Soll ich nun runtergehen, dem Hund die Bestätigung vom „Amt für laute Angelegenheiten“ vor die Schnauze halten und erklären, das Bellen gegen Paragraph 18 des Lärmschutzgesetzes verstößt und mit einer geldlichen Buße gefahndet wird?! Zwecklos! Der müde Blick in Beethovens tränende Augen spricht Bände. Der dunkelbraune Labrador schlendert zurück zu seinem Schlafplatz, und die Sache hat ein Ende. Denn Hunde sind die besseren Menschen, oder war es doch umgekehrt?! Ist das Bellen eines Hundes eigentlich Lärm für das menschliche Ohr? Inwiefern unterscheidet sich das Rauschen eines Baches von dem Surren eines Helikopters für unsere akustische Wahrnehmung? Was ist nun eigentlich Lärm?
Im Duden finden wir folgende Erklärung: „… als störend und unangenehm empfundene laute, durchdringende Geräusche“. Es gibt einen Ort in unserem Hirn, wo jedem Geräusch eine Empfindung zugeordnet wird. Die Geräusche werden quasi als angenehm, oder eben als störend und unangenehm wahrgenommen. Nun lassen sich prinzipiell Naturgeräusche und Musik als durchaus angenehm empfinden. Ruhe ist die Apotheose angenehmer Geräusche, aber sind wir nicht schon durch unser äußeres Umfeld auf Lärm programmiert? Können wir denn noch mit der beinahe befremdend wirkenden absoluten Stille umgehen? Ist unser Hirn nicht schon so stark „sozialisiert“, dass Lärm zur Selbstverständlichkeit geworden ist? Eine traurige Tatsache, die aber bereits – zumindest nach den Erkenntnissen der Lärmwirkungsforschung – Wirklichkeit geworden ist. Dann mutieren wir also zu sensorisch abgestumpften Maschinen, die bloß nach dem Aktion-Reaktion-Prinzip funktionieren und angenehm von unangenehm, gut von böse nicht mehr unterscheiden können? Hirnforscher gehen sogar so weit, zu behaupten, dass wir ohne Lärmeinwirkung im Alltag gar nicht mehr lebensfähig sein können. Zumindest in der Großstadt. Denn in den grünen Weiten der unbesiedelten Landflecken, von denen es wegen fortschreitender Industrialisierung immer weniger gibt, ist das entfernte Bellen eines herumstreunenden Hundes schon das lauteste Geräusch weit und breit. Doch seien wir mal ehrlich: Wer hält es schon auf die Dauer da draußen aus? Im Wald oder auf dem Berg – dort ist der homo oeconomicus doch gar nicht mehr überlebensfähig. Wenn das Akku des Handys leer ist, flippen wir aus, weil ein wichtiges Business-Gespräch verpasst wurde. Der Fernseher quasselt wie selbstverständlich permanent im Hintergrund, SMS-Attacken holen uns aus dem Tiefschlaf raus, der Wecker pocht erstrecht auf unsere Nerven ein.  

Dann bleibt also nur noch der Appell an die Vernunft des Lärm verursachenden Subjektes. Oft über das Bezirksgericht oder die jeweilige Behörde muss Mensch sein Recht auf Ruhe einfordern. Letztendlich sind einige hunderttausend Jahre Evolution ja nicht umsonst gewesen! Obwohl bei genauem Betrachten die wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen werden kann, das vielmehr Neandertaler als Homo sapiens unsere Erde bevölkern. Neandertaler, deren gestörte Kommunikation, sprich Fäuste und Keule schwingen, Brüllen oder Krächzen, Muhen und Grunzen oftmals Soziologen in den Wahnsinn treiben, entpuppen sich beim genauen Hinschauen als Vermieter, Wohnungseigentümer und meinungsbildende Vertreter einer gesellschaftlichen Ordnung, in der bloß Waffe und Keule das Gesetz bestimmen. Wer regt sich da über ein bißchen Lärm noch auf? Wenn schon der Vermieter in der Wohnungstür steht, mit lautem Grunzen und wildem Gestikulieren auf irgendeine Forderung hindeutet, die ohnehin schon längst in den Verantwortungsbereich der Justiz fällt! Ist da noch von menschlicher Kommunikation zu sprechen? Denn im Zoologischen Garten hat ja auch jede Tiergattung ihren (zwar kleinen) Lebensraum. So fällt einem instinktiv der Leitsatz sozialdarwinistischer Großstadtdschungel-Regeln wieder ein: Auffressen, oder aufgefressen werden! Wobei Fressattacken unkontrollierter Art schon an der Tagesordnung sind. Wenn Subjekt – auf der Suche nach geeignetem Verzehr – schon mal auf eine geschlossene Schnellimbiss-Filiale stößt und weit und breit kein essbarer Ersatz herhalten kann, dann nehme man sich in Acht! Denn auch Vermieter und Nachbarn schrecken nicht davon ab, einem die Wohnungstüre einzuschlagen und Ausschau nach warmem Fleisch zu halten. Man halte sich immer eine Friedens-Keule parat, nur für den Fall, dass Subjekt X oder Y Anspruch auf den Verzehr von menschlichem Fleisch erhebt. Es soll schon des Öfteren vorgekommen sein. Man denke da an die großen Hungersnöte im Laufe der Geschichte oder an die nächtlichen Heißhungerattacken des Chefs auf die Oberschenkel seiner übermüdeten Manager-Assistenz. Das kann schon mal glimpflich ausgehen.

Dieser bescheidene Vorschlag soll denjenigen ins Gewissen reden, die ihren Anspruch auf eine Entwicklung zum höheren Wesen, sprich Menschen, längst schon aufgegeben haben. Denn wozu auch Mensch sein, wenn im Großstadtdschungel eh alles erlaubt ist, ganz frei nach dem Motto: „Anything goes!“ Wahrscheinlich ist es dann nur noch eine Frage der Zeit, bis irgendwelche kühnen Geschäftsleute die erste Maschine zum Erzeugen von Lärm bauen, anschließend weltweites Patentrecht anfordern und die Menschheit über effiziente Werbekampagnen zu überzeugen versuchen, dass Lärm genauso gesund wie Joggen und Schlafen ist. Dann ist’s endgültig vorbei mit dem verheißungsvollen Versprechen der Kirche auf ein irdisches Paradies, wo Frieden, Ruhe und Harmonie den Alltag bestimmen …
Ein bescheidener Vorschlag zum Nachdenken also über all jene Möglichkeiten, die ein Dezibel schonender Umgang miteinander eröffnet. Denn es geht auch anders. Warum auch sonst werben die unzähligen Reisebüros mit Fotos von einsamen Inseln im Pazifik, wo Mensch endlich abschalten kann? Wo Lärm noch gar nicht erfunden wurde. Wo Ruhe zur vollkommenen Geräuschkulisse erklärt wird. Ist aber diese Insel nicht etwa ein optischer und irrationaler Trugschluss, eine Kadenz der unerreichten Möglichkeiten? Sind wir etwa aus dem Garten Eden vertrieben worden, weil uns unsere irdischen Wünsche nach Wohlstand und Besitz letztendlich um unseren seelischen Frieden gebracht haben? Ein Frieden, der nur noch auf Papier vorstellbar ist, in Form von gedruckten Scheinen, die in diesem Schein-und-Sein –Wechselspiel tonangebend sind. Wenn dem so wäre, könnte man sich ja die Ruhe zumindest erkaufen, oder? Ein Stück Land irgendwo weit weg, wo Mensch noch Hoffnung auf Verbesserung seiner Lebensumstände hegen kann. Dann und nur dann verwerfen wir solche bescheidenen Vorschläge als viel Lärm(schutz) um nichts. Denn in den Städten tobt das Chaos der ohrenbetäubenden Weltverbesserungsvorschläge, mit denen fortan für eine bessere Welt geworben wird, nicht aber für ein harmonisches lärmschonendes Miteinander. Was bleibt, sind die scheinruhigen Sonntage und Feiertage. Jene Oasen der Ruhe, die wir als letztes Übrigbleibsel einer versinkenden Ratio des Glaubens hinnehmen, auch wenn manchmal erst im hohen Alter des Ruhegenusses Mensch zu seinem Glück findet.
    
Drum sage ich: „Lärm schlagen, liebe Freunde, das Wort nicht im Lärm ersticken lassen!“ So lange Sprache und verbale Kommunikation die wichtigsten Brücken zueinander sind, müssen wir uns auf diese auch wagen können. Denn Zeichen werden immer mehr zu Bedeutungsträgern; Daten- und Informationstransfer bestimmen unsere Wahrnehmung. So kann ein normales Gespräch zu einer Sequenz aus einem Science-Fiction-Film mutieren, auch wenn es beim Arbeitsamt ist:

„Guten Tag, mein Name ist Swift. Was kann ich für Sie tun?“
„Pi 8879 00hf4 // Bicode 546 …!“
„Entschuldigen Sie bitte, können Sie das nochmals wiederholen?“
„Pi 8879 00hf4 // Bicode 546 …!“
„Ähm, Sie sind hier beim Arbeitsamt. Kann ich etwas für Sie tun?“
„Ip 99788 f4h00 // Bicode 899 …“
„Tja, ich befürchte, wir können nichts für Sie tun! Wenn Sie Arbeit suchen, dann ziehen Sie bitte eine Nummer und warten Sie dort drüben. Sie werden aufgerufen.“
„Cyx 665§§ --- //Bip … CCC 989898!“
„Ihnen auch einen schönen Tag noch!“


So wird Sprache zur Zeichenkombination. Kleine Symbole, die keine Bedeutung übertragen, sondern für gewisse Kurzinformationen stehen. Abstrakte Partikeln, die keinen Sinn vermitteln. So wie Lärm – undefinierte Geräusche, die nicht mehr von unserem Hirn zugeordnet werden können. Höchste Zeit für eine Ohr-Schon-Therapie. Denn im Inneren unseres Ich können wir auf wahre Quellen der Läuterung und Harmonie stoßen. Man staune über die Gelassenheit eines buddhistischen Mönches beim morgendlichen Spaziergang in der Natur. Man staune über seine innere Ruhe. Wie er lebenswichtige Entscheidungen des Intellekts aus mehreren Atemzügen heraus trifft, ohne dabei den chaotischen Tumult der Außenwelt auf sich einwirken zu lassen. Man staune über die Stille des alles umfassenden Naturgeistes, wie er die menschliche Seele aufnimmt. Es bleibt auch immer eine Entscheidung des individuellen Mutes und der geistigen Disziplin. Wenn dabei kleine Hintergrundgeräusche, wie das Flattern eines Vogels, das Zirben der Grillen oder Rauschen eines Baches unser Ich ansprechen, den Ursprung der Seele erreichen, dann verändern wir unser eigenes Bewußtsein hin zu Schönheit, Schlichtheit, Stille und Harmonie.

Die grünen Städte der Zukunft werden Wirklichkeit. Dort, wo natürliche Geräusche das Alltagsbewußtsein und dessen soziale Ausrichtung bestimmen, kann Mensch sich auch in seinen Fähigkeiten ausbreiten und zu neuen Formen von Leben finden. Dort wo Natur, Mensch und Maschine eine Ebene der Balance erreichen, kann Lärm keine Berechtigung mehr finden. Lärmminderung durch Grünanlagen ist auch eine effiziente Möglichkeit, sowohl akustisch als auch optisch für Ausgleich zu sorgen. Baumreihen, Hecken, Sträucher, ganze Parks ziehen sich wie ein grüner Mantel durch das Stadtbild und kaschieren die riesigen Industriegebiete, Autobahnen und Supermärkte. So wird der Viburnum rhytidophyllum zum Helden unserer Zukunft. Man pflanze ihn, und schon sind wir unserem Traum von einem irdischen Paradies näher. Seine Blätter hängen an dünnen Ästen nach unten, ähnlich einer Birke. Durch dieses Herabhängen der Äste bekommt der Baum eine sehr große Fläche, die die Schallwellen abfängt und eine Ausbreitung des Lärms verhindert. Außerdem ist dies ein immergrüner Baum, was mit der breiten Krone zusammen einen wesentlichen Vorteil gegenüber anderen Bäumen ergibt. Der Haupteffekt von Bewuchs entlang von Verkehrswegen und lärmintensiven Industrie- und Gewerbeanlagen liegt eher im psychologischen Bereich, da Lärm, der nicht „gesehen“ wird, als weniger stark und belästigend empfunden wird, als bei einer optisch nicht abgeschirmten Lärmquelle.

Ob nun viel Lärm(schutz) um nichts gemacht wird, oder nicht, jeder ist davon betroffen. Statistisch gesehen, empfinden 60 % der Menschen Lärm, besonders Verkehrslärm, als Qual, die Wohn- und Lebensqualität beträchtlich einschränkt. Viele Initiativen wurden vor allem durch die Bemühungen der Grünen unternommen, den Wünschen und Bedürfnissen Betroffener entgegenzukommen, doch obliegt es jedem und jeder, dazu beizutragen, dass Lärm reduziert wird. Man denke an die Millionen Fahrzeuge, die täglich von A nach B brummen und qualmen! Man denke an die unzähligen Flugzeuge, die mit 150 Dezibel zum Himmel fliegen! Man denke an die gigantischen Industrieanlagen, deren Motorwerke unablässig raunen und qualmen! Und dabei sind wir die einzigen Lärmproduzenten – die „genialen“ Hirne, die hinter den Computern sitzen und Millionen von Maschinen bedienen. Auch wenn Mancher glaubt, dass parlamentarische Dekrete zu unserem Schutz bestimmt sind, sollte genauer hingeschaut werden. Sind wir Menschen wirklich von diesen Gesetzen geschützt – wie zum Beispiel das Lärmschutzgesetz – stehen unsere Bedürfnisse wirklich an erster Stelle? Es handelt sich doch dabei prioritär um einen Grundanspruch, um ein Grundrecht eines jeden Einzelnen. Deswegen gibt es ja (zumindest theoretisch) auch die öffentlichen Ruhezeiten in privaten und öffentlichen Lebensräumen. Wie war das noch mal? Montag bis Freitag von 06:00 – 07:00 Uhr und 12:00 bis 13:30 Uhr. Dann am Abend zwischen 20:00 und 22:00 Uhr und samstags von 06:00 – 07:00 Uhr, 12:00 bis 13:00 Uhr und 18:00 bis 22:00 Uhr. So besagen es unzählige Richtlinien und Paragraphe, doch wer hält diese auch wirklich ein? Man braucht sich bloß die Berichterstattungen der Polizeikommissariate über Anzeigen wegen Lärmbelästigungen anschauen: dröhnende Technobeats um 04:00 Uhr morgens in der WG, wochenlanges Hämmern und Bohren im Stiegenhaus, bellende, zischende und knurrende Haustiere, zuknallende Türen  etc. etc. etc.

In conclusio darf festgehalten werden, dass weder Rechtschutzbestimmungen noch irgendwelche Paragraphen uns wirklich vor der Belästigung durch Lärm schützen können. Es ist immer unsere eigene Entscheidung, wie viel Lärm wir erzeugen – direkt oder indirekt. Denn nur im Konsens findet sich ein allgemein zufrieden zu stellendes Modell zur Bewahrung der öffentlichen Ruhe. Wir sehnen uns doch alle nach Harmonie und Ruhe, vor allem in solch hektischen Zeiten, wenn die Welt mit rasender Schnelle ihre Bahnen zieht. Im Weltall spielt Lärm dann keine Rolle mehr. Dort ist die akustische Wahrnehmung ohnehin ganz anders. Vielleicht sogar ein letzter Zufluchtsort, wenn’s hier unten zu laut wird! Inzwischen werden auch die ersten Mond-Hotels ihre Tore öffnen, intergalaktische Eiscreme in Pink und gravitationslose Roller-Blades für jedermann. Im Schwebezustand den Widrigkeiten des Blauen Planeten trotzen und seine eigenen Bahnen ziehen. Ob laut oder leise spielt da auch keine Rolle mehr, weil der Bluthochdruck ohnehin früher oder später unsere Ohren zum Dröhnen bringt. Ersticken bei 0 Bar Luftdruck? Nein, danke! Dann lieber am Boden der Tatsachen bleiben und der Realität ins Auge sehen, oder, besser gesagt, ins Ohr hören.

Und wenn sich schon der große Beethoven von seinem Gehör verabschiedet hat, und trotzdem noch einmalige Stücke komponieren konnte, dann werden wir es auch noch schaffen, unsere Lauscher bei Laune zu halten. Das benachbarte Vögelchen hat inzwischen auch schon sein Tirilieren im Baum fortgesetzt, die Ohrstöpsel und die Kopfhörer liegen einsatzbereit auf dem Nachtschrank. Kein Stress, einfach zurücklehnen und den geheimnisvollen Tiefen der Musik lauschen …, bis der süße Schlaf uns in seinen Bann zieht und ohnehin Lärm oder Ruhe im unendlichen Ozean unseres Unterbewußtsein untergehen. Dort gibt es vielleicht jenen Ort, an den uns himmlische Ruhe aus dem höllischen Lärm entführt und Cherubins dann leichtfüßig über den Wolken tänzeln.

Absolute Stille – welch' unerreichtes Paradies!


    

Tilman Otto Wagner
Wien, April 2010

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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