Vor langer, langer Zeit wanderte ein Mann über die weite, schneebedeckte Ebene. Er zog auf seinem Schlitten einen Sack hinter sich her. Nichts war zu erkennen auf der weißen Fläche. Nur in der Ferne erhoben sich blau hohe Eisberge.
Der Mann stapfte unbeirrt in gleichmäßigen Schritten über den Schnee. Er schien nicht müde zu werden, obwohl die Spur, die er hinter sich zurückließ, schon aus endloser Weite kam. Ab und zu murmelte der Mann etwas vor sich hin. Es klang, als ob er sich bei jemandem beklagte.
Da war aber niemand.
„Jetzt ist es nicht mehr weit“, rief der Mann plötzlich aus, als er von weither Hundegebell hörte, „ich glaube, ich bin bald am Ziel!“
Und richtig, etwas Gewölbtes ragte aus der Ebene. Es war nicht hoch, warf aber einen Schatten, der größer wurde, je näher der Mann kam. Schließlich stand er vor einem rundlichen Gebilde aus Schneeblöcken. Nicht weit davon entfernt gab es eine Vertiefung, aus der es unmerklich dampfte.
Der Mann setzte sich auf seinen Schlitten neben den Sack und wartete.
Aus dem Schneegebilde drangen undeutlich Laute, die wie verschwommene Stimmen klangen.
Lebten hierin Menschen? Wie kamen sie dort hinein?
Der Mann schlug seine Kapuze herunter und kratze sich am Kopf. Was sollte er tun? Die feste Gewissheit, die ihn bis hierher geleitet hatte, verflog.
War dies wirklich der Ort, an den er kommen sollte?
Er brauchte nicht lange zu zweifeln. Ein Kopf zeigte sich in der Vertiefung, dann eine Schulter. Ein Mann kroch aus der Öffnung in kunstvoll zusammengesetzter Pelzkleidung und schaute zweifelnd, aber nicht unfreundlich auf den Fremden.
Der Mann auf dem Schlitten verbeugte sich ein wenig, stand auf und ging auf den anderen zu. Beide Männer lächelten sich an.
„Ich bin Knecht Ruprecht“ sagte der Mann und öffnete seinen Sack. „Der Weihnachtsmann schickt mich in diese Schneewüste, ich soll allen Bewohnern Geschenke bringen“, erklärte er.
Der Mann im Pelz lachte, er schien nichts zu verstehen. Er sagte seinerseits ein paar Worte, die verstand Knecht Ruprecht wiederum nicht. Eine solche Sprache vom Ende der Welt war ihm nicht vertraut.
Was nun? Er nahm auf gut Glück ein Geschenk aus dem Sack und drückte es dem verdutzten Bewohner des Schneehauses in die Hand. Der stieß einen Schrei aus. Daraufhin bewegte sich wieder etwas im Eingang. Ein Kind kam herausgekrochen. Es war ebenfalls in Pelze gekleidet. Ob es ein Junge oder ein Mädchen war, war nicht auszumachen.
Das Kind trat ohne Scheu auf Knecht Ruprecht zu und streckte seine rechte Hand aus.
„Rubecht“, sagte es leise, „Deschenk!“
„Nanu“, wunderte sich Knecht Ruprecht, „woher weißt du, dass ich Geschenke bringe?“
„Mama…Buch“, grinste das Kind und hielt Knecht Ruprecht weiter seine ausgestreckte Hand unter die Nase. Der griff abermals in seinen Sack, wühlte einige Zeit in den Geschenken und zog dann eine längliche flache Schachtel heraus.
„Hier, mein Kleines“, murmelte er, „hoffentlich ist es das Richtige für dich.“
Das Kind machte nicht lange Federlesens und riss das Päckchen auf. Ein seltsamer Gegenstand kam zum Vorschein. Er sah aus wie die Hälfte einer runden Metallscheibe und war mit einem rechteckigen Stück Holz an der graden Kante versehen. Er schien sehr scharf zu sein.
„Ulu, Ulu“, jubelte das Kind. Sein Vater freute sich sichtlich. Er hielt dem Kind einen Lederstreifen hin. Das Kind schnitt den Lederstreifen mit der gebogenen Seite des ‚Ulu‘ glatt durch.
Knecht Ruprecht staunte:ein Messer?
Nun packte der Vater sein Päckchen aus. Zwei Harpunenspitzen kamen zum Vorschein. Solche Spitzen kannte Knecht Ruprecht.
Das Kind trat noch einmal auf ihn zu, forderte energisch:„Mama, Mama“ und hielt seine Hand auf. In die legte Knecht Ruprecht ein drittes Geschenk. Das Kind verschwand sofort im Eingang. Die beiden Männer standen sich gegenüber und wussten nicht, was zu tun war.
Schließlich deutete der Vater des Kindes mit der Hand zum Eingang in das Schneehaus und sagte etwas.
„Iglu“ war das einzige Wort, das Knecht Ruprecht verstand. Er schüttelte höflich den Kopf, deutete auf den Sack auf dem Schlitten und zeigte in die Runde. Er machte ein paar Schritte und blieb dann stehen. Der Mann im Pelz verstand, dass der Fremde weiter musste. Er hob seine Hand und deutete in eine bestimmte Richtung.
Knecht Ruprecht setzte sich dorthin in Bewegung. Mit stetigen Schritten stapfte er durch den Schnee und pfiff
ein Lied. Jetzt hatte er Gewissheit, seine Reise hatte ein Ziel und einen Sinn: Der Weihnachtsmann hatte an alle, selbst an diejenigen gedacht, die in dieser Einsamkeit am Ende der Welt wohnten.
(c) I. Beddies
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2011.
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