Lisa Moser

Schwere Entscheidung


In einem roten Sessel sitzt ein alter Mann und lauscht den monotonen Geräuschen der Uhr - tick, tack, tick, tack...
Er überlegt schon lange, ob es wirklich das Richtige ist, was er vorhat. Soll er es tun? Alles hinter sich lassen? Drei Jahrzehnte? Soll er all das einfach so aufgeben?
Sein Blick schweift auf das Sofa, das ihm gegenüber steht. Nichts hat er daran geändert, seit sie gegangen ist. Nicht einmal die darauf liegenden Kissen hat er aufgeschüttelt.
Mit einem Lächeln denkt er daran zurück, wie es war, als seine Maria auf dem Sofa saß und strickte und er seine Zeitungen las. Im Kamin loderte das Feuer, und im Hintergrund ertönte Klassikmusik.
Meistens hörten sie Mozart, und Marias Lieblingsstück war "Lacrimosa".
Soll er es heute ein letztes Mal spielen? Für sie, sozusagen als endgültigen Abschied?
Er steht auf, geht langsam zum Radio und schaltet es ein. Sofort ertönt Musik. Als er sich umdreht und wieder zum Sofa blickt, kommen ihm die Tränen. Er will sie nicht mehr unterdrücken, nicht mehr stark sein müssen wie bei der Beerdigung.
Mit schleichenden Schritten geht er in das Schlafzimmer und holt seinen Koffer. Dabei streift sein Blick das große Bild, das über dem gemeinsamen Ehebett hängt. Das Hochzeitsfoto.
"Ach, Maria! Wie jung wir damals doch waren! Was würde ich dafür geben, dich nur noch ein einziges Mal zu sehen!", seufzt er.
Tief atmet er ein und wieder aus.
Mit zitternder Hand nimmt er seinen Koffer und geht damit, der Musik lauschend, zur Haustür. Nachdem er diesen abgestellt hat, geht er wieder in die Küche zurück.
"Hier ist es passiert. Hier bist du gegangen", sagt er zu sich selbst.
Er nimmt sich ein Glas Wasser, aber durch sein starkes Zittern lässt er es fallen. Schnell sucht er nach einem Geschirrtuch und einem Besen.
"Maria hasst Unordnung! Wenn sie diesen Saustall auch nur sieht, würde sie sich an den Kopf fassen", denkt er. "Moment! Maria kann sich gar nicht mehr aufregen. Sie ist ja nicht mehr..."
Heftig schüttelt er den Kopf. Immer wieder, egal in welcher Situation, stellt er sich ihre Reaktion vor, stellt er sich vor, sie würde gleich vorbeischauen und fragen, was den passiert sei. Jedes Mal vergisst er, dass sie nie wieder etwas sagen wird, dass sie ihn nie wieder ansehen wird.
Doch von ihr als Tote zu denken, trifft ihn immer wie ein Schlag.
Er lässt die Scherben liegen. Sollen sich doch die nächsten Mieter darum kümmern.
Wieder geht er bis zur Haustür.
Er lehnt sich an die weiße Wand und starrt seinen Koffer an.
Er lauscht der dumpfen Musik aus dem Nebenzimmer. Ein Klavierstück.
Maria spielte auch Klavier. Flink und elegant "flogen" ihre Hände über die Tasten.
Als er sie das letzte Mal, als sie noch lebte, sah, spielte sie auch. Er tätschelte ihr die Schulter und verabschiedete sich. Sein Freund hatte ihn zum Kartenspielen eigeladen. Wäre er nur nicht hingegangen! Hätte er abgesagt, dann hätte er Marias wundervoller Musik lauschen können. Er hätte sie retten können, er sollte sie doch beschützen!
Zwei Stunden war er bei seinem Freund gewesen, nicht ahnend, dass Maria währenddessen in der Küche einen Herzanfall erlitten hatte. Wäre er bei ihr gewesen, dann hätte er den Notarzt verständigen können. Vielleicht hätte sie dann noch gelebt, und dieses "Vielleicht" quält ihn.
Immer wieder kreisen diese Gedanken durch seinen Kopf. Er gibt sich selbst die Schuld für ihren Tod.
Wenn er heute geht, würden dann seine Schuldgefühle verschwinden? Kann er seine Erinnerungen wegsperren, wenn er beim Gehen die Haustür schließt? Kann er die Bilder, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben, wie Maria bleich und reglos am Boden liegt, einfach ausradieren, so wie sie es immer mit den Sudokuzahlen gemacht hatte, wenn diese nicht stimmten? Kann er wirklich all das vergessen? Oder soll er hier bleiben, um so die glücklichen Erinnerungen stärker zu durchleben?
Fragen über Fragen, und er kommt einfach nicht auf eine Antwort.
Noch einmal geht er in das Wohnzimmer und setzt sich in seinen roten Sesel.
Die Musik ist verstummt.
Er vernimmt wieder das monotone Ticken der Uhr und wartet darauf, dass ihm diese schwere Entscheidung abgenommen wird.
Tick, tack, tick, tack...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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