Hella Schümann

Mal danke sagen

Mit diesem Brief  möchte ich mich bei allen bedanken, die mich ein Stück auf meinem Weg nach oben begleitet, aufgefangen und gehalten haben. Ja, mein Leben war eine einzige Katastrophe von Missbrauch (Jugendliche); ich wusste erst im Erwachsenenalter, dass man das so nennt. Dazu kam Misshandlung und Missachtung, also das ganze Programm, was man einem Baby, Jugendlichen und Erwachsenen bis zum Alter von fast 60 Jahren antun kann. Ich versuchte mich zu wehren, immer, aber ich wusste nicht wogegen und wie.
So entwickelte ich eine Überlebensstrategie: Es gab Menschen die ich liebte, wenigstens von weitem, von denen ich träumte und das hielt mich. Ich versuchte zu singen, denn ich hatte eine schöne Stimme, doch meine Eltern verleideten mir das. Ich konnte gut malen, das vermiesten mir die Lehrer, ich hatte viele Fragen, doch sie hielten mich deshalb für dumm, weil sie oft keine Antworten wussten. Ich begrub meine Talente, weil es niemanden interessierte. Meine Geschichten und Gedichte legte ich in die unterste Schublade. Alles ruhte viele Jahre, ja Jahrzehnte.
Dann kam der Lebensabschnitt, wo ich mich von meinem Mann trennte (nach 12 Jahren), ich ging einfach und ich trennte mich von dem zweiten und auch vom dritten Mann. Ich fing an zu merken, dass die Beziehungen mich auslöschten. Plötzlich hatte ich Raum für mich  und alle verschlossenen Räume in mir öffneten sich. Es gab immer wieder Rückschläge, aber durch mehrere Therapien konnte ich sie glätten. Manchmal türmten sich die schlechten Begebenheiten, sodass ich nicht mehr aus dem Wust herausfand, dafür war dann der/die Therapeut/in hilfreich. Als ich zusammenbrach und in die Psychiatrie kam, musste ich Tabletten nehmen. Trotz meiner Ansicht, dass die meisten Menschen zu schnell mit Tabletten voll gestopft werden, nahm ich brav meine Dosierung. Allerdings habe ich ja Internet und dort fand ich manch hilfreiche Hinweise, unter anderem, was die Tabletten bewirken und wie lange man sie nehmen sollte, nämlich 1 ½ Jahre. Ich setzte also dann die Tabletten ab und es ging mir gut.
Aber das Leben ist nicht so einfach, gerade als ich dachte, jetzt ist alles überstanden und ich konnte mit der Depression umgehen d.h. ich setzte mich nicht mehr in den weichen Sessel der  Depression, sondern ich fand schnell die Ursache der Traurigkeit. Endlich verstand ich, was mit mir passierte, ich sah glasklar was meine Familie mit mir gemacht hatte und was der klägliche Rest (meine Schwester und meine Tochter)noch immer tat, sie missachteten mich und behandelten mich wie Luft. Wieder versuchte ich mich zu wehren, erst im Gespräch und als ich merkte, sie verstehen nichts, schrieb ich einen netten Brief, voller Erklärungen und ohne Schuldzuweisung. Es war vergeblich und so tat ich das, was für mich am besten war, ich warf alles Schlechte aus meinem Leben und es fühlte sich gut an.
Wenn man jetzt denkt, es geht mir nun gut, dann war das nicht das Ende. Seelisch ging es mir gut, aber jetzt spielte mein Körper verrückt. innerhalb eines halben Jahres überfielen mich allerhand Wehwehchen, erst waren es Schmerzen rings um den Unterkörper, dann eine Allergie, so was hatte ich noch nie, Zahnschmerzen, die Migräne, die Jahre lang verschwunden war meldete sich wieder, mein Fuß schmerzte usw. Ununterbrochen zeigte mir mein Körper, dass ich nicht so einfach davonkomme. Als ich endlich verstand, dass alles nur psychisch war, sagte ich beim nächsten Zipperlein: „Hör auf, das ist nur die Seele.“  Und es hörte auf.
Nun kam die große Wende. Als ich schon dachte, ich hätte keine Familie mehr, stand plötzlich nach mehr als 30 Jahren mein Lieblingscousin samt Frau vor der Tür und der Mann meiner Patentante aus Hamburg meldet sich bei mir, wenn er in der Gegend ist und wir besuchen Museen. Inzwischen brauche ich auch keine Familie mehr.
Ich habe viele nette Bekannte und zwei Freundinnen Und was die Liebe der Männer betrifft, die ich nie hatte, da hat sich vieles verändert. Meine große Liebe R. ist zu einer gegenseitigen platonischen Liebe geworden, wir schreiben uns ab und zu. Dann gibt es noch den Fotokumpel J. mit dem gehe ich auf Fototour oder wenn ich eine Begleitung möchte ist er zur Stelle. Äußerlich habe ich mich auch verändert, meine Haare sind jetzt natürlich weiß und alle sagen, es sieht toll aus. Mein Selbstbewusstsein liegt auf einem guten Level, meine Augen strahlen auch bei trübem Wetter und ich bin gefragt mit meiner Kunst. Es gibt Ausstellungen und Lesungen und jeden Weihnachten singe ich im Rathaus. Ab und zu gibt es einen Mann, der mit mir Kaffee trinken möchte, das sind Suchende. Ich gehe dann auch mit, aber  ich möchte keinen Mann mehr an meiner Seite und dann hat sich das mit dem einmaligen Treffen auch erledigt.
Ich genieße das Alleinsein, die absolute Freiheit und ich gönne mir einiges, z.B. mich hinzulegen, wenn ich müde bin auch wenn es 15 Uhr ist oder ich gehe essen, ich mache mir Geschenke und fahre mal weg, entweder einen Tag an die See oder dieses Jahr 3 Tage über Weihnachten nach Rügen zum Fotografieren. Mein Leben ist rund herum schön. Wenn ich ein paar Tage nicht zu sehen bin, ruft mich meine Nachbarin an, ob alles in Ordnung ist und ich mache das bei ihr.
Nun begegnet mir Achtung, Bewunderung und Fürsorge und sie bekommen auch etwas von mir zurück, wer mit mir zusammen ist hat immer etwas zu lachen, denn auch mein Humor hat überlebt, er war immer da, je schlechter es mir ging, desto lustiger waren meine Aussprüche.
Dies alles haben wir zusammen geschafft, meine Therapeuten und ich  und da ich ganz sicher bin, dass ich keine Therapie mehr brauche, habe ich diesen Brief geschrieben.
 

Vielleicht kann ich mit diesem Brief einen Anstoß geben,für die, die aufgeben wollen, die die Kraft verlassen hat. Hella Schümann, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hella Schümann).
Der Beitrag wurde von Hella Schümann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Hella Schümann

  Hella Schümann als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Schreiben um zu leben von Johannes-Philipp Langgutt



In seinem Erstlingswerk „Schreiben um zu leben“ verarbeitet der junge Autor Johannes-Philipp Langgutt die Suche nach dem Sinn des Lebens, in sich Selbst, in der Welt. In Kurzgeschichten verpackt behandelt er Sinnfragen. Oft raucht dem Jungautor schon der Kopf „Doch ist das Weilen die Suche wer, wenn das Gesuchte womöglich nicht, um nicht zu sagen nie existierte!“, beschreibt der Sinnsucher seine unermüdlichen Anstrengungen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Autobiografisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hella Schümann

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Usedom, meine letzte Reise von Hella Schümann (Reiseberichte)
Sommer in den Städten von Norbert Wittke (Autobiografisches)
Mein Großvater von Viola Otto (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen