Marcel Hartlage

Der Tote

 

»Man munkelt, er käme immer zur späten Stunde, weit nach Mitternacht.«
»Und was macht er dann?«
»Was er dann macht?« Rusty beugte sich nach vorne, weit vor das Gesicht seiner Schwester, der kleinen Naomi. »Er erschreckt dich zu Tode.«
Naomi sah ihren fast zehn Jahre älteren Bruder ungläubig an. Mit ihren neun Jahren war sie schon sehr schlau und glaubte eigentlich nicht mehr an Geistergeschichten. Aber ihr Bruder konnte gut Geschichten erzählen. Und sie glaubte, es machte ihm Spaß, ihr Angst einzujagen.
Auf jeden Fall funktionierte es.
»Was macht er denn, damit er mich bis zum Tode erschreckt?«
»Das ist ganz unterschiedlich.«, sagte Rusty. »Der Tote kommt, wenn du abends viel zu lange wach bist, ja bist du weit in die Nacht hinein noch kein Auge zu getan hast! Dann erhebt er sich von dort, wo noch kein Lebender zuvor gewesen ist, und kommt auf dein Haus zu. Nebel steigt auf und taucht die Finsternis der Nacht in eine blicklose, leere Welt, in der du nur schwach die Konturen alter toter Bäume sehen kannst. In der die Scheinwerfer fahrender Autos drüben auf der Straße wie die geisterhafte Erscheinung eines Orbs aussehen. Und während die Nacht zum Reich des Toten wird, bist du allein in deinem Haus, in dem noch das Licht scheint, weil du im Dunkeln alleine Angst hast.«
»Ich hab keine Angst im Dunkeln!«
»Nicht, wenn der Tote kommt. Dann hat jeder Angst im Dunkeln.«
Rusty sah seine Schwester an. Als sie laut schluckte, fuhr er fort.
»Wenn du nach draußen siehst, wirst du erstmals nichts als den endlosen Nebel und die weit entfernten Zweige der vielen Bäume vom Wald sehen, die durch den Nebel wie die Formen knochiger Finger aussehen. Aber dann wirst du nervös. Du fühlst dich beobachtet. Du schaust immer wieder nach draußen. Immer wieder schweift dein Blick ab vom Fernseher und schaut aus dem Fenster in die Nacht hinein. Bis er schließlich –«
Naomi sah Rusty an. Wartete. Ihre Augen waren weit geöffnet, von Spannung erfüllt.
»Bis er schließlich was, Rusty? Sag es mir!«
Rusty sah seine Schwester an, ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen.
»Bis er was macht?«
»DICH ZU TODE ERSCHRECKT!«, schrie plötzlich ihr Vater Naomi ins Ohr.
Rusty lachte auf, sein Vater beugte sich schnell zurück um den wilden Schlägen seiner kreischenden Tochter zu entkommen. In ihrem Gesicht stand nur noch Panik und der Schrecken selbst.
»Ich kann nicht mehr«, lachte Rusty und hielt sich die Hände vor den Bauch.
»Das war nicht witzig!«, schrie Naomi. »Ihr habt mich – «
»Voll erschreckt?«, grinste ihr Vater.
Naomi verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hör mal Schätzchen«, sagte ihr Vater und kniete sich zu ihr hinunter. »Wir wollen nur nicht, dass du und dein Bruder zu lange wach seid, während Mama und ich weg sind. Du weißt dass das nicht gut für dich ist.«
»Aber wir haben doch Ferien!«
»Das weiß ich doch und die sind ja auch noch nicht vorbei.« Der Vater strich Naomi über die Schulter, dann richtete er sich auf und sah Rusty an. »Sorg dafür, dass sie spätestens um zwölf im Bett ist.«
»Wird gemacht.«
»Das ist überhaupt nicht witzig gewesen«, jaulte Naomi. »Ihr seid gemein.«
»Haben Väter so an sich«, sagte der Vater und grinste.
»Schatz?«, rief die Mutter vom Flur ins Wohnzimmer. »Wir müssen los! Die Vorstellung – «
Der Vater blickte erschrocken auf seine Armbanduhr. »Ach du Scheiße! Ich komme!« Er eilte aus dem Raum, blieb aber noch kurz unter dem Türrahmen stehen. »Benimmt euch, macht keinen Blödsinn! Im Ofen ist noch der Rest vom Essen, falls ihr Hunger habt.«
»Schatz?«
»Ich komme, Liebes! Seit artig, ihr Zwei.«
»Sind wir«, sagten Rusty und seine Schwester im Chor.
Ihr Vater lächelte sie an und ging schließlich mit der Mutter aus dem Haus in die Nacht hinein. Rusty und Naomi saßen am Fenster, sahen das Auto vom Weg fahren und blickten schließlich nur noch den roten Leuchten an der Heckstoßstange des alten Fords entgegen, bis auch dieser in der Dunkelheit und dem leicht aufsteigenden Nebel verschwand.
Alles war ruhig.
»Sein Gesicht erscheint am Fenster – «, flüsterte Rusty
»Halt die Klappe!«, schrie seine Schwester und verschwand ganz schnell aus dem Raum, rauf in ihr Zimmer und dort somit sicher vor den Geschichten ihres Bruders.
Rusty lachte auf, drehte sich weg von der Nacht und machte den Fernseher an.
Es war zehn nach elf.
 
Nach zehn Minuten war er eingenickt. Als er seine Augen langsam öffnete, sah er Will Smith in I am Legend zusammen mit seinem Hund durch die leeren, zu gewucherten Straßen New Yorks streifen. Rusty schaute auf die Uhr. Es war viertel vor zwölf.
Bring die Kleine langsam ins Bett, sagte er sich und scheuerte sich die Augen. Verdammt, war er plötzlich müde! Für gewöhnlich brauchte er nur sehr wenig Schlaf (Als er noch zur Schule ging ist er immer bis ein Uhr wach geblieben und um fünf wieder aufgestanden, damit er den Bus erwischen konnte) und normalerweise nickte er auch nicht vor dem Fernseher ein. Das erinnerte Rusty immer an einen armen, verkommenen Typen der womöglich an der Flasche hing und nichts anderes an seinem Tage zu tun hatte als zu saufen, seine Frau zu verprügeln und sich dann wieder Abends vor dem Fernseher zu besaufen.
Nein, so war Rusty nicht.
Rusty war eigentlich recht schlau. Er war kreativ.
Hatte gute Noten in der Schule gehabt.
Erzählte gerne Geschichten.
Naomi, erinnerte ihn sein Verstand.
Gähnend streckte er sich entlang des langen, geschmeidigen Sofas, ehe er sich erhob und auf den Flur zusteuerte. Zeitgleich betrat Will Smith im Fernsehen den dunklen Raum mit den Monstern.
Rusty ging die Treppe nach oben und überlegte sich, was er für den Rest des Abends machen sollte. Seine Eltern waren nicht da. Er hatte größere Entscheidungsfreiheit, konnte seit langem Mal wieder Dinge tun, die er eigentlich nicht tuen sollte (Auch wenn ihm im ersten Moment nicht so richtig einfiel, was das für Dinge waren, aber bei Gott, er war spät in die Pubertät eingetreten).
Als er dann den Flur oben betrat, stand seine Zimmertür offen.
Wie angewurzelt blieb er stehen.
Normalerweise war seine Zimmertür immer abgeschlossen, und soweit er sich daran erinnern konnte, hatten seine Eltern es nie in Erwägung gezogen (vielleicht aus pädagogischen Gründen, die sie erlernt hatten, als sie diesen Kurs besucht hatten), einfach so hereinzuplatzen. In seiner Familie wurde Privatsphäre groß geschrieben, und umso mehr ließ ihn diese offene Tür mit Blick auf seinen zugemüllten Holzschreibtisch, dem Laptop mit der Abgebrochenen Leertaste und dem Fenster mit herunter gelassenen Jalousien, ziemlich erstaunt dastehen.
Naomi …
Wut kroch so langsam seinen Körper empor, als würde man ihn durch einen dünnen Leitungshahn damit auffüllen. Er hasste diese Seite seiner Schwester; dieses rebellische, kindische Verhalten, die Absicht, ihrem Bruder eins auszuwischen, sollte er auch nur einmal unaufmerksam sein.
Geschwisterliebe, ach, wie schön,fuhr es Rusty in jenem Augenblick durch den Kopf, als er dort auf dem Flur mit Blick auf seine offene Zimmertür stand und es langsam aber sicher auf Mitternacht zuging.
Er schritt auf sein Zimmer zu.
Was seine kleine Schwester wohl damit beabsichtigte? Es war nicht eines dieser typischen Klischees, wie es so häufig in Nachmittagssendungen und Familientragödien der Fall war, sondern das einfach zu begreifende Verhalten Naomis. Er führte auch kein Tagebuch oder so was und zu verbergen hatte er auch nichts.
Als er vor der Tür inne hielt, spähte er durch den offenen Spalt in sein Zimmer.
Drinnen brannte das Licht der niedrig hängenden Deckenlampe und spendete dem kleinen Zimmer warmes, oranges Licht, tauchte es mitsamt der schlichten Wandtapeten, welche ebenfalls Orange waren, in ein gemütliches Räumchen, das für Rustys Verhältnisse vollkommen ausreichte. Es wirkte ein wenig eng, aber es reichte.
Schließlich öffnete er die Zimmertür  und betrat seinen geheiligten Raum, auf dem er schon über zehn Jahre Anspruch besaß (Vorher war es das Arbeitszimmer seines Vaters gewesen).
Im Zimmer fand er niemanden.
Plötzlich ertönte hinter seinem Kopf ein lauter Knall.
Irgendwie erschrocken und aus den verständlichen Gründen des Menschenverstandes heraus, sprang Rusty geradewegs in sein Zimmer und versuchte sich dabei zu drehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Dies ging kläglich schief, als er nur eine halbe Drehung in der Luft schaffte und mit der Schulter gegen die Kante des Schreibtisches knallte.
Schmerz durchzuckte ihn, dann hörte er Gelächter.
Dieses rebellische, kindische Gelächter.
»Naomi!«
Doch seine Schwester war zu sehr mit Lachen beschäftigt. In der Rechten hielt sie ein dickes Buch, womöglich eines, was sie noch nie gelesen hatte (Dafür sah es zu alt und zu dick aus).
»Sehr komisch.«, sagte Rusty und stand schwankend wieder auf, rieb sich dabei seine Schulter. »Das hat ganz schön wehgetan.«
»Man«, lachte Naomi. »Oh Man, wie du gesprungen bist!«
Rusty sagte nichts.
»Ich wusste doch, dass dich deine offene Zimmertür verwirrt! Ich hab’s dir gezeigt, was?«
»Und wozu das Ganze?«
»Dafür, dass du mich vorhin so sehr erschreckt hast.«
»Das war dein Vater!«
»Aber du hast mitgemacht! Und gelacht!«
Für eine Weile sagte Rusty nichts und rieb sich einfach nur an seiner schmerzenden Schulter. Seine Schwester sah ihn erwartungsvoll an.
»Na schön« Er breitete die Hände aus. »Du hast mich erschreckt, und ich hab es verdient. Zufrieden?«
Naomi grinste.
»Und jetzt zieh dich um und putz dir die Zähne«, sagte Rusty. »Du sollst gleich im Bett sein.«
Naomis Grinsen verflog, dafür streckte sie ihm die Zunge raus, ehe sie hüpfend auf dem Flur davon lief und ans andere Ende in ihrem Zimmer verschwand.
Rusty atmete tief ein und tief aus.
Dann ging er auf das Fenster zu.
Ein wenig frische Luft konnte er jetzt gebrauchen. Nach dem Schock eines plötzlich zusammen schlagenden Buches direkt hinter seinen Ohren (Vermutlich hatte sich seine Schwester dafür sogar auf Zehenspitzen gestellt) brauchte er ein wenig Ruhe. Das klang vielleicht übertrieben, aber Rusty war empfindlich und ein derer, die viel mehr vor der Angst Angst hatten, als vor der eigentlichen Sache, vor der man Angst haben sollte.
Also kurbelte er langsam die Jalousien nach oben, um das Fenster öffnen zu können.
In jenem Augenblick, als die große Standuhr, die sie noch von ihren verstorbenen Großeltern bekommen hatten, unten im Wohnzimmer Punkt zwölf schlug, hatte Rusty die Jalousien nach oben gerollt und hinausgesehen.
Dann hatte er auf der anderen Straßenseite etwas gesehen. Eine schwarze Gestalt, umhüllt von Nebel.
Und beinahe wäre er wieder gesprungen, nur diesmal nach hinten, um sich vermutlich auch noch den Rücken aufzuschürfen oder sich sonst was anzutun. Reflexartig hatte sein Gehirn diese Erkenntnis wahrgenommen und ihm zu einem festen Stand befohlen. Offenbar war der Befehl angekommen, den Rusty stand noch, auch wenn sein geistiges Ich längst vom Tisch gefallen war.
Hatte er sich das gerade nur eingebildet?
Die Gestalt war komplett schwarz gewesen.
Hatte dort reglos gestanden.
Ein Einbrecher?
Vielleicht auch eine alte Frau, die sich verirrt hat? Vielleicht geistig verwirrt ist?
Oder ein Psychopath, der irgendwo aus einem Hochsicherheitsgefängnis ausgebrochen ist?
Rusty schüttelte seinen Kopf. Hier in der Nähe gab es kein Gefängnis, erst recht nicht eins für Schwerverbrecher. Eine alte Dame war auch unwahrscheinlich, denn Rusty fand keinen ersichtlichen Grund, weshalb es eine alte Dame hierher verschlagen sollte.
Blieb also noch der Einbrecher
Oder der Tote.
Sind wir heute witzig.
Aus dem Badezimmer drangen die Laute des Waschbeckens zu ihm herüber. Das Geräusch der Zahnbürste.
Die Vorstellung, hier oben allein mit seiner Schwester zu sein, während das Haus unten leer und irgendwie unbewacht war, beunruhigte ihn. Eigentlich jagte es ihm eine gewaltige Angst ein, wenn man das, was er gerade draußen gesehen hatte, für echt halten konnte.
Sieh noch mal nach.
Und ja, das wollte er. Sein Kopf richtete sich auf und wandte sich der Fensterscheibe zu, in der sich sein erleuchtetes Zimmer widerspiegelte, indem er auch sich selbst sah, gleichzeitig aber auch die Nacht, mit ihrem Nebel, der sachte über den Boden glitt, und die dunklen Konturen der Bäume des Waldes gegenüber. Er würde auch den Bordstein sehen, auf dem die Gestalt gestanden hatte.
Falls sie dort war.
Er musste nur noch nach unten schauen.
Eine plötzliche Hemmung, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte (Soweit er jedenfalls zurückdenken konnte), ergriff seinen Verstand und klammerte sich wie ein schwarzer Tumor an ihm fest. Diese Hemmung bestand aus Angst und aus der Gewissheit, da unten, draußen, im Dunklen, etwas Ungewisses, Unbekanntes vorzufinden. Mit ihr kamen jedoch auch der Leichtsinn, und das Gefühl, dass man hatte, wenn man auf dem Dreimeterbrett stand und sich nicht traute, zu springen, es aber irgendwie doch wollte.
Plötzlich ein Geräusch hinter ihm –
Oh Gott, doch ein Einbrecher und er –
»Erledigt«, sagte Naomi und stand unter dem Türrahmen.
Rusty wich vom Fenster zurück und versuchte, auf seine Art Er zu sein, wie es ihm jetzt – in Anbetracht der Lage – möglich war.
»W-was?«
»Ich hab’s erledigt.«
»Was erledigt?«
Naomi biss die Zähne zusammen und zeigte ihrem Bruder ein breites, weißes Grinsen, das weder humorvoll, noch freiwillig aussah. »Zähne geputzt, gewaschen und umgezogen.«
Rusty, in dessen Kopf zurzeit die verschiedensten Dinge schwebten, wusste im ersten Moment nicht, wovon seine Schwester da sprach. Dann nickte er. »Okay. Okay, dann … dann geh jetzt in dein Zimmer.«
Sie sah ihn an.
»Nun mach schon.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja, klar, wieso nicht?«
»Keine Ahnung«, sagte Naomi und drehte sich um. »Wirkst so aufgedreht.«
Aufgedreht? Da draußen hab ich grad eine pechschwarze Gestalt stehen gesehen, die direkt in mein Zimmer und damit auf mich geglotzt hat, und du denkst, ich bin aufgedreht? Aufgedreht?
Doch ehe Rusty das, oder etwas anderes sagen konnte, war seine Schwester schon in ihrem Zimmer verschwunden.
Und plötzlich verabscheute er diese Stille, die daher gekrochen kam wie eine dicke, haarige Spinne an einer Wand.
Er hatte Angst.
Schau jetzt einfach nochmal nach.
Und das tat er. Mit einem alles entschlossenen Schwung seines Kopfes wandte er sich erneut ans Fenster und blickte runter auf den Bordstein.
Er war leer.
Das Gefühl erlösender Erleichterung durchflutete seine Adern und gab ihm die Selbstachtung wieder, die er soeben noch verloren geglaubt hatte. Die Hemmung war verschwunden, hatte sich gelöst, er hatte sich den Sprung ins Wasser getraut.
Und plötzlich hörte er etwas unten in der Wohnung.
Für ein eine Weile blieb er einfach ruhig stehen und tat gar nichts. Ließ der Angst ihren Lauf.
Vielleicht ist es der Einbrecher, dachte er. Ich meine, vielleicht war es ein Einbrecher, den du draußen gesehen hast, und jetzt ist er hier im Haus. Durchsucht unten die Wohnung. Kommt vielleicht rauf zu uns. Tut uns was an.
Rusty schüttelte seinen Kopf, dann eilte er zur Treppe und horchte langsam, den Kopf um die Ecke geneigt, nach unten.
Es war ruhig.
Geh nachsehen, verdammt!
Da ist nichts.
Trotzdem! Geh nachsehen!
Da ist nichts, als muss ich auch nicht nachsehen.
Weil du Angst hast, nicht wahr? Weil du verdammt nochmal Angst. Davor, und vor der Angst selbst.
Schließlich obsiegte sein Unterbewusstsein – der entschlossene Rusty in ihm – und brachte ihn – den echten Rusty – dazu, das Geländer der Treppe anzufassen und nach unten zu schleichen. Stufe um Stufe, leise, auf Zehenspitzen.
Kalter Schweiß lief dabei seine Stirn hinab.
Unten angekommen, löste er seinen Griff ums Geländer. Seine Hände zitterten.
Cool bleiben. Sieh einfach um die Ecke.
Und das tat er.
Im Wohnzimmer befand sich nichts weiter als eine typische, gewöhnliche Leere.
Wie ein Befreiungsschlag viel die Last von seinen Schultern, als Rusty gemächlich ins Zimmer schritt und dabei keinerlei Furcht verspürte. Im Nachhinein betrachtet war seine Aufregung komplett sinnlos gewesen, und er lachte leise, als er sich erneut auf das Sofa setzt und sein Spiegelbild an den Jalousien betrachtete.
Arrrrrr …
Erschrocken fuhr Rusty herum und erwartete eine breite Fratze mit blutunterlaufenden Augen und gestrecktem, grinsenden Mund, die panisch zuckend auf ihn zu gehechelt kam und ihn zu Tode erschreckte.
Stattdessen war es nur der Fernseher; das Monster aus dem Film The Grudge, dass so merkwürdig gurgelte und ihn erschreckt hatte.
Das also hatte er oben gehört. Den Fernseher.
»Bullshit«, sagte er und betätigte den Aus-Knopf auf der Fernbedienung. Stille, die sich endgültig und vollkommen anfühlte, erfüllte den Raum, das gesamte Haus.
Schweigend setzte sich Rusty aufs Sofa zurück, um zu entspannen.
In jenem Moment war sein panischer Aufschrei vollkommen berechtigt.
Denn Jemand hatte an die Jalousien geklopft.
Als würde sein Herz mit tausend Tonnen Stahl beladen werden, rutschte es ihm in die Hose. Keine Angst, sondern blanke, echte Panik, errang die Herrschaft über seinen Körper, während sein Verstand versuchte zu realisieren, was soeben geschehen, und was tatsächlich echt gewesen war.
Da draußen war jemand.
Oder Etwas.
Natürlich, dachte er ohne Überraschung zu verspüren. Der Tote.
Gebannt starrte er auf die Jalousien, sah sich im Glas mitsamt dem Wohnzimmer dahinter, so wie er sein Zimmer oben im Spiegelbild gesehen hatte. Starrte darauf, als könnte es jeden Augenblick ein zweites Mal daran klopfen.
Zeit verging. Der Sekundenzeiger schlug im Takt seinen Weg. Mit jeder Minute die schwand, ging es immer tiefer in die Nacht hinein.
Was sollte er tun?
Wie gesagt, sagte der „Besserwisser-Rusty“ in ihm. Geh nachsehen.
Und ohne zu protestieren, ohne genau zu wissen, warum er ohne Widerwort gegen sein Unterbewusstsein reagierte, schritt er bereits auf die Haustür zu.
Er musste nachsehen.
Auf dem Weg zur Tür, der ihm irgendwie lang und schwerfällig vorkam, gingen ihm mehrere Sachen gleichzeitig durch den Kopf; dass er zum Beispiel die Polizei rufen konnte, die aber eine Ewigkeit brauchen würde, hier anzutanzen, dass er es einfach dabei belassen konnte, die aber vielleicht unwiderlegbaren Konsequenzen im Falle eines echten Einbrechers erdulden musste. Dass seine Schwester sich auf ihn verließ, und das er verantwortlich für sie war.
Ja, dass war er. Er trug die Verantwortung.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf stolzierte er auf die Fußmatte und packte den Türgriff.
Dann öffnete er die Tür, und erwartete ein weiteres Mal eine anlaufende Gestalt mit alptraumhafter, entstellter Fratze – stattdessen war dort nur Dunkelheit und ein nebliger, beleuchteter Fleck mit seinem Schatten vor der Haustür.
Aus dem Wald hörte er eine Eule. Irgendwo in den Baumkronen saßen Fledermäuse. Grillen zirpten, ein sachter Wind wirbelte das Laub durch den Nebel und durch die Nacht.
Rustys Blick viel nach links, zum Wohnzimmerfenster.
Dort war es leer.
Will mich hier jemand verarschen?
Er richtete seinen Blick auf den Bordstein gegenüber, anschließend auf den angrenzenden Wald. Bedrohlich ragten dunkle Konturen leerer Äste in den Himmel. Die Stämme der Bäume verschmolzen mit dem Nebel.
Irgendwo hörte Rusty ein Geräusch.
Er wandte sich nach links, doch dort war es ebenso dunkel wie auf der anderen Seite. Was war das für ein Geräusch gewesen? Schritte?
Es erklang schon wieder.
Irgendwo in der Dunkelheit rechts von seinen Füßen.
Dich will hier jemand verarschen, beantwortete er seine Frage, vielmehr der „Besserwisser-Rusty“.
Und dennoch – ein mulmiges Gefühl hatte Rusty schon. Allein die Vorstellung, irgendwo aus dem Wald von einem Einbrecher – einem gewalttätigen Einbrecher womöglich – beobachtete zu werden, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
Aber du hast die Verantwortung.
Die hatte er, verdammt, ja. Er sollte sich nicht unterkriegen lassen von seinen Hirngespinsten und den Tatsachen ins Auge blicken; realistisch und rational denken und davon ausgehen, dass ein Einbrecher es womöglich auf ihren Fernseher oder auf ihren PC oder ihrer Geldbörse oder auf Alles davon abgesehen hatte.
Und vielleicht auch auf Naomi, sagte der Besserwisser-Rusty.
Und dieser Gedanke – der wie ein entbrannter Funke durch seine Nerven jagte – war der Auslöser für die Wut, die Rusty plötzlich empfand, als er hier ängstlich an der Tür stand und sich nicht traute, in die Nacht hinauszugehen.
Niemals, dachte er. Nein.
Dann setzte er einen Schritt nach vorne, bemerkte, dass in seinem Körper keine Veränderung stattfand (Vielleicht dieses aufleuchtende Gefühl, eine Art Erkenntnis, wie es manchmal in Filmen der Fall war) und machte noch einen. Dann blickte er dem Wald entgegen.
Nachsehen, er musste nachsehen.
Aber was war mit der Tür? Sollte er die offen lassen?
Nein, natürlich nicht. Dafür hatten sie den Ersatzschlüssel irgendwo unter einer der Blumenvasen im Garten versteckt.
Also machte Rusty die Tür hinter sich zu.
Erst jetzt überkam ihn die Erkenntnis, die Erleuchtung, sich einer finsteren Nacht gegenüberzustellen. Erst jetzt viel die Angst wieder über ihn her wie die knochigen Hände des Sensenmannes.
Scheiß drauf, dachte Rusty und ging schnellen Schrittes voran in die Nacht.
Er trug die Verantwortung. Seine Eltern verließen sich auf ihn. Und, bei Gott, er würde vom Brett springen, o ja, das würde er tun. Drei Meter, hin oder her, unter ihm war Wasser.
Dann blieb er abrupt stehen, als er einen kalten Hauch an seiner linken Schulter spürte. Als würde …
Als würde etwas daran vorbeigehen.
Dann hörte er wieder dieses Rascheln, dann ein undefinierbares Geräusch, dass so ähnlich klang, als würde man die Farbe vom Holz mit den Fingernägeln abblättern.
Dann überkam ihn die Gewissheit, dass hier irgendetwas nicht stimmte, und er drehte sich um.
Im selben Augenblick hämmerte es von Innen gegen die Haustür.
Rusty sprang zurück und landete mit seinem Hinterteil auf dem nassen Gras neben dem Weg. Schrecken flutete seine Adern, während sein Herz unter Volllast arbeitete, um keinen Kollaps zu bekommen und die ganze Maschinerie unter Kontrolle zu halten.
Scheiße, was zur –
Es klopfte von neuem, ein aggressives, lautes Klopfen, Hämmern, als würde irgendetwas die Tür zerschmettern wollen. Rusty zuckte bei jedem Hieb gegen die Tür zusammen, schaffte es aber, etwas zu sagen.
»Naomi?«, rief er.
Alles verstummte. Sogar die Nacht, mit ihren Eulen, den finsteren Wald und den Grillen, schien verstummt zu sein.
»Naomi, bist du das?«
Keine Antwort.
»Naomi?«
Und dann folgte ein Schrei. Ein unbändiges, angstverzerrtes Schreien, ein gewaltiges Kreischen, dass die Panik selbst im Umkreis von hundert Metern verbreitete, die es übermittelte.
»NAOMI!«, brüllte Rusty und drückte die Türklinke herunter.
Du hast sie geschlossen, du Hiwi, kam der Besserwisser in ihm zu Wort.
Doch Rusty wollte ihn nicht hören, zerrte an der Klinke, drückte sie, haute gegen die Tür und brüllte erneut Naomis Namen.
Der Ersatzschlüssel.
Er drehte sich um, wollte so schnell er konnte in den Garten rennen, um –
Doch für eine Sekunde blieb er stehen.
Hinter der Tür drang ein Laut hervor, denn er noch nie zuvor gehört hatte. Es war eine Art … hecheln? Ein monotoner Klang, wie man ihn aus Mumienfilmen kannte? Er war ähnlich, zeitgleich nahm Rusty aber auch zur Kenntnis, dass dieser Klang nicht von Gott vorgesehen war und dass es sich nur …
Um den Toten handeln konnte
(Du und deine Fantasie)
(Das war nur eine Geschichte)
(Der scheiß Schlüssel, Rusty)
Rusty schüttelte seinen Kopf, rannte dann so schnell er konnte in den Garten und warf die Blumenvasen um. Seine Hände zitterten, als er im Dreck und fast blind nach dem Schlüssel suchte. Ein weiterer Funken – diesmal womöglich überhebliche Freude – durchzuckte ihn, als er das Klimpern an seinen Fingern vernahm.
Er eilte zurück und steckte den Schlüssel zitternd ins Schloss.
Gleich bricht er ab, sagte der Besserwisser belustigt und Rusty meinte, ihn kichern zu hören.
Der Schlüssel drehte sich, und damit verschwand auch Rustys Adrenalinkick, denn er seit dem Gekreische seiner Schwester verspürt hatte. Zurück kamen jetzt die Angst, und die Gewissheit, dass es hier vielleicht doch nicht mit rationalen Dingen zugehen könnte.
Rusty öffnete die Tür.
Vor ihm wartete der leere Korridor, mit der Treppe, die nach oben führte, und dem Durchgang rechts zum Wohnzimmer. Der vertraute Korridor, den er schon hunderte Male betreten hatte, und den er so gut kannte wie seine Westentasche.
Aber alles war leer.
Rusty spürte, dass er zitterte. Zögernd schloss er die Tür hinter sich und musterte den Raum. Schweiß glitt an seinem Körper entlang. Das Beben seines Herzens fühlte sich unter seiner Brust stark und explodierend an.
Er schlich nach vorne, und wollte irgendwie keinen einzigen Laut von sich geben. Wobei doch er der jetzige Inhaber dieses Hauses war – nicht etwa ein Einbrecher oder irgendwas anderes.
Dabei kam ihm wieder das Geräusch von eben ins Gedächtnis.
Naomi, mein Freund.
Er richtete seinen Blick auf die Treppe. Das Licht oben wirkte kalt und dunkel, und spendete den oberen Stufen nur wenig Helligkeit.
O allmächtiger, ein endloser Pfad in die Dunkelheit –
Halt deine Schnauze!
Ein Geräusch ertönte. Rusty zuckte zusammen.
Sein Blick lagerte konzentriert auf das obere Ende des Flures. Das Licht schien noch dunkler zu sein als eben. Hatte das was mit dem Geräusch zu tun? Er kniff die Augen zusammen, sah aber nicht mehr als die Konturen der Wandkanten und dem Gemälde gegenüber der letzten Treppenstufe. Drauf zu sehen war eine Frau neben einer Harfe. Rusty glaubte, dass ihre Tränen schwarz waren.
Wieder ertönte das Geräusch. In Rusty tobte ein Kampf zwischen Übermut und nervenzerfressender Panik. Es fühlte sich an, als hätte er dutzende von Energie-Drinks getrunken.
Dann ein Schrei.
Rustys Gestik, die ausgesehen hatte wie ein Freudentanz auf der Stelle, starb ab. Angst, so schwer wie eine Abrissbirne, viel ihm vom Kopf an durch den ganzen Körper. Auf dem Weg zerschmetterte sie für wenige Augenblicke sein Denkvermögen über rationale Wahrnehmung.
Es hat sich angehört wie ein Monster. Wie ein fremdartiges Wesen.
Dann folgte ein weiterer Schrei. Diesmal war es Naomi.
Die Abrissbirne viel von dannen, Entschlossenheit packte Rustys Körper. Er brüllte den Namen seiner kleinen Schwester und hastete die Treppe rauf, nahm dabei drei Stufen gleichzeitig. Nach vier Sekunden war er oben, und erblickte links und rechts von sich einen dunklen Korridor, in dem die Lichter erloschen, aber noch nicht ganz verschwunden waren.
Zu seiner rechten quietschte eine Tür im Scharnier. Die Zimmertür seiner Schwester.
Rusty ging darauf zu und versuchte sämtliche Hemmungen in seinem Körper, die sich in seinem Kopf anfühlten wie haufenweise Schlaftabletten, zu ignorieren.
Geh das Ganze rational an. Atme tief durch. Es ist nichts, vermutlich verarscht sie dich nur.
Er hoffte das nicht nur. Er betete darum.
Vor ihrem Zimmer blieb er stehen und spähte in eine verschlingende Finsternis. Das Zimmer war dunkel. Irgendwo unten im Wohnzimmer (Das in Rustys Augen so weit entfernt war wie der Jupiter) tickte dir Uhr ihres Großvaters.
Er spähte ins Zimmer, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Ehe er selbst es begriff, flüsterte er mit brüchiger Stimme den Namen seiner Schwester.
Nichts.
»Naomi?«
Nicht rührte sich.
»Naomi?«
Die Uhr unten tickte, das Pendel schlug seinen endlosen Weg.
»Naomi, schläfst du schon?«
Rusty erstarrte. Sein Mund blieb offen stehen, Speichelfäden vielen binnen weniger Augenblicke über seine Lippen.
Hinter ihm war ein Geräusch.
Ein ihm fremdes Geräusch.
»N-Naomi?«, krächzte er.
Es waren schwere Schritte, die hinter ihm waren. Sie waren massiv, und irgendwie hörten sie sich dreckig und schleimig an.
Mit einem Male roch Rusty den Duft fauler, feuchter Erde. Er würgte, hatte das Gefühl, die tausenden kriechenden Würmer der Unterwelt in seinem Mund zu haben.
Und dann viel ein zweites Mal eine Abrissbirne durch seinen Körper. Nicht vor Angst, sondern vor Erkenntnis.
Der Tote, dachte er. Natürlich, wer sonst? Wollte Naomi bestraffen, weil sie zu lange wach geblieben war. Vermutlich, weil sie erst kurz nach zwölf ins Bett geschafft hat. Stand auf dem Gehweg draußen, hat an die Tür geklopft und meine kleine Schwester … zu Tode erschreckt.
Irgendwie hoffte der gute alte Rusty und der Besserwisser-Freund in ihm, dass das alles nur ein schlechter Scherz war. Vielleicht waren es ja auch seine Eltern, die ihm eins auswischen wollten, weil er seine kleine Schwester so oft erschreckte. Vielleicht hatte seine Mutter auf dem Weg draußen gestanden? Vielleicht war es sein Vater, und nicht der Tote, der hier im Haus und gerade jetzt womöglich hinter Rusty stand?
Würden sie soweit gehen?
Hinter ihm gurgelte es. Das Geräusch knirschender Erde zwischen den faulenden Zähnen.
Bei Gott, wenn ich mich jetzt umdrehe, wird er mich zu Tode erschrecken.
Das war sein letzter Gedanke, ehe ihn etwas an der Schulter berührte, und ihn praktisch dazu zwang, sich umzudrehen.
Was er dann auch tat.
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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