Manuela Schneider

Ein Glas, ein Wort

Ein Glas, eine Geschichte

 
27. Mai 1993
Ich habe heute in eine 2000 DM teure Designertasche gekotzt.

Später hast dann auch noch du angerufen. Passenderweise warf ich gerade Dartpfeile auf das Poster von dir, das seit einigen Tagen meine Tür ziert.
Gehetzt bin ich aufgesprungen. Habe auf meinem Weg zum Telefon den Stapel Fashion-Magazine umgeworfen, die ich allesamt chronologisch sortiert hatte.

Mit müder Stimme fragtest du mich wie ich mich fühle. Natürlich konnte ich dir nicht sagen, dass mich die Leere in meinem Schlafzimmer in den Wahnsinn treibt; dass ich trotz 2-Liter Beruhigungstee intensiv an meinen Nägel kaue.
Fast schon aus Gewohnheit - wenn ich es mir recht überlege, artet es langsam schon ein eine Zwangsneurose - antwortete ich: “Großartig! Wie immer!”

Nach 5 Minuten endlosem Gerede über sie und eurem neuen Schlafzimmer habe ich aufgelegt. (Eigentlich ging ich gar nicht erst davon aus, dass du zurückrufst. Doch in meinem Kopf legte ich die ersten Ausreden zurecht: “Mein Finger ist aus Versehen auf die falsche Taste gekommen”, “Ein Blumentopf ist vom Fenstersims gefallen und hat das Kabel aus der Wand gerissen”)
Du riefst nicht zurück.

In der darauffolgenden Woche trafen wir ins zum Essen. Auch dort erwähntest du diesen Zwischenfall nicht mit einem Wort.
Deine Blicke sagten allerdings alles. Alles das, was du mir nie sagtest.

Mit gekonnter Leichtigkeit setztest du dieses gekünstelte Lächeln auf die Lippen. Zu gerne - fast schon mit übertriebener Vorfreude darauf - wollte ich dir meinen Mittelfinger (lieber noch die geballte Faust) in eine Gegend drücken, in der du ihn nun wirklich nicht gerne haben möchtest.
Meine Hand blieb aber an selbiger Stelle.

Nicht etwa, weil ich eine Dame sein wollte; nein, nicht doch. Sondern weil ich den selben Finger bald noch brauchte, um die ‘Spaghetti aglio, olio e peperoncino’ wieder heraus zu holen. Schon alleine aus dem Grund, weil du sie gezahlt hast.



19. Juni 1993
Für gewöhnlich verbringe ich meine Nächst traumlos. Doch heute erschien mir Bob, der kleine Mischlingswelpe, den mein Vater mit zum 8. Geburtstag geschenkt hatte.
In unserer Familie war Bob der Lebhafteste von Allen.
Der Kopf meiner Mutter lief immer knallrot an, wenn er die Rosen im Garten ausbuddelte.

Der Garten sowie das Häuschen stehen nun leer. Nur Unkraut ziert die alten Beete. Die Möbel stehen in Staub gebettet auf rottenden Holzdielen.
Bob hätte sicher noch seine Freude: Würde vergnügt hechelnd in der Ruine der Kindheit auf Schatzsuche gehen.

Vom Verkäufer zum Verkauftem.
Was immer es auch bedeutet, genau so fühle ich mich jetzt.
Ein Chamäleon, das die Nahrungsaufnahme verweigert. Dazu bedarf es Talent. Oder Ketten einer eitlen Industrie.



18. Januar 1996
Wir sind Fremde. Er und ich. Bob und ich.
Heute habe ich von deiner Scheidung gehört. Seine Ex-Frau möchte anscheinend nicht, dass er das ungeborene Kind jemals siehst. Als ob es so einfach wäre.
Jedoch kenne ich diese Art Wünsche zu gut. Jene, die aus Bitterkeit und Hass entstehen.

Meine Mutter sitzt in der Küche, klimpert mit einem Glas Rotwein in der Hand.
“Du bist so hübsch geworden”, lallte sie; meiner verachtenden Blicke vollkommen ignorant.
“Wie ich in deinem Alter.”

Wehmütig und äußerst schmerzverbunden würgte ich die Worte wieder herunter, die ich ihr entgegen schreien wollte.
Ich nickte nur, funktionsmäßig.



19. Januar 1996
Seither vergleiche ich Menschen mit Gläsern.
Manche sind schmal, manche gewölbt: Doch alle für die selbe Aufgabe geschaffen.

Mutter ist ein Glas, das so voll mit Wein ist, dass es manchmal an den Kanten überschwappt.
Bob war ein buntes Glas, das mit sprudelnder Cola gefüllt ist.
Vaters Glas ist riesig und gleicht eher einem Kelch. Darin befindet sich wohl Bier: Eine herbe, belebende Sorte.
Er ist ein kleines Glas. Zwar mit farbiger Flüssigkeit gefüllt, doch mit viel zu vielen Eiswürfeln besetzt.
Seine Ex-Frau wäre ein schlichtes, farbiges Sektglas. Von Außen kann man nicht erkennen, was der Inhalt verbirgt.

Wäre ich ein Glas, wäre ich wohl ein Pappbecher. Am Boden befindet sich ein Riss. Kein offensichtlicher, nur groß genug, dass es stetig leer ist, egal, wie viel Wasser man nachfüllt.

Tropf. Tropf.

Selbst die Tränen fließen ordnungsgemäß.
Still und leise.
In ein Taschentuch aus Seide.

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