Elmar Rieder

Hirntod - Schmerzen und Reflexe




1988 hatte ich das erste Mal Gelegenheit, zwangsweise eine Justizvollzugsanstalt, kurz JVA genannt, im Zuge einer unbedeutenden Untersuchungshaft von 4 Monaten wegen einer noch unbedeutenderen Hehlerei einer im Bankensektor kaum wahrnehmbaren Summe von 400.000.- DM von innen kennen zu lernen.
Mit dem Ergebnis, dass ich heute genau weiß, was ich a) nicht will, nämlich nochmal rein und b) dass es jede Menge Leute gibt, die weitaus bekloppter sind wie ich.

Und ich muss ganz schön bekloppt sein, denn ich sitze schon wieder in U-Haft.
Man könnte das unter Architektur-Aktionismus verbuchen, denn die jetzige JVA ist eine andere, aber wieder in historischen Gemäuern. Wobei der Umstand der baulichen Besonderheiten so weit im Hintergrund steht, dass es mir persönlich fast völlig egal ist, wo ich grade bin. Der Umstand, dass ich grade  da bin, wo ich bin, trifft mich viel tiefer.

Mehr als 20 Jahre ist die Premiere her. Kein Wunder, dass ich mich auch heute mindestens so beschissen fühle wie damals. Eher noch mieser. Damals lebte ich auf der Straße, da war es, nun ja, nicht unbedingt egal, aber es entbehrte nicht einer gewissen Logik, dass der Krug solange zum Brunnen geht, bis er bricht.

Hatte damals ja ganz schön lange gedauert, bis er brach und bis dahin ging es mir eigentlich glänzend. Ich lebte in Hotels, reiste quer durch die Republik und verspürte keine Geldsorgen.
Meine Mädels versorgten mich auf Anruf mit frischer Ware aus einer Spezialfabrik, die mir von meinen Kunden bundesweit aus den Händen gerissen wurde.
Die wussten gar nicht, was sie mir damals so billig verkauften. Das waren noch Zeiten.

Nun gut, der Knast, das Zuchthaus, oder eben die Verbüßung einer Haftstrafe in einer Justizvollzugsanstalt ist nicht jedermanns Sache und es bedarf einiger Vorsichtsmaßnahmen, wenn der eigene Arsch Jungfrau bleiben soll und man Schlägerattacken vermeiden will.
Rede mit niemandem über private Dinge.
Gib keine ungefragten Ratschläge.
Wenn du Ausgang hast – bring nichts mit rein, auch wenn dir angedroht wird, die nächste Zeit ist Ernährung nur noch aus der Schnabeltasse möglich.
Möglicherweise wirst du einmal zeigen müssen, dass deine Meinung irreversibel ist, aber keine Sorge – wenn du das durch hast, hast du Ruhe. Und Freunde. Sofern das im Knast möglich ist.
Sie sagen nichts zu dir. Sie helfen dir nicht offen. Aber du wirst mal ne Zigarette bekommen, wenn du keinen Tabak mehr hast. Oder Kaffee.
Den du dir nie ausleihen solltest, weil im Allgemeinen hohe Zinsen drauf sind.
Nein, diese Freunde sorgen mehr im Hintergrund dafür, dass du Ruhe hast. Dass du genügend zu lesen bekommst. Und Hinweise, wo es was gibt. Zum Beispiel Alkohol.
Diese Freunde haben nur einen kleinen Nachteil: sie machen abhängig.
Sie sind Wahrer einer eigenen Kultur im Bau. Die wahren Hüter von Recht und Ordnung.


Wie bin ich in diese Situation gekommen?

Man hat mich aus dem Auto raus verhaftet, man hat mir nichts erzählt. Ich verbrachte eine Nacht in einer stinkenden Ausnüchterungszelle auf der Polizeiwache in einer fremden Stadt.
Am nächsten Tag wurde ich in irgendeinem Bürogebäude dem Haftrichter vorgeführt.
Ob ich irgendwas zu sagen hätte. Wie es aussieht mit einem Geständnis. Mir war nicht klar, was der Mann meinte. Meine Frage wurde mit einem “Tun sie doch nicht so blöd“ beantwortet. „Also, höre ich was?“ Das war das Letzte, was ich von diesem Haftrichter hörte.
Nein, er hörte nichts, und ich hörte von meinem Rechtsanwalt auch nichts. Die Jungs sind immer schwer beschäftigt, ich kenne keinen, der den ganzen Tag auf den Anruf eines Mandanten wartet, um dann sofort los zu springen.
Mag ja sein, dass es solche Anwälte gibt, aber nicht in meiner Einkommensklasse.
Obwohl ich bis gestern eigentlich prächtig verdient hatte.  Klar, ich hatte mir ein Polster zurückgelegt; mir war schon irgendwo und irgendwie klar, dass diese Zeiten des schnellen Euros bald wieder vorbei sein könnten, aber die Versuchung war einfach zu groß und ich hatte die Gelegenheit, meine Augen zu verschließen.

Vor zwei Jahren hatte ich einen Anruf auf mein Mobiltelefon bekommen.
Eine mir unbekannte männliche Stimme begrüßte mich mit meinem Namen, fragte nicht mal, ob ich wirklich der Angerufene bin und erklärte mir, man kenne mich aus der JVA. Ich sei damals schon aufgefallen wegen meiner Distanz zu allen und wenn ich redete, dann nur, wenn es dafür einen soliden Grund gab.

„Ok,“ sagte ich, „und jetzt?“
„Nun, sie können Geld verdienen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen,“ sagte die Stimme.
Es ist schwer, sich vorzustellen, was in so einem Moment durch den Kopf schwirrt. Natürlich ist da ein abgrundtiefes Misstrauen. Der Anrufer war „unbekannt“, nannte keinen Namen, erzählte keine Details und ich war alt genug, um zu wissen, dass niemand Geld zu verschenken hatte. Also war klar, dass es sich um einen vermutlich gut bezahlten, aber eben nicht astreinen Job handelte. Die Frage in solchen Fällen ist die Relation von Erlös zu Risiko. Also sagte ich nicht gleich zu sondern fragte: „Wie das?“
Er antwortete: „Nach Anruf zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ein Paket übernehmen und dieses Paket termintreu an einem bestimmten Ort abliefern. Vor allem termintreu!“
Seine Ausdrucksweise war gewählt, ruhig und sachlich mit beinahe spürbarer Souveränität eines Befehlshabers. Dieser Mann empfing keine Befehle, er gab sie.
Ich versuchte, ebenso professionell zu antworten: „Wann, wie oft, wie weit, mit welchem Fahrzeug, ich alleine, wie viel wird bezahlt, wie läuft es ab?“

Ich vermied bewusst, nach Details des Transports als solches zu fragen, mich interessierte einfach nicht, ob ich Waffen oder Damenbinden transportierte.
„Kein Rauschgift,“ sagte er. Mit Gift wollte ich nichts zu tun haben.

Mein Gewissen beruhigte ich damit, dass ich schon immer Transportunternehmer war, wenn auch als Hehler und Schwarzarbeiter. Und wenn man mich erwischen sollte, würde ich glaubhaft versichern, dass ich eben nur der Transporteur sei.
Tja, man kann sich seine kriminelle Energie schön reden und sie als Triebfeder unternehmerischer Tätigkeit sehen. Und, mal ganz ehrlich, mich interessierte ja wirklich nicht, was da genau abging. Ich wollte einfach Geld verdienen.
Ohne dafür allzu viel arbeiten zu müssen. Und das hier roch förmlich nach Geld.

Meine Fragen wurden sehr zufriedenstellend beantwortet. Pro Tour und Tag 1000.- Euro, eine Pauschale für die Spesen, höchstens 4 Tage im Monat. Das waren 4000.- im Monat cash auf die Kralle. Steuerfrei! Mir wurde der Mund trocken!

„Allerdings, zwei kleine Einschränkungen“, sagte die Stimme.

„Schon klar“, sagte ich. „Absolute Diskretion und keine Neugierde.“
„Wir machen keine Späßchen“, sagte mein Gesprächspartner.
„Fehler müssen bezahlt werden!“

Das war mir klar,  auch im Knast konnte ein einziger Fehler über persönliches Wohlergehen entscheiden. Ich hatte jetzt nicht unbedingt Bedenken, dass man mir einen Killer auf den Hals hetzen würde, falls etwas vorfallen würde, aber ich konnte mir schon vorstellen, dass ich mit einem Rollkommando Bekanntschaft schließen würde, sollte ich einen Fehler machen.

Wir besprachen noch ein paar Einzelheiten, die mich interessierten und ich nahm den Job an.

Natürlich zerbrach ich mir den Kopf, wie die Herren von damals auf meine Spur kamen, woher hatte der Typ meine Telefonnummer? Es musste einen gemeinsamen Bekannten geben oder wie auch immer. Allerdings fühlte ich mich auch beinahe geehrt, dass man für einen solchen Job bei mir nachfragte. Gleichzeitig war das aber auch ein Warnsignal. Wie gut kannten die mich, dass sie sich so sicher waren, ich würde den Job annehmen?

Ich ging in Gedanken die letzten Jahre durch. Für wen hatte ich was erledigt?
Ich war zwischendurch immer wieder mal als Fahrer beschäftigt, meist als „Subunternehmer“ im Paketdienst, aber da war niemand, den ich aus den alten Zeiten vom Knast her gekannt hätte. Ich hatte Langstrecken-Touren, in denen ich jede Nacht 1400 km durch die Republik raste. Da wusste ich auch nicht, was ich geladen hatte.

Auch mein Freundes- und Bekanntenkreis gab nichts her.
Ich hatte nicht viele Freunde, eigentlich gar keine. Zwei oder drei Typen, mit denen ich mich meist zufällig traf, wenn ich in bestimmten Kneipen unterwegs war.

Ich hatte gelernt, kleine Brötchen zu backen, war nicht auffällig, nannte nur ein kleines Auto mein Eigen und versuchte, so zu leben, als ob es mich gar nicht gibt.
Unauffällig, bescheiden, ohne Ansprüche. Nur nicht auffallen.
Ich wollte alles vermeiden, was mich  auch nur annähernd wieder in die Kiste hätte bringen können. Gelegenheiten für diverse Geschäfte hätte es mehr als genug gegeben. Wenn man lang genug in einer Kneipe verkehrt, lernt man beinahe zwangsläufig die Randfiguren der Gesellschaft kennen, die warum auch immer keine Chance hatten, sich mit normaler Arbeit über Wasser zu halten. Das waren halt dann die Mitternachtsschlosser oder Freunde davon, die diverse Geschäfte erledigten.
Und es stimmt: Gleich und gleich gesellt sich gern. Ich hatte keine Schwierigkeiten, immer wieder an solche Leute ran zu kommen. Eigentlich hätte ich als V-Mann mein Geld verdienen können. Aber verpfeifen war eben nicht mein Ding.

Und jetzt saß ich hier. Mit 4 anderen in der Zugangszelle dieser verdammten JVA.
Keiner sprach. Keiner blickte den anderen an. Ab und zu stand einer auf, ging ein paar Schritte hin und her, kramte nach Tabak oder Zigaretten, rauchte und setzte sich wieder.
Es waren diese wenigen, aber schier endlosen Stunden, in denen man nicht wusste, was passieren würde. Würde man die erste Nacht schon in der eigenen Zelle verbringen? Hier gab es nämlich keine Betten. Wann gab es was zu Essen?
Wann durfte man Tabak oder Zigaretten kaufen? Mit welchem Zellengenossen hatte man das Vergnügen, sich eine Zelle zu teilen?
Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, vor zwanzig Jahren waren die Zeiten ziemlich hart, ob das immer noch galt? Schwule, Mörder, Kinderficker, Bankräuber, rücksichtslose Gewalttäter, dreckige, hinterhältige Giftler, die für ein bisschen Alk oder Dope beinahe alles taten. 23 Stunden entweder allein auf der Zelle oder mit irgendwelchen kaputten Gestalten. Und ich war nicht mehr der Jüngste….
Beim letzten Mal war einer auf der Gemeinschaftszelle, der sich nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus mit dem Taxi abholen ließ. Nach 40 km Fahrt ließ er den Fahrer anhalten und wollte ihn berauben. Ruckzuck war er wieder da!

Der Penner, der als Wiederholungstäter zum x-ten Mal irgendwo ein Bier geklaut hatte und froh war um ein Winterquartier. Das sich zwar aufgrund seiner Vorstrafen länger hinzog als geplant, aber ihm war´s recht.

Eigentlich konnte es mir egal sein, was hier passierte, ich war sicher nicht lange da.
Die konnten mir gar nichts. Da fürchtete ich meine Auftraggeber mehr, die dürften da ein bisschen rücksichtsloser in der Vorgehensweise sein. Es hat Vorteile, in einem Rechtsstaat zu leben…

Ich hatte mich bis jetzt nicht mehr um einen Anwalt bemüht, ich war mir sicher:

Die können mir nichts. Was war denn groß passiert?
Ich kam in eine Verkehrskontrolle, ganz normal, wie die anderen auch. Der Polizist fragte mich, woher - wohin. Ich antwortete ganz normal und er wollte die Frachtpapiere sehen. Ich sagte, „Kuriergut, da gibt es keine Frachtpapiere, ist ja nur Inland.“ Aber er gab keine Ruhe. „Was für Kuriergut? Was ist da drin?“ Ich antwortete wahrheitsgemäß: „ich bin nur der Fahrer, ich weiß es nicht. Das können Dokumente sein, Kinofilme, Werbefotos, Medikamente, eilige Ersatzteile. Kein Ahnung.“
Er beriet sich mit seinen Kollegen. Sie entschieden sich, den Karton zu öffnen, allein schon deshalb, weil es ihnen seltsam vorkam, dass man mit einem einzelnen Karton unterwegs ist. Mein Einwand, dass ich es furchtbar eilig hatte, zählte nicht.
Sie öffneten den Karton und sahen eine Kühlbox, die mit Trockeneis gefüllt war.
Darin ein Spezialbehälter. Als sie den aufmachten, sahen sie eine Leber.
Dann klicken die Handschellen, ich wurde auf irgendeine Polizeiinspektion gebracht und saß jetzt hier.
Jetzt wusste ich auch, nein, eigentlich war es immer noch nur eine Vermutung, wieso ich so gut bezahlt wurde: Organtransport. Vermutlich illegal. Irgendjemandem aus dem Leib geschnitten, vielleicht einem Unfallopfer, noch nicht ganz tot.
Ich transportierte Organe. Witzig! Für den einen wertlos, weil er sich eh von dieser Welt verabschiedet hatte, und für andere ne Menge Geld wert. Vermutlich lag dazwischen so viel Bürokratie und Beschaffungsschwierigkeit, dass das ein rentabler Markt sein musste. Klar. Illegale Einwanderer, Unfallopfer, Menschen ohne Angehörige.
Aber es wurde ja immer von Menschenwürde und Pietät gesprochen. So ein Schwachsinn. Die sollten sich mal in so einen Knast rein trauen. Da würden sie erleben, was Menschenwürde und Pietät in der Praxis sind.
Wenn du hier die Fresse nicht hältst, kann es dir sehr gut passieren, dass dir der Arsch versilbert wird. Und nicht nur einmal. Und nicht nur von einem. Oder du rutscht beim Duschen auf einem Stück Seife aus. Und holst dir dabei ne Menge Verletzungen und blaue Flecken von den harten Steinfliesen.
Glaube nicht, dass die Bediensteten der JVA, die Wärter, dir helfen. Nur wenn du ihnen hilfst. Wenn du plauderst, wenn du Infos lieferst. Aber auch dann ist dir Hilfe nicht sicher. Halt einfach die Fresse wenn du da drin bist.  Hier zählt der Spruch doppelt: was du nicht willst, das man dir tu, das füg´ auch keinem andern zu.
Menschenwürde! Pah!
 
Am späten Nachmittag wurden wir in den Zellentrakt gebracht. Hier sah es aus wie in anderen JVA´s auch. Farbige Linien auf dem Boden, damit man die einzelnen Bereiche besser fand. Am Ende der Gänge das „Aquarium,“ das verglaste Überwachungszimmer, der Raum für die Aufsichtsbeamten, für die Wärter.

Scheiße! Da saß ich hier, mein bisher reines Gewissen versuchte, sich selbst schlecht zu machen und mir wurde klar, dass das ne Menge Fragen bringen würde. Würde wohl doch länger als 2 Tage dauern. Hm… der Mietwagen war nur für 2 Tage gemietet, der musste zurückgebracht werden. Na gut, das war jetzt das Problem der Bullen.

Ich hatte ein Einzelzelle bekommen, 2 x 4 m. Irgendjemand hatte mir mal erzählt, ein Schäferhund hat mehr Platzanspruch im Zwinger als ein Häftling in einer bayerischen JVA. Keine Ahnung, ob das stimmte.

Es war langweilig, aber schlafen konnte ich auch nicht. Solange ich nicht wusste, was sich da zusammenbraute, war ich nervös, reizbar, wütend und ängstlich zugleich.
Ich sagte mir immer wieder: Die können mir nichts. Ich habe nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Ok, ich hätte vielleicht ein Gewerbe anmelden sollen, die Einkünfte versteuern, aber wie soll ich etwas versteuern, was gar nicht offiziell läuft?

Dabei ist das in Deutschland ein absoluter Witz. Wenn jemand Dope aus den Niederlanden importiert, nach Deutschland einführt, dann ist das auch ein Zoll-, bzw. Steuervergehen. Juristisch korrekt wäre es, die im Ausland erworbene Ware zur zollrechtlichen Behandlung bei der Einfuhr anzugeben. Dass man Rauschgift nicht einführen darf, ist in diesem Zusammenhang nicht relevant.
Dass aber andererseits sich der deutsche Staat als Hehler erweist und geklaute Daten-CDs mit Namen von Steuersündern kauft, ist auf einmal rechtens.
Mit solchen Gedanken vertrieb ich mir die Zeit. Stundenlang. Irgendwann schlief ich ein.

Als ich aufwachte, musste ich mich zuerst einmal orientieren. Richtig. Kontrolle, Knast, U-Haft. Das heißt: Eigene Kleidung, eigenes Essen. Wenn ich will. Keine Arbeitspflicht. Wenn ich nicht will. Aber viele unangenehme Fragen. Ich schaute auf die Uhr. Vermutlich hatte ich das Frühstück voll verschlafen oder sie waren gar nicht da. Das kommt öfter vor, dass man die Neuen vergisst. Absichtlich oder nicht, keine Ahnung.
Ich drückte den Rufknopf. Eine Stimme quäkte aus dem kleinen Lautsprecher: „Ja?“
Ich versuchte, witzig zu sein. Vielleicht überspielte ich damit meine Ängste und Unsicherheit.
„Zimmerservice? Eure Betten sind großartig. Ich habe herrlich geschlafen. Doch nun verlangt mich nach dem Besten, was Küche und Keller zu bieten haben!“
Das leise Brummen, das die Verbindung bisher hörbar machte, erstarb.
Ich drückte nochmal. Keine Reaktion.

Das war gut! Das war genau die Reaktion, die ich brauchte. Sie machten mich wütend. Ich hatte mir schon längst abgewöhnt, Fehler zu machen, wenn ich wütend wurde. Wut bzw. Zorn motivierten mich. Es machte mich hart. So überwand ich Schwächen. Das war gut. Ok, wenn ihr es so haben wollt, könnt ihr es so kriegen.

Ich legte mich wieder hin. Irgendwann ging der Schlüssel im Türschloß.
Zwei uniformierte Wächter mit debilem Gesichtsausdruck, Nachweis einer langjährigen Tätigkeit in diesem Haus, schoben auf einem kleinen Wagen einen abgedeckten Teller, eine Kanne Tee, eine Plastiktasse und Plastikbesteck rein.
Ich sagte nichts. Die beiden auch nicht. Sie gingen wieder raus und sperrten die Türe ab.
Ich überlegte. Essen? Essen verweigern? Ich aß eigentlich verdammt gern und hatte immer Hunger und dachte mir: Wenn ich schon in U-Haft bin, habe ich das Recht, eigenes Essen zu kaufen. Und wenn ich Geld habe, werde ich das auch tun. Anders als beim ersten Mal. Da saß ich in U-Haft und konnte mir gar nichts leisten, weil ich keine Ahnung hatte und die Hosen voll. Hätte damals jeder die Schnauze gehalten, wäre nichts passiert. Aber da waren junge Kerle dabei, die keine Ahnung hatten.  
Die sangen wie Vögel im Frühjahr. Mit dem Erfolg, dass alle hochgenommen wurden. Und verurteilt.
Aber das hatte natürlich den Vorteil, dass ich heute mit solchen Erfahrungen umgehen kann. Vor allem die Schnauze halten. Lass sie im Nebel stochern.
Es konnte mir egal sein, ob die einem Unfallopfer die Leber rausschnitten, oder die Pumpe, oder die Lungenflügel oder den Darm. Was weiß ich, was man alles verwerten konnte.
Im Prinzip ist das wie auf dem Schrottplatz. Du brauchst ein Ersatzteil, also besorgst du es dir. Manche Teile gibt es, manche Teile sind teuer. Damit habe ich nichts zu tun. Ich habe sie nur transportiert. Und Organtransport ist nicht mal genehmigungspflichtig.
Ich habe niemandem das Skalpell angesetzt, die Rippen aufgebrochen oder die Bauchwand geöffnet. Das war nicht mein Business. Ich hatte und habe wirklich großen Respekt vor dem Leben. Niemand hat das Recht, einen anderen zu töten. Schon gar nicht aus religiösen Gründen oder von Staats wegen. Das war mit ein Grund meiner Einstellung gegen Amerika und Israel. Selbstherrliche Staaten, die sich als Weltpolizisten aufspielten und rücksichtslos über „Recht und Ordnung“ bestimmen konnten; nein nicht –konnten-, sie bestimmen tatsächlich darüber.
Und da sollte ich mir Gedanken darüber machen, weil ich eine Leber vom Hbf-Köln nach München-Erding transportierte? Nein – Jungs. Da wart ihr bei mir an der falschen Adresse.

Ich stand auf und klingelte. „Ja?“ ich sagte: „Ich wollte das Beste aus Küche und Keller, und wenn es bei euch nichts Vernünftiges gibt, dann bitte aus einem Restaurant. Ich bin U-Häftling, habe einen Anspruch darauf und bezahle dafür.“
Kommunikation war nicht die Stärke meines Gegenübers. Das Brummen erlosch. Der Lautsprecher war wieder tot.
Die beiden Komiker kamen wieder.
Wortlos. Sie nahmen den Wagen wieder mit.
Der eine fragte: „Wieso essen sie nichts von uns?“
Der andere lachte und fiel ein: „Dem schmeckt die Leber nicht, ha ha ha ha…!“

Ok, die wussten also schon Bescheid.  Ok, Jungs, wenn ihr es so haben wollt.
Das gab mir wirklich Auftrieb. „Die können mir nichts!“ Immer wieder hämmerte ich mir den Satz in den Schädel. „Ruhig bleiben. Fresse halten!“ „Die Gegenseite ist schlimmer, die kann und wird dir richtig weh tun.“

Dann, am Nachmittag, ein Beamter. „Mitkommen zur Singstunde!“
Es war soweit. Das Spiel begann. Ich wurde verhört.

Er brachte mich in einen kleinen Raum, ein Tisch, 4 Stühle. Zwei Beamte in Zivil auf der einen Seite. Der erste fragte mich: „Brauchen wir Handschellen?“
„Quatsch“, sagte ich, „außer ich bin hier bei versteckter Kamera…“
Der Kripobeamte nickte dem Wächter zu. Der verließ das Kämmerchen.
Die Beamten stellten sich vor.
Und weil sie das alte Spielchen vom guten Polizisten und vom bösen Polizisten spielen wollten, nannte ich sie Herr Weiß und Herr Schwarz.
Ich musste unwillkürlich lachen. Wieso sind Kripobeamte immer so überheblich? Auch wenn sie keinerlei Beweise haben. Die spielten sich immer auf und  gaben sich wie Vertreter, die den Staubsauger schon verkauft hatten bevor sie einen hatten.
Herr Schwarz blaffte mich an: „Was gibt´s da zu Lachen? Ihnen ist der Ernst der Situation wohl nicht bewusst? Sie stecken in weit aus größeren Schwierigkeiten, als sie glauben!“
„Sehen sie“, sagte ich, “ich rede mit ihnen, weil mir ein bisschen langweilig ist. Ich warte auf mein Essen aus dem Restaurant, ich habe noch nicht mal meinen Anwalt informiert, ich mache mir also mordsmächtig Sorgen! Ungefähr soviel!“ Ich zeigte mit Zeigefinger und Daumen einen Abstand von mikroskopischen Zehntelmillimetern und hob die Hand in Augenhöhe…. „Sie sehen mich in die Hose scheißen.“
„Herr Steidle, sind´s doch vernünftig“, sagte der etwas ältere Kollege, Herr Weiß,
„…sie sind sich der Bedeutung und der Tragweite ihres Falles wohl nicht bewusst, oder?“
„Klären sie mich auf“, sagte ich und verschränkte die Arme.
Schwarz fing schon wieder an. „Ihnen treib´ ich die Arroganz schon noch aus, sie…!“
Ich beugte mich vor. Mit verschränkten Armen.
„Wissen sie was? Mit ihnen rede ich gar nichts mehr. Aus die Maus. Und tschüß. Ich will in meine Zelle.“
Weiß probierte es noch einmal. „Hören sie, mein Kollege meint es nicht so, er ist noch jung, und es geht um Leben und Tod von einigen Menschen, da sollte es ihre Pflicht sein, uns zu helfen.“
„Ja“, sagte ich; „das nächste Mal, aber nicht mehr mit dem Kasperl!“ ich nickte ihm zu drehte mich rum und klopfte an die Tür.
Ich durfte zurück in meine Zelle. Mein bestelltes Essen erhielt ich erst gegen Abend.
Ich würde mir ein Restaurant suchen lassen müssen, das auch untertags warme Küche bot. Nach dem Essen legte ich mich hin.
Ich hatte es oft und lange genug geübt. Hinlegen, Hirn ausschalten, Schlafen.
Hier wurde versucht, einem die Persönlichkeit mit Hilfe der Langeweile zu verbiegen.
Ich überlegte mir, wie es wohl weiter gehen würde.
Der Haftrichter hatte Haftbefehl erlassen wegen Verdunkelungs- und Fluchtgefahr.
Einen genauen Tatvorwurf hatte er nicht genannt. Er faselte irgendwas von organisierter Kriminalität, Bandenbildung usw.
Gefühlsmäßig hatte ich eindeutig Oberwasser, die konnten mir gar nichts.
Aber das ist eben nur gefühlsmäßig. Die können einem alles, wenn sie wollen.
Du wirst verprügelt und angepisst, alles von rechtschaffenen Demokraten in Uniform, obwohl du offiziell solange unschuldig bist, bis ein ordentliches Gericht deine Schuld bewiesen hat. Aber offiziell wirst du auch nicht verprügelt. Allein dieser Begriff. „Ordentliches Gericht.“ Das gibt’s nicht.
Ein Gericht ist immer auf der Gegenseite und der Staatsanwalt gibt Gas wie ein provisionsgeiler Handyverkäufer.
Es wurde Zeit für einen Anwalt. Ich durfte telefonieren.
Dann kam wieder der Beamte. „Singstunde“, grinste er. „Nein“, grinste ich. „Märchenstunde“.

Die gleiche Kammer. Zwei neue Gesichter. Fotos auf dem Tisch.
Sowas kannte ich nur aus dem Fernsehen. Ok, ich hatte auch schon ein paar mal richtige Tote bei Verkehrsunfällen gesehen, einen Verbrannten nach Stromschlag, der war grad noch ´nen Meter zwanzig groß und schwarz wie Asphalt. Aber die Fotos hatten was, das musste ich schon zugeben.
Sezierte Leichen, aufgeschnitten, Teile neben dort. Schilder. Die beiden sprachen kein Wort.
Puh, das war schon beeindruckend, aber eine Baseballkeule ins Kreuz ist auch sehr beeindruckend. Und ich konnte ja gar nichts sagen. Es gab nichts zu sagen. Mir fiel auf, dass ich bis jetzt ja gar nichts gefragt worden war.
Weiterspielen, ermahnte ich mich; weiterspielen.
„Darf ich mir was zu Essen bestellen, solange wir hier sind? Ich hab Appetit auf geröstete Kalbsleber“, sagte ich.
„Kommen sie“, sagte der Beamte. Aber diesmal muss ich ihnen Handschellen anlegen, wir fahren in die Pathologie, ich will ihnen was zeigen.“
„Mit Handschellen fahre ich nirgends hin“, erklärte ich kategorisch.
„Ok, dann nicht.“ Der Beamte klopfte an die Tür. Ich durfte zurück in die Zelle.
Zuvor sagte mir der eine noch: „Geben sie Bescheid, wenn sie mit uns zusammen arbeiten wollen.“

Da lag ich wieder in meiner Zelle. Die Bilder in meinem Kopf wuchsen. Sie wurden grausamer, realistischer.
Da liegt jemand in der Sterbeabteilung eines Krankenhauses, auf dem Katapult ins jenseits, vielleicht ein Unfall, aber die Leber noch neu und unversoffen. Was so eine Leber wohl bringt? Ob es dafür einen Schwarzmarkt gibt? Ich konnte mir schon vorstellen, dass es dafür einen Markt gab. Es gibt für alles einen Markt. Wer sich ´s leisten kann…
23 Stunden täglich auf der Zelle können verdammt lange werden. Und täglich länger und länger. Und die eine Stunde Hofgang machte auch nichts besser. Alleine

Ich stellte mir vor, dass womöglich schon bei einem Unfall der Deal begann. Auch, wenn der Verunfallte vielleicht noch am Leben war. Dann wäre das Mord. Oder unterlassene Hilfeleistung. Aber damit hatte ich doch nichts…oder doch?
Die Zweifel wuchsen.
Mein Anwalt kam.
„Ich darf Ihnen Grüße bestellen“, sagte er. „Von wem?“, antwortete ich.
„Ich habe keinen Namen für sie, aber man denkt an sie“, sagte er.
Das konnte jetzt alles Mögliche heißen. Eine Warnung? Eine Aufmunterung?
 Ich fragte:“Wieviel kostet mich ihre Unterstützung?“ „Nichts“, antwortete er.
„Da sie in U-Haft sind, haben sie Anspruch auf Pflichtverteidigung.“
Wieder so eine Aussage, bei der ich mir aussuchen konnte, was damit wohl gemeint war. Ein sehr guter Anwalt mit einem sehr guten Namen bringt sich nicht selber als Pflichtverteidiger ins Gespräch. Also wurde er vermutlich von meinem Auftraggeber bezahlt. Wie auch immer.
„Was haben sie bisher erzählt?“, wollte er wissen.
„Nichts, ich glaube, die stochern immer noch im Nebel,“ erwiderte ich.
„Sehr gut, bleiben sie dabei. Sie sind bald wieder draußen. Ich denke, das kann ich ihnen garantieren. Jetzt, am dritten Tag ist es zwar unnötig, einen Antrag auf Haftprüfung zu stellen, aber ich werde es trotzdem mal tun. Sie sitzen hier nämlich fest ohne ausreichenden Grund. Zumindest sehe ich das so.
Und wenn sie wirklich nächste Woche noch hier sein sollten, lege ich Haftbeschwerde ein.“ Er erhob sich und reichte mir die Hand.
Ich war wieder allein.
Alles undurchsichtig. Dabei hatte das anfangs wirklich easy ausgesehen.
Ich wusste wirklich nicht, was ich transportierte. Ich dachte damals mehr an Waffen oder illegale Gelder. Auf Organe wäre ich nie gekommen.

Der Ablauf war immer der gleiche.
Man rief mich an. Nannte mir einen Bahnhof und eine Schließfachnummer. Dazu eine Uhrzeit und einen Ort, wo der Schlüssel lag. Das konnte eine Plastiktüte in einem Abfallbehälter sein, das konnte der Papierhandtuchspender in einer Toilette sein; es wechselte.
Ich mietete mir ein Auto, holte das Paket und fuhr in die Stadt, die auf dem Zettel stand. Dort stand ich zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Ort, ein Auto kam, ich gab das Paket ab, kassierte meine Kohle, und das war´s.
Mich hatte nie ein Name oder das andere Auto interessiert. Mir war es sehr recht, dass alles anonym und komplikationslos ablief. Anfänglich wurde auch vereinbart, dass ich nichts zu befürchten hatte bei Verzögerungen, die durch Stau oder Unfall verursacht worden waren.  Aber damit hatte ich nie Probleme, ich war einer der besten Kurierfahrer. Ultralange Strecken ohne Pause dahin zu rasen, war eine Spezialität von mir. Früher brachte ich beispielsweise Ersatzteile für einen Riesendampfer nach Genua. Nonstop. Weil die Liegegebühr ziemlich happig ist und Luftfracht mit Ein- und Auschecken langsamer war als ich. Gefahren wie die Sau, grinste ich meinen damaligen Boß im Kurierladen immer an, wenn er fragte, wieso ich schon wieder da sei. Vielleicht hatte man mich auch deshalb ausgesucht.
Auf solchen Touren  brachte ich es fertig, nicht mal zum Pinkeln das Fahrzeug zu verlassen. Meist fuhr man Sprinter oder Ducato. Wenn ich mal musste, stellte ich mich einfach am Parkplatz an die Seite, öffnete die Fahrertür, stellt mich aufs Trittbrett und ließ es rieseln. Das hatte Vorteile: Die Sohlen wurden nicht schmutzig, es gab keine Spritzer auf die Schuhe und ich war schnell fertig. Ob dabei jemand zusah oder nicht, war mir völlig egal.

War heute der 3. Tag? Oder der 4.? Keine Ahnung. Das Zeitgefühl leidet unter der Einsamkeit. Wieder kam der Beamte. „Singstunde.“

Den einen Kripo-Beamten erkannte ich. Der andere war neu.
„Kommen sie mit, Herr Steidle, keine Handschellen, aber keine Probleme, ok?“
„Gut“, sagte ich, „ich habe mir nichts vorzuwerfen, wieso sollte ich versuchen abzuhauen? Außerdem bin ich ein alter Sack und ihr seid sportlich viel besser drauf. Also witzlos!“
Sie nahmen mich in die Mitte. Steckten mich auf den Rückfahrsitz eines neuen Audi A6.
Ich tat ihnen nicht den Gefallen, zu fragen, wohin die Fahrt führt. Ich konnte es mir auch so denken.

In einer Tiefgarage ließ man mich aussteigen. Wir durchquerten zwei Stahltüren
Dann sah ich eine Flügeltüre: Gerichtsmedizin – Pathologie.
Shit, dachte ich mir. Jetzt probieren sie es auf die Tour.
Eine Seite des Raumes glänzte. Die Edelstahltüren der Einschübe mit den Leichen.
So was hatte ich bisher nur einmal im Original gesehen, als ich in einem Krankenhaus mit dem Aufzug mal ein Stockwerk zu tief gefahren war und ich nicht darauf achtete, welche Türen ich öffnete.
Trotzdem war der Raum hier anders.
Hier standen ein paar Zeiss-Stereo-Mikroskope rum, endoskopische Geräte namhafter japanischer Hersteller; von der Decke hingen an Zugdrahtseilen Werkzeuge, die verdammte Ähnlichkeit mit einer Flex hatten. Und einem Dremel.
Nur alles in Edelstahl poliert. An den Wänden Waschbecken, Latexhandschuhe, Papiertücher. Sprechanlage. Fotoapparat. Überwachungskamera. Alle Liegen leer.
Ein Herr in Weiß sagte nur: „Anfangen?“
Einer meiner Begleiter nickte. „Gehen sie näher zu ihm, Herr Steidle, er wird ihnen was zeigen.“ Ich konnte mir lebhaft vorstellen was. Hier unten war es kühl, was mir normalerweise nichts ausmachte. Ich fuhr sogar im Winter mit geöffnetem Fenster.
Aber jetzt wurde es mir schon kühl, eigentlich verdammt kalt. Der Mann in weiß zog an einer der Klappen. Fast lautlos schob sich die Bahre ins Freie. Wer oder was immer da drauf lag, war mit einem Tuch abgedeckt. Aber es war wirklich so wie im Fernsehen: Am Zehen hing ein handbeschrifteter Zettel. Wie früher die Kofferanhänger.   Kleiner Fuß.
Die Liegefläche der Bahre konnte fast nahtlos auf einen Wagen gezogen werden.
Er zog den Wagen unter eine Scheinwerferbatterie. Ich erkannte eine kleine Röntgenkanone dazwischen. UV-Scheinwerfer. Hier wäre ich unter normalen Umständen gerne ein paar Tage geblieben und hätte meinen Wissensdurst gestillt, aber im Augenblick hätte ich gerne darauf verzichtet.
Der Mann in Weiß zog das Tuch von der Leiche zurück wie ein Zauberer das Tuch vom Zylinder. Hätte noch gefehlt, dass er –Voilá- gesagt hätte.
„Sehen sie sich das genau an! Das ist möglich, weil es Leute wie sie gibt, die bei allem mitmachen!“, schrie er mich beinahe an. Oder kam mir das nur so vor.

Diese Schweine! Da lag ein Mädchen, irgendwas zwischen 8 und 12, soweit ich das aus dem, was ich sah, beurteilen konnte. Da lag das, was von einem Mädchen noch übrig war. Und das war verdammt wenig. Ich hatte wirklich mit mir zu tun. Kotzen? Bloß nicht! Wegschauen? Nein! Ich hätte beinahe vor Wut aufgeheult und geweint.
Nein, sowas ist nicht möglich, weil Leute wie ich solche Geschäfte mit machen. Sowas ist möglich, weil Leute wie er erst so ein System entwickelt haben, das solche Geschäfte möglich macht. Damit beruhigte ich mich zuerst.
Der Mensch verträgt fast alles, wenn er weiß, warum. Sei mit dir und deinen Taten im Reinen und du wirst keine Probleme haben. Egal, was du tust. Aber das war hier war der Hammer. Ich werde schon wütend, wenn ich auf einem Friedhof an der Ehrentafel für gefallene und fern der Heimat verbuddelte Soldaten vorbei komme.
Mit welchem Recht schickt ein Staat junge Menschen in den Tod?

Ich hatte früher keine Probleme damit, andere blutig zu schlagen. Ich hatte keine Probleme, Tote bei irgendwelchen Unfällen zu sehen. Aber das hier? Mein Gott!
Ich stellte mir vor, dass ihre Geschwister oder ihre Eltern sie so sehen mussten.
Das macht einen doch fertig für den Rest des Lebens.
Trotzdem: für mich galt – Schnauze halten! Jeder ist sich selbst der Nächste!
Die konnten mir nichts. Das hier nur war nur der Versuch, mich zu schwächen, zu demoralisieren, meine Wut zu entfachen – eigentlich egal, wie ich es nannte. Man wollte mich manipulieren, damit ich Auskünfte gab. Blöd nur, dass ich fast gar nichts sagen konnte, selbst wenn ich gewollt hätte.
Der Beamte stand an meiner Seite. „Helfen Sie uns! Helfen Sie uns Herr Steidle.
Wir haben den Verdacht, dass dieses Mädchen keines natürlichen Todes starb.
Und wir haben Informationen, dass Organe von Kindern für sehr viel Geld gehandelt werden. In die ganze Welt! Helfen sie uns!“

„Das ist noch nicht alles!“, sagte der Mann in weiß, von dem ich annahm, dass er der Doc war. Seine Stimme wurde lauter. „Noch eine?“ Wissen sie überhaupt, was hier abgeht? Was hier insgesamt los ist?“

Ich schaute immer noch auf diesen zerstückelten und zerschnitten Torso mit dem halben Kinderkopf und einem Auge. Sogar der Unterkiefer fehlte. Oberkiefer zahnlos.
Nackt.
Zynischer weise kam mir der Gedanke, dass man sich hier wenigstens sicher sein konnte, dass sie tot ist. Die würde sicher nicht als Scheintod begraben oder verbrannt werden. Und wer weiß, vielleicht hatte man dem Mädchen durch seinen frühen Tod ein hartes Leben erspart. Vielleicht wäre sie krank geworden. Vielleicht vergewaltigt. Vielleicht vielleicht. Vielleicht wollte man mich aber einfach nur schockieren, damit ich redete.
„Sie haben kein Recht, mir solche Bilder aufzuzwängen, richtig?“, sagte ich zu dem Beamten.
„Sie haben recht, stimmt“, sagt er. „Verzeihen sie. Kommen sie“.


Ich hatte in jungen Jahren eine Zeitlang in einem Schlachthaus gearbeitet. Es hat mich damals tief beeindruckt, wie die Viecher gekillt wurden. Noch mit dem Bolzenschußapparat. Dann mit einem langen, bald fingerdicken Kunststoffdraht in den Schußkanal der Schädelplatte rein, damit die letzten Reflexe erstarben. So ein Stier zappelte dann noch mächtig gewaltig und schlug, schon am Boden liegend, nochmal richtig um sich.
Dann wurden die Rinder in sehr kurzer Zeit im Akkord zerteilt und zerlegt.   
Und pünktlich um 9 Uhr kamen die Ausbeiner und Metzger in die Kantine. Blutüberströmt, stanken nach Blut und anderen Körperflüssigkeiten und kauften sich zwei Wurstsemmel. Manche hatten noch Blut an den Händen.
Der Mensch gewöhnt sich an alles. Die meisten.
Wenn die leeren Rinder-Hälften auf der anderen Seite an der Kette hängend auf ihrem Weg zum LKW oder ins Kühlhaus rauskamen, konnte man oft noch beobachten, wie einzelne Hautpartien zitterten. Es waren immer noch Muskelreflexe.
Ich stellte mir damals schon die Frage: Wann ist eigentlich jemand tot? Richtig tot?

Gut, wenn er verfault ist, nur noch ein Gerippe. Aber wenn er grad gestorben ist?
Nur weil er oder sie angeblich nicht mehr atmet? Nach diesem letzten Aufbäumen, dem berühmten letzten Zitterer – war man da wirklich tot? Und: was ist tot?
Schmerzfrei rumliegen auf dem Weg ins Nirwana? Gab´s da was oder gibt’s da nichts?
Ich habe mir solche Fragen immer verweigert. Aber hier? Ich konnte gar nicht anders, ein ganzes Bündel solcher Fragen stürmte auf mich ein.
Wir standen draußen auf dem Gang. Ich glaubte ihm, dass ihn dieser Fall sehr mitnahm. „Sie wurde wahrscheinlich ermordet“, sagte er. „Vermutlich wäre sie  noch am Leben, wenn sie nicht irgendjemand ausgeschlachtet hätte. Das müssen Fachleute sein, aber wir haben keine Namen! Deswegen brauchen wir sie!
Irgendwelche Kontakte, Orte, Autonummern, Namen, Telefonnummern, wann, wo, wie, was? Einfach alles, was ihnen dazu einfällt. Wir können auch nicht nachweisen, ob es wirklich Mord war. Wir haben – nichts! Helfen sie uns!“

Das war beeindruckend!
Sollte ich wirklich in mich gehen und alles aufzeichnen, was ich wusste? Eigentlich war es ja eh nicht viel. Seit bald zwei Jahren bin ich circa vier mal im Monat gefahren, meist im Rhein-Main-Gebiet, zu unterschiedlichsten Zeiten, an die ich mich unmöglich erinnerte. Gut, sie konnten die Car-Rentals überprüfen. Ich hatte immer ganz real auf meinen Namen gemietet, aber das war ja nicht strafbar.

Ob mir das Bild des kleinen Mädchens jemals wieder aus dem Kopf gehen würde?
Vielleicht hatte man sie ja obduziert, weil sie aufgrund einer seltsamen Krankheit gestorben war? Aber wieso lag sie dann in der Gerichtsmedizin? Oder waren beide Abteilungen zusammengelegt in einem Krankenhaus? Sollte der Schock mich manipulieren, überrumpeln?

Fragen über Fragen. Was hatte das Mädchen davon, wenn ich das Wenige, was ich wusste, erzählte?

Der Doc erzählte mir noch, wie eine Organspende bzw. –Transplantation richtig abzulaufen hätte. Wie geprüft wurde, ob jemand wirklich tot war. Gehirntod!
Großhirn, Kleinhirn, Hirnstamm. Im EEG durfte es keine Impulse, keine Reaktionen mehr geben. Es müssen Reflexionen geprüft werden. Augenreflexe, Schmerzreflexe.
Dem möglichen Spender wird in die Nasenscheidewand geschnitten. Soll die schmerzhafteste Stelle sein, weil dort der Trigeminus läuft. Hoch sensibles Nervengewebe. Und er erklärte mir noch ein paar Kleinigkeiten, mit denen man den absoluten Tod feststellt. Laut Transplantationsgesetz müssen solche Untersuchungen von zwei dafür qualifizierten Ärzten durchgeführt werden, die ansonsten mit der Organspende bzw. der Transplantation absolut nichts zu tun haben. Soweit das Gesetz. Ein zart besaitetes Gemüt wäre spätestens jetzt zusammen gebrochen.
Ich antwortete nichts. Ich war auch nichts gefragt worden.
Sie brachten mich wieder zurück.

Mein Anwalt brachte mir das Transplantationsgesetz plus Kommentar, neueste Fassung. Dazu richtungweisende Urteile. Und die beruhigende Information, dass es bis zur Stunde in der Rechtssprechung keinen Fall gab, in dem der Transport von Organen ein Verbrechen gewesen wäre. Mir kann also nichts passieren, solange man mir nicht nachweisen kann, an der Beschaffung oder am Handel beteiligt gewesen zu sein.

Aber diese positive Nachricht löschte die Bilder in meinem Kopf nicht aus.
Mein Gott. Ich setzte mich hin und habe diese meine Geschichte geschrieben.
Papier und Schreibzeug gibt’s in jedem Knast zuhauf.
Ich habe meinen Anwalt gebeten, diesen Artikel, den er als Verteidigerpost unkontrolliert mit rausnehmen durfte, an meinen Bruder weiter zu leiten.

Aus der Bettwäsche habe ich lange Streifen gezogen, die ich zu einem Strick verflochten habe.

Und wenn sie diesen Artikel lesen, wissen Sie:
Wenn es ein Jenseits gibt, habe ich inzwischen mit dem Mädchen gesprochen.
Oder mit dem, was sich ins Jenseits retten konnte. Manche nennen es Seele.
Ob ich auch eine habe?


Das ist mien Beitrag für einen Kurz-Krimi-Wettbewertb.
Der Roman folgt.
Freue mich über jeden fundierte Kritik bzw. Kommentar.
Viel mehr von mir gibts im Internet. Googlen Sie mit   -riederliest-   





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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.01.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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