Klaus Buschendorf

In Trümmern


Im Jahre Zwei nach dem großen Krieg zog eine Mutter ihren kleinen Jungen durch die Trümmerberge. Einen Schal trug sie wie einen Turban um den Kopf gebunden. Alle Leipziger Trümmerfrauen trugen das zu abgetragenen Mänteln. Gute, teure Kleider sah man in der Großstadt nicht mehr. Sie waren eingetauscht worden auf Hamsterfahrten übers Land. Eier, Fleisch, Mehl und anderes Essbares hatten sie von Bauern dafür bekommen. Wütend sah man zurück auf die Geizkragen, die immer zu wenig gaben. Doch was sollte man tun? Man musste ja essen. Keiner der Städter hatte je gesehen, dass ein lachender Bauer seinen Kuhstall mit eingetauschten Teppichen auslegte. Doch bei der Rückfahrt auf Dächern und Puffern der überfüllten Eisenbahnwaggons war diese Vorstellung ihr Reisegespräch.
Der Junge quengelte an der Hand der Mutter. „Will mit denen spielen.“ – Die Mutter sah die kleine Jungengruppe. Sie spielte Hasch mit Verstecken in halb verschütteten Kellern und eingestürzten Hausfassaden. „Viel zu gefährlich. Sind auch zu groß für dich. Wenn das ihre Eltern wüssten!“ – Neidisch sah der Junge weiter hin. Wortfetzen drangen an ihre Ohren.
„Traust dich nicht“, motzte einer. – „Ich schon. Du bist feige!“
Die Mutter zog ihren Sohn schnell weiter. Ringsum Trümmer, vielleicht lagen gar noch Blindgänger herum, alles gefährlich, der Junge muss hier weg. Doch er sträubte sich, zerrte an ihrer Hand. „Sieh doch mal!“ – Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Einer der Jungen kletterte einen Mauerfirst hinauf. Der Rest einer Fassade führte in die Höhe, Ziegelstein für Ziegelstein, wie eine schmale Treppe. Der Junge stieg unermüdlich aufrecht vorwärts, den Blick nach oben gerichtet. Entsetzen erfasste die Mutter.
Einer rief: „Komm zurück, wir glauben dir!“ Die Jungen sahen gebannt nach oben. Ihre Körper drückten Bewunderung, Hoffen und Angst aus. Leichter Wind fuhr in ihre viel zu weiten Jackenärmel.   
Auf Höhe der ersten Etage erreichte der Kletterer ein gerades Stück. Vier Ziegel breit bot die Mauer eine Plattform. Er wendete sich um. Sein triumphierendes Lächeln strahlte herunter. „Na?“ – „Komm wieder runter! Es reicht.“ – „Ich trau mich noch viel mehr!“ Der Kletterer wandte sich wieder der Mauer zu. Sie wurde schmaler. Er ließ sich nieder, krabbelte mit Händen und Füßen weiter nach oben.   
„Um Gottes Willen“, entfuhr es der Mutter.   
„Ein Held, ein Held!“  
Im abgerissenen Wehrmachtsmantel, Soldatenmütze auf dem Kopf, stand ein verhärmter kleiner Mann jenseits der Mauer. Den Kopf hoch gereckt, schien der Mützenschirm auf den kletternden Jungen zu weisen.   
„Es gibt wieder Helden, jetzt, wo alle gefallen sind. Dort!“ Ein gespenstisches, hageres Gesicht. Es zeigte nach oben in den zweiten Stock, wo der Junge unermüdlich wie eine Katze kletterte. Der schien nichts zu hören, hingegeben auf Ziegel vor ihm und zur Spitze starrend. Frei ragte sie im vierten Stock ohne jeden Seitenhalt.   
Weg wollte die Mutter, nur weg! Ihr Junge sollte nicht sehen, was geschehen könnte! Doch sie fühlte sich gelähmt an allen Gliedern.   
Der Kletterer erreichte den letzten Ziegelstein. Er richtete sich auf, eine Windböe ließ ihn taumeln. Ohne einen Laut verschwand sein Körper, als hätte es ihn nie gegeben.  
Die Jungen rannten durch enge Mauern davon und verschwanden im Ziegelstaub. Auch der Rufer war nicht mehr zu sehen.   
„Was war das?“ – „Ein Traum, ein schlechter Traum!“ Die Mutter zerrte ihren benommenen Sohn weiter. „Vergiss ihn schnell!“ – Spitze Steine auf dem Trampelpfad durch die Ruinen, abgeknickte und zerborstene Wasserrohre fesselten die Blicke der beiden, wollten sie nicht straucheln.
Als sie die Trümmer verließen und den Hauptbahnhof vor sich liegen sahen, glaubte der Junge, ihn habe eine schlimme Einbildung genarrt. Seine Mutter trat an die Lore der Trümmerbahn. Sie stellte sich in die Reihe der Frauen, bückte sich und warf abgeklopfte Steine hinein. Der Junge folgte ihr. Seine ganze Kraft brauchte er für jeden einzelnen Stein. Schnell vergaß er, was er vergessen sollte. Er war noch so klein und so jung.
 

Hallo,

die Geschichte ist der Prolog zu meinem bei Book on Demands erschienenen Band "Kriegskinder ... nach dem Zweiten Weltkrieg". Ich hoffe, sie gefällt Euch und verleitet Euch zum Lesen. Einzelheiten findet Ihr auf meiner Homepage www.buschendorf.jimdofree.com.

Noch viel Spaß beim Stöbern auf den Seiten e-Stories wünscht

Klaus Buschendorf
Klaus Buschendorf, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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