Irene Beddies

Die Wand



Sie lebten in einem kleinen Haus am Ende des Dorfes nahe dem Wald.
Das Haus hatte einmal bessere Zeiten gesehen, jetzt war es heruntergekommen und ein  wenig baufällig.
Sie wohnten schon über vierzig Jahre dort. Sie waren alt und durch ständige Auseinandersetzungen verbittert. Er konnte ihr nicht treu sein und beanspruchte stets alles Gute für sich. Mehrmals hatte er sie auch misshandelt.
Seit Jahren sprachen sie nur noch das Nötigste miteinander, wenn sie nicht erbittert stritten.

Eines Tages, als die Frau zum Einkaufen in die Stadt gefahren war, holte der Mann Ziegelsteine vom Hof, die dort in einer Ecke vergessen lagen. Er nahm die Maurerkelle und rührte Mörtel an. Mühsam mauerte er eine Wand quer durch den Hausflur.
Als die Frau schwer beladen nach Hause kam, fand sie die Haustür verschlossen. Auf ihr Klingeln hin öffnete der Mann nicht.
Sie ging zum Hintereingang, der direkt in die Küche führte, und trat ins Haus. Sie packte die Vorräte aus, verstaute sie und setzte Wasser für einen Tee auf.
Als sie im Bad ihre Hände waschen wollte, stand sie vor der unverputzten Mauer, die ihr den Durchgang in den vorderen Teil des Hauses versperrte.
Kopfschüttelnd ging sie zurück in die Küche, braute sich den Tee und trank erst einmal eine Tasse.
Langsam dämmerte ihr, dass diese Mauer eine neue grausame Gemeinheit ihres Mannes war.
 
Sie nickte bedächtig mit dem Kopf und überdachte die Situation.
Dann ging sie, um ihr neues, alleiniges Reich zu inspizieren.
Gegenüber der Küche befand sich der Raum, den sie in früheren Zeiten als Gästezimmer benutzt hatten. Hier befand sich ein Waschbecken. Sie drehte den Hahn auf, rostiges Wasser floss heraus. Das ließ sie eine Weile ablaufen, bis es klarer wurde. Gut so.
Im Zimmer befanden sich ein Bett und ein Kleiderschrank. Als sie ihn öffnete, kam ihr ein Haufen Kleider und Wäsche entgegen, all die Sachen, die ihr gehörten.  Geld fand sie später auf der Küchenkommode. Gut so.
Sie konnte beginnen.
 
Den Abend verbrachte sie grimmig damit, ihre Sachen zu ordnen, das Bett zu beziehen und in der Küche ein wenig umzuräumen. Die Küche musste nun auch ihr Wohnraum sein.
Das einzige Problem war, dass sie die Toilette nicht erreichen konnte. Die war im Bad auf der anderen Seite der Mauer. Da musste sich eine Lösung für die Dauer finden, im Moment konnte sie sich mit einem Eimer behelfen.

In der Nacht konnte sie nicht einschlafen, das Bett war zu ungewohnt. Sie stellte sich vor, wie es auf der anderen Seite des Hauses wohl aussehen und zugehen mochte.
Ihr Mann behielt das gemütlich und gut ausgestattete Wohnzimmer, das geräumige Schlafzimmer und das moderne Bad für sich. Das sah ihm ähnlich, er hatte sein Leben lang immer das Beste für sich gewollt.
Wo aber wollte er kochen, abwaschen und seine Vorräte aufbewahren? Im Wohnzimmer stand zwar der große Kachelofen, aber auf dem konnte kein Kochtopf stehen. Er musste sich im Bad eine Küchenecke einrichten – oder das Wohnzimmer teilen, obwohl dort natürlich weder ein Wasseranschluss noch ein Abfluss vorhanden waren.

Bei diesen Gedanken kam allmählich Schadenfreude in ihr auf.
Männer waren doch zu unpraktisch! Er überließ ihr den bei weitem besseren Teil des Hauses, wenn auch den weniger ‚prunkvollen‘ und erheblich kleineren.
Sie würde weniger Arbeit haben!
Sie würde es sich schon äußerst gemütlich machen!
Mit diesen Vorstellungen schlief sie endlich ein.

Spät am Morgen wurde sie durch lautes Fernsehen geweckt. Ihr Mann hatte den Apparat auf volle Lautstärke gedreht, um sie zu ärgern. Sollte er ruhig, sie hatte ‚Ohropax‘.
Wie aber konnte sie ihn  ärgern?
Sie ging ins Dorf und kaufte eine fette Ente, das Lieblingsgericht ihres Mannes. Sie zerteilte die Ente, verpackte die meisten Stücke in Folie und fror sie ein. Lediglich einen Schenkel bereitete sie vor, würzte ihn und schob ihn in die Bratröhre. Als sich der Duft des Bratens so richtig entfaltete, öffnete sie das Küchenfenster weit, damit der Duft bis zu ihrem Mann drang.
In den folgenden Tagen nahm sie jeweils ein anderes Stück Ente aus dem Gefrierfach und briet es mit Kräutern, Äpfeln und Gewürzen. Sie malte sich jedes Mal aus, wie ihrem Mann der Duft um die Nase wehte und ihm zeigte, wie gut er es bei ihr gehabt hätte (obwohl sie ihm seit Jahren keine Ente mehr zubereitet hatte).

Mit der Zeit besserte sich ihre Laune zusehends. Sie blühte förmlich auf.
Auf den Fensterbrettern in der Küche und im Schlafzimmer blühten Blumen in Töpfen, draußen vor der Eingangstür zur Küche standen Kübel mit Lavendel, Rosmarin und Basilikum. Auch das Toilettenproblem hatte sie gelöst und einfach ein  Klohäuschen gemietet und neben dem Fliederbusch aufstellen lassen. Eine alte Gartenbank war ihr von einem Bekannten geschenkt worden, die sie vor die Küche gestellt hatte. Hier saß sie  im Sonnenschein und strickte oder las. Manchmal versuchte sie sich an einem Liedchen aus Kindertagen. Zuerst kam die Melodie krächzend, aber mit der Übung klang ihre Stimme von Tag zu Tag besser.
Nach und nach fand sie einen Frieden, den sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr gekannt hatte. Fast sorglos lebte sie in den Tag hinein, ging ihren kleinen Besorgungen nach, wenn es gar nicht mehr zu vermeiden war, und gab sich dem Genuss der Ruhe und den Erinnerungen an ihre Jugendzeit hin.

Ihren Mann bekam sie selten zu Gesicht, er vermied es, in den hinteren Teil des Grundstücks zu kommen. Er gab es inzwischen auch auf, sie mit lautem Fernsehen oder anderem Krach zu stören, da er von ihr keine Reaktion auf den Lärm bekam.

An einem Nachmittag im Spätherbst hielt ein schwarzes Auto vor dem Haus. Schwarzgekleidete Männer und ein Polizist verschafften sich Zutritt zum vorderen Eingang. Etwas später holten sie einen Sarg, den sie auch wieder hinaustrugen.
Ihr Mann war also gestorben.
Der Polizist murmelte in der Küche sein Beileid und übergab ihr den Schlüssel zur vorderen Eingangstür.
Erst am nächsten Morgen betrat sie nach langen Monaten wieder das Wohnzimmer. Sie erschrak. Überall türmte sich Müll. Eine Ratte huschte unter das Sofa. Im Schlafzimmer sah es nicht anders aus, in Bergen schmutziger Wäsche lagen verstreut Flaschen und Bierdosen.
In den Räumen roch es unangenehm.
Sie sah einen Haufen Arbeit auf sich zukommen, aber sie war  f r e i!


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.01.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Buch von Irene Beddies:

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