Martin Wolfarth

Casevac



<<Pass auf Mann, nicht die Dinger da anfassen!>> schrie Marcel. <<Ich glaub´, das ist die Leber.>>, entgegnete Henry. Er riss das große Verbandpäckchen auf und bedeckte damit die Gedärme des Mannes.
<<Quatsch, das ist nicht die Leber, das ist ne Lunge.>>
<<Ach ja, und wo ist dann die andere?>>
<<Keine Ahnung, irgendwo in dem Haufen Innereien da. Ist auch egal, der Kerl ist sowieso nicht zu retten.>> Marcel seufzte erschöpft.
<<Man hat uns beigebracht, solche Wunden mit dem Brandwundentuch zu bedecken!>>, entgegnete Henry störrisch.
<<Ja, aber das ist keine Wunde, das ist…ach…einfach eine Riesensauerei!>>
Die beiden versuchten trotzdem, den Mann so gut wie möglich zu versorgen. Das Problem war nur, dass er ständig versuchte, seine Innereien wieder in sich hineinzustecken und dabei röhrte wie ein Elch. Marcel versuchte, die Arme des Mannes festzuhalten, so dass er den Verband nicht wieder wegreißen konnte. Auch das war gar nicht so leicht, da ein anderer Mann in einem dreckigen Blaumann ständig versuchte, zu dem Sterbenden zu gelangen und die Helfer von ihm wegzureißen.
<<Dima, Brudaaa, was machsch du, komm her, komm mit mir, wir gehen nach Haus!>> schrie der Blaumann etwas übertrieben und rang seine Hände, während er weiter versuchte, zu dem Sterbenden , der offenbar Dima hieß, zu gelangen. Inzwischen war ein dritter Soldat eingetroffen, der ihn nun zu beruhigen und von dort wegzuführen versuchte.
Dima konnte ohnehin nicht mitkommen, da er keine Beine mehr hatte.
<<Aaaah, hilfsch du meinem Diiiima, ja, hilfsch du ihm?>> schrie sein Bruder und packte den Soldaten an dessen Feldbluse. Der wurde nun etwas energischer und drängte den Mann mit Hilfe seines Gewehres weiter ab.
<<Keine Sorge, wir kümmern uns um Ihren Bruder>>, beruhigte ihn der Soldat, während er ihn weiter vorwärts schob.
<<Wladi, isch verreck, bleibsch du hier Mann!>> grunzte Dima, aber sein Bruder wurde weiter auf Distanz gehalten.
Henry konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während er den Verband nun endlich halbwegs festziehen konnte.
Die Rollenspieler waren ebenfalls Soldaten, so wie er und Marcel, die natürlich kein Afghanisch sprachen und daher oft behelfsweise in den Gossenslang im Stil von Erkan und Stefan verfielen, wenn sie Dialoge von Ausländern nachahmten.
Er hatte so etwas schon bei der vergangenen Einsatzvorausbildung erlebt. Da war es sogar noch lustiger gewesen, als ein Sachse den Boss eines illegalen Checkpoints gemimt hatte und dem zuständigen deutschen Offizier mit <<Nu jo, dorten können se nisch nein>> den Zugang verwehrt hatte.

<<Casevac, morgen erwartet uns ein Casevac>>, hatte der Oberleutnant bereits am Vortag angekündigt und ihnen erklärt, dass damit ein Massenanfall von Verwundeten gemeint war. <<Genau genommen bedeutet es casuality evacuation. Beim Casevac werden wir uns um so viele Leute zu kümmern haben, dass wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht. Da können Sie sich warm anziehen, meine Herren, das wird eine extreme körperliche Belastung. Aber – wir sind dafür optimal ausgebildet>>, hatte er großspurig getönt. In seiner stets schrillen Stimmlage hatte es sich für Henry allerdings wie eine beklaute Ratte angehört, die in Panik <<Käse weg, Käse weg!>> rief. Wie auch immer, innerlich hatten sie sich alle hauptsächlich auf die sanitätsdienstliche Versorgung von Verwundeten eingestellt.
Der Blaumann hatte sich nun etwas beruhigt und Marcel half dem anderen Soldaten, ihn auf Distanz zu halten. Henry sprach einige beruhigende Worte zu dem sterbenden Dima, der es sich aber inzwischen anders überlegt hatte und nun ganz auf tot machte.
Henry sah sich um. Es herrschte immer noch ein ziemliches Getümmel in dem nachgestellten Dorf, auf das sie während ihrer Patroullienfahrt nicht ganz überraschend gestoßen waren. Hinter ihm verließ gerade ein Trupp von sechs Mann ein Haus voller Rauschschwaden, welches sie nach Verwundeten abgesucht hatten. Sie trugen ihre ABC-Schutzmasken, um keinen Rauch einzuatmen. Natürlich hatten sie keinen Verwundeten dort gefunden. Wie hätte man es auch anstellen sollen, einen Rollenspieler vor der Ankunft der Kolonne in die verqualmte Bude zu legen? Dann hätte man wirklich einen medizinischen Notfall gehabt.
Ungefähr 50 Meter weiter links legte Hauptfeldwebel Krüger mit drei Mann rote und gelbe Markierungstücher auf der Wiese aus, um einen provisorischen Hubschrauberlandeplatz zu markieren. Dort sollten wohl die Verwundeten, die noch Beine hatten, abgeholt werden.
Henry konnte Krüger nicht leiden. Er war der typische Luftlandefernmelder: Humorlos, unerbittlich und an einseitige Kommunikation gewöhnt. Seine stahlblauen Augen hatten Henry unerbittlich gemustert, als sie sich das erste Mal begegnet waren. „Parieren oder krepieren“ hatten diese Augen zu ihm gesagt. Krüger würde im Einsatz Henrys Staffelführer sein. Henry wurde in Afghanistan von den Jungs aus seiner Einheit getrennt. Er konnte Krügers Stimme hören, als er seine Leute wie Vieh über die Wiese scheuchte. Er war offensichtlich in seinem Element. Henry stellte sich den entschlossenen Glanz von Krügers Augen vor, welche nun die Ankunft eines Hubschraubers erwarteten.
Ja, ein Hubschrauber, dummer Fallschirmhopser. Glück ab, Klatsch auf!
In lautstarker Vorfreude spornte Krüger seine Leute noch mehr an. Wenn er so weiterbrüllte, würde man den Hubschrauber gar nicht hören, wenn er anflog.
Inzwischen hatte der Patroullienführer, der bleiche Oberleutnant mit der Rattenstimme, den Dorfältesten ausgemacht und sprach mit ihm. Der Mann wedelte mit den Armen und schrie etwas, das sich wie Russisch anhörte. Aus einer Holzhütte ertönte ein ohrenbetäubender Knall und der Oberleutnant warf sich mit einem Schrei auf den Boden und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sein Funker stand neben dem Rollenspieler und sprach etwas in sein Funkgerät. Anscheinend übermittelte er die Koordinaten des Vorfalls und forderte den Hubschrauber und Krankenwagen an.
Henry kannte ihn. Es war der Stabsunteroffizier Franke, sein Truppführer im zweiten Zug. Während er in der linken Hand den Sprechhörer hielt, lag seine rechte lässig auf seinem G 36. Mit einem Nicken bedeutete er dem Dorfältesten, dass er die notwendigen Maßnahmen einleitete.
Rechts von Henry stand der Spieß der Kompanie, der dicke Hauptfeldwebel Hartmann, und rückte seine Hornbrille zurecht. Dann ließ er mit einer Stimmgewalt, die Henry von ihm sonst nur kannte, wenn der Kaffee im Geschäftszimmer alle war, einen Haufen konfus herumirrender Soldaten vor sich antreten. Es waren acht Mann, einige davon aus Henrys Zug. Souverän teilte der Spieß sie in drei Trupps ein und sandte sie zur Unterstützung anderer Gruppen aus, die seiner Meinung nach Hilfe benötigten. Am Notwendigsten brauchte diese Hilfe ein Trupp um den Stabsgefreiten Koch, der mehreren schreienden Verwundeten folgte, von denen zwei mit brennenden Armen und sichtlichem Spaß an ihrer Rolle immer wieder ausbüxten. Die zusätzlichen Soldaten bereiteten dem Schauspiel nun ein Ende, indem sie sich auf einen der beiden warfen und ihn über den Boden rollten, bis sein Arm nicht mehr brannte. Jetzt konnte der Trupp des Stabsgefreiten sich auf den zweiten konzentrieren. Langsam kreisten sie ihn ein und endlich konnte sich Rocky – das war sein Spitzname - auf ihn stürzen und ihn mit all seiner Körperkraft zu Fall bringen. Henry vermutete, dass sich der Verwundete jetzt nicht mehr so wohl in seiner Rolle fühlte.
Überall auf dem Übungsplatz wurden jetzt Verletzte versorgt, Gespräche zur Informationsgewinnung geführt und Sprengkörper markiert. Alles so, wie sie es bei der ersten Vorausbildung gelernt hatten. Auch der Patroullienführer erhob sich nun wieder und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen und dabei so selbstsicher wie möglich zu wirken. Er sah allerdings ziemlich orientierungslos aus. Wie eine Ratte im Labyrinth, deren Käse weg war.
Der Spieß teilte weiter die Trupps ein und bestimmte, welche Verwundeten zum Landeplatz gebracht werden sollten. Inzwischen traf der Krankenwagen ein und ein als Absperrposten eingeteilter Soldat mit Warnweste winkte ihn heran. Dazu ertönte nun das „flap flap flap“ eines leichten Transporthubschraubers, der zur Landung auf der markierten Wiese ansetzte. Die Jungs ließen sich hier wirklich nicht lumpen. Henry sah zu dem spielerisch leicht verstorbenen Rollenspieler herunter, der mit einem Tausend-Yard-Grinsen auf dem Gesicht den Toten mimte. Die ganze Sache hier war schon recht gut inszeniert. Der Verstümmelte war bis zur Hüfte in den Boden eingegraben, dazu hatte man ein paar Darmschlingen mit Kunstblut vor seinem Bauch ausgelegt. Henry fragte sich, ob sie den Rollenspieler zwischen den verschiedenen Durchgängen ausgruben, damit ihm die Beine in der kalten Erde nicht abfroren.
Für ihn gab es hier erstmal nichts mehr zu tun, also gesellte er sich zu dem Sammelplatz, an dem die leicht Verwundeten gelagert wurden. Einige jammerten und versuchten noch schwach, die Soldaten beim Verbinden der Wunden zu behindern oder ihnen ihre Waffen zu klauen, aber nachdem sich die Lage nun beruhigt hatte, waren Henrys Kameraden auf der Hut. Langsam senkte sich der Adrenalinspiegel wieder und die beruhigende Gelassenheit der militärischen Befehlskette kehrte zurück. Kopf ausschalten, Befehle ausführen.
Plötzlich brachen 30 Meter halbrechts von ihm mit wildem Gejohle zwei Zivilisten aus dem Unterholz. Einer davon war als Frau in Burka und mit einem Baby auf dem Arm verkleidet, der andere war ein Kerl mit Strumpfmaske und einem ovalen Ding in der Hand, das wie eine Granate aussah. Henry schluckte. Was sollte er jetzt tun?
Er rief <<Achtung Granate!>> und sah hilflos zurück zur Mitte des Platzes, wo der Patroullienführer stand. Dieser glotzte mit weit aufgerissenem Mund in die Richtung der Zivilisten, bis sein Funker sich auf ihn stürzte und ihn zu Boden warf. Überall fielen die Soldaten nun auf ihre Bäuche wie Dominosteine auf einem Tisch.
Henry entsicherte sein G 36 und schoss. Keine gezielten Schüsse sondern kurze, wütende Feuerstöße. Die beiden Zivilisten johlten protestierend auf und fielen geschmeidig ins Gras, sichtlich geübt in ihrer Reaktion.
Henry lief unter seinem Helm der Schweiß über die Stirn. Verdammt, was war das für eine Affenscheiße!? Er wusste, dass man nicht auf Zivilisten schießen durfte, schon gar nicht auf Frauen mit kleinen Kindern, aber was hätte er tun sollen?
Als er sich umsah, nahm er geteilte Reaktionen wahr:
Rocky, immer noch bäuchlings auf dem zappelnden Brandopfer liegend, sah ihn erstaunt an. Weiter hinten lag ein entsetzter Oberleutnant, dessen nach hinten gerutschter Helm ihn wie ein frisch geschlüpftes Küken unter einer halben Eierschale aussehen ließ. Auf ihm drauf grinste ein vergnügter Stabsunteroffizier Franke in Henrys Richtung und nickte ihm aufmunternd zu. Der Spieß hatte sich bereits mit einer ungewohnten Dynamik wieder in die Senkrechte gebracht und trabte nun zum Ort des Geschehens.
<<Was war los, Lutter?>> blafft er Henry an.
<<Zwei Zivilisten, Hauptfeldwebel, eine Frau und einer mit einer Granate!>> rief Henry ihm entgegen. <<Äh…Feind bekämpft, Herr Hauptfeldwebel!>>
<<Na Sie sind mir auch so ne Granate!>> blaffte der Spieß. <<Auf zum Landeplatz, helfen Sie die Zivilisten einzuladen, die Sie noch nicht erschossen haben!>>
<<Jawohl Herr Hauptfeldwebel!>>
Henry trabte mit hängenden Schultern davon.
 
Kurz darauf flog der Hubschrauber mit einigen schwer Verwundeten Oscar-Anwärtern ab und unmittelbar danach erschallte das vertraute „Übungsunterbrechung!“ des Ausbildungsleiters. Dieser, ein altgedienter Stabsfeldwebel namens Henninger, stellte sich nun am Straßenrand bei den Fahrzeugen auf  und sah den Oberleutnant etwas mitleidig an. Mit fester Stimme befahl er ihm, die Gruppe antreten zu lassen.
<<Patroullie, in Linie antreten>>, krächzte der Offizier.
Sofort kamen die Übungsteilnehmer aus allen Richtungen angelaufen. Die Ausrüstungsgegenstände der Soldaten klapperten, ein G36 fiel zu Boden und wurde fluchend wieder aufgehoben. Als alle Männer schnaufend ihr Ziel erreicht hatten, stellten sie sich in der befohlenen Formation auf.Auch die noch verbliebenen Rollenspieler erwachten nun wieder zum Leben und eilten zum Antretepunkt, bis auf den halbierten Kerl, der eingegraben blieb, sich aber interessiert so weit wie möglich umdrehte.
Die Rollenspieler kannten das Prozedere und stellten sich ebenfalls in Formation im rechten Winkel zu den Soldaten auf. Der Stabsfeldwebel begann mit der Auswertung:
<<So, nun kommen Sie alle erstmal zur Ruhe. Ruhig Blut und locker flockig durch die Hose atmen. Alles in allem hat mir Ihre Leistung gar nicht so schlecht gefallen.>> Dabei sah er insbesondere den Spieß an. Ihre Blicke begegneten sich kurz, ein visuelles Schulterklopfen zwischen zwei alten Haudegen, und ein kleines Lächeln umspielte die Mundwinkel von Henrys Kompaniefeldwebel.
<<Die Einteilung der Patroullienfahrzeuge zu Beginn mit den LKWs an der Spitze und am Kolonnenende war zweckmäßig und aufgrund der dort vorhandenen MGs zur Absicherung richtig. Beim ersten Knall haben Sie die Fahrzeuge auf der Straße anhalten und alle Mann absitzen lassen. Auch das ist so erstmal korrekt, da man die Minenlage abseits der Straße als gefährlich einschätzen musste.>>
Hierbei sah er nun den Oberleutnant an, der angesichts solch unverhofften Lobes augenblicklich um 5 cm wuchs und dem Stabsfeldwebel nun lächelnd in die Augen sah.
<<Aber, Herr Oberleutnant, wenn Sie die Minenlage schon mit einbeziehen, dann lassen Sie ihre Männer doch auch auf der Straße antreten, wo Sie eine Gefährdung durch Minen ausschließen können, und nicht direkt auf der Wiese. Und dann – das richtet sich jetzt an alle – kann man auch nicht einfach so drauflos stürmen. Der Spieß hat dann später zwar eine zweckmäßige Einteilung vorgenommen, aber da waren die meisten ja schon unterwegs und haben sich außerdem einen Scheiß um Minen gekümmert. Bei der Vorausbildung sollten Sie alle gelernt haben, dass man in so einem Fall zuerst eine Trittspur legt, und wenn die Verwundeten noch so laut schreien!>>. Der Stabsfelwebel kam nun richtig in Fahrt. <<Am Ende hat man sonst nur noch mehr Verwundete, wenn einem die eigenen Beine unterm Arsch weggesprengt werden. Also, das war gar nichts!>>. Die Soldaten der Kompanie blickten betreten zu Boden.
<<Und außerdem, Herr Oberleutnant, dürfen Sie nicht vergessen, dass Sie sich in einem Kriegsgebiet befinden. Und dann frage ich mich, warum Sie die MG-Schützen auch haben absitzen lassen? Während der gesamten Übung war kein Mann mehr bei den Fahrzeugen, geschweige denn an den schweren Waffen. Wer sagt uns denn, dass der große Knall hier nicht bloß ein getarntes Ablenkungsmanöver ist?! Jederzeit hätte einer meiner Rollenspieler auf den LKW klettern und Sie mit Ihren eigenen Waffen unter Feuer nehmen können!>>
Der Oberleutnant war nun wieder ganz das alte Bleichgesicht. Schuldbewusst  versuchte er, den Mund zu öffnen und etwas zur Entschuldigung vorzubringen, aber der Stabsfeldwebel war noch nicht fertig…
…<<Und dann leuchtet es mir auch nicht ganz ein, warum sie erst so spät mit der Gesprächsaufklärung begonnen haben. Ihre Leute waren ja schon alle in den Hütten und sonstwo unterwegs, bevor Ihnen klar war, ob nicht noch irgendwo Sprengkörper oder Minen sein könnten. Soweit es mir die Rollenspieler mitgeteilt haben, haben Sie auch überhaupt nicht nach der Ursache der Explosion hier gefragt.>>
<<Äh, ich dachte das wäre offensichtlich, daher…>>
<<Moment noch, Sie dürfen gleich sprechen>>, der Stabsfeldwebel ließ sich nicht beirren, <<dann sollten Sie auch darüber nachdenken, Herr Oberleutnant, ob es nicht klug wäre, gleich zu Beginn Antreten zu lassen und eine erste Einteilung Ihrer Männer für die klar ersichtlichen Brennpunkte vorzunehmen. Na gut, der Spieß hat das dann später übernommen>>. Der erfahrene Soldat mäßigte seinen Ton jetzt wieder. Scheinbar war er sich klar darüber, dass es nicht besonders förderlich für das Vertrauen der Soldaten war, ihren Vorgesetzten als völlig unfähig darzustellen.
<<Gut, der Funkspruch, den Sie an die Zentrale abgesetzt haben, war tadellos. Koordinaten, ungefähre Anzahl der Verwundeten und Art der Verletzungen, bereits getroffene Maßnahmen, Anforderung des Transporthubschraubers – alles erstklassig!>>
Der Oberleutnant sah nun etwas weniger gekränkt aus und hielt den Kopf wieder gerade. Es war schon bemerkenswert, wie schnell Lob einen Soldaten wieder aufrichten konnte. Henry schielte nach links und sah den Stabsunteroffizier Franke in der zweiten Reihe, ein wissendes Lächeln auf dem glatzköpfigen Gesicht. Der Stabsfeldwebel übergab nun die weiteren Auswertungen für den Part der Verwundetenversorgung an einen Sanitäter, der der Übung die ganze Zeit über beigewohnt hatte. Der betreffende Oberfeldwebel war klein und fett, hatte ein fieses Gesicht und eine rote Alkoholikernase. Henry schätzte ihn auf 25, obwohl er wie 40 aussah, aber das war unter Soldaten normal. Der Sani - sein Namensschild wies ihn als den Kameraden „Pfau“ aus – holte noch einmal tief Luft, offenbar um sich zu seinem vollen Umfang aufzuplustern. Als er ausatmete und einen panzerbrechenden Blick in die Runde warf, fiel Henry ein Spruch ein, den sein Spieß einmal zu seinem Zugführer gesagt hatte: <<Wenn du verwundet auf dem Feld der Ehre liegst und ein Sani kommt vorbei – tot stellen und warten, bis die Gefahr vorüber ist!>>
Der Oberfeldwebel begann mit der Auswertung:
<<Insgesamt war die Versorgung der Verletzten gut und dem Ausbildungsstand entsprechend. Bei den Brandopfern hat es etwas lange gedauert, bis sie versorgt wurden. Handeln Sie in diesen Momenten entschlossener. Diese Leute haben Schmerzen und aus Panik rennen sie erstmal weg. Schmerzen haben die aber sowieso, also drauf auf die Jungs und über den Boden rollen bis nichts mehr brennt!>>
 Der Oberfeldwebel holte wieder Luft. <<Die anschließende Kühlung der Wunden und der Einsatz der Brandwundenverbandpäckchen war ordentlich. Besonders gut hat mir die Lagerung hangabwärts gefallen, um dem Schock entgegenzuwirken. Auch das Zudecken mit der Wärmedecke ist in so einem Fall eine gute Idee. Denken Sie aber daran, die richtige Seite zu verwenden. Die silberne Seite nach oben, dann wird der Verwundete gekühlt!>>
Henry glaubte nicht daran, dass die Seite der Rettungsdecke wichtig war. Egal, ein wenig Lob war für sie alle Beruhigung nach der eben erlebten Adrenalinbombe. Der Sani fuhr fort:
<<Was allerdings nicht gerade optimal war, war die Versorgung des Mannes, dem die Mine die Beine weggerissen hatte. Dass man den Bauch mit dem Brandwundenverbandpäckchen bedeckt ist in Ordnung, aber warum in Gottes Namen haben Sie denn seinen Bruder nicht zu ihm gelassen!?>>
Keiner der Soldaten entgegnete etwas, die Frage war ohnehin rhetorisch gemeint.
<<Sie hätten sich einigen Ärger mit seinem Angehörigen erspart und den Sterbenden selbst auch beruhigen können, wenn Sie ihn zu ihm gelassen hätten. Da spricht überhaupt nichts dagegen!>>
Henry dachte an die Rollenspieler, die versucht hatten, ihre Waffen zu klauen, aber er behielt seine Gedanken für sich.
<<Also>>, fasste die Sanitätskugel zusammen, <<denken Sie das nächste Mal daran: bestimmt, aber nicht übertrieben dominant auftreten. Firm, fair, friendly ist unser Motto!>> Bei diesen Worten breitete er das Lächeln eines Mannes aus, der mehr als alle anderen weiß, dafür aber auch schlechtere Zähne als alle anderen hat. Der Pfau ging mit wichtigen Schritten zurück an seinen Platz und der Stabsfeldwebel kam zu seiner abschließenden Beurteilung.
<<Gut, meine Herren, insgesamt gesehen eine ordentliche Leistung. Über eines müssen wir allerdings noch sprechen>>, und dabei sah er ärgerlich in die Reihen der Soldaten, <<und zwar über das Auftauchen der zivilen Bedrohung.>>
Henry lief rot an.
<<Wie Sie alle sicher mitbekommen haben, liefen zwo Zivilisten auf das Lager zu, einer davon ein Mann mit einer Granate, einer davon eine Frau mit Kind.>> Er machte eine kurze Pause, um dann mit enormer Stimme – Gesicht zur Faust geballt – zu schreien:
<<Und wer von Ihnen, in Gottes Namen, hat in dieser Situationen verdammt noch mal auf die beiden Zivilisten geschossen!?>>
Henry wäre jetzt am liebsten noch tiefer eingegraben gewesen als der Rollenspieler ohne Beine. Die übrigen Soldaten sahen betreten zu Boden, selbst der alte Spieß verlagerte etwas verlegen sein Gewicht von einem Bein auf das andere.
<<Ich, Herr Stabsfeldwebel>> piepste Henry, die Augen immer noch auf den Boden gerichtet.
<<Treten Sie vor!>> schmetterte ihm der Ausbilder entgegen. <<Front zur Gruppe!>>
Henry tat wie befohlen und trat auf die Höhe des Stabsfeldwebels heran, dann drehte er sich um und sah in die Gesichter seiner Kameraden. Er wusste, was jetzt kommen würde. Sie wussten es auch, denn sie versuchten, ihn möglichst nicht anzusehen. Was nun folgen würde, war eine Demütigung, wie er sie in seiner Grundausbildung „zu Ausbildungszwecken“ oft erlebt hatte. „Konfrontation mit den Ausbildungsmängeln“ nannte man das im Fachjargon und damit war nichts anderes gemeint als die lautstarke Beurteilung des eigenen Versagens durch einen Vorgesetzten.
<<Sie alle haben in der Vorausbildung mehr als einmal gelernt, dass Sie gemäß den rules of engagement niemals, aber auch niemals auf Zivilisten schießen dürfen! Und jetzt sehen Sie sich diesen Mann an! >> rief der Stabsfeldwebel und deutete auf Henry, <<sehen Sie ihn sich genau an! >> Die Soldaten aus Henrys Einheit taten wie geheißen, die meisten von ihnen peinlich berührt. Keiner von ihnen war gerne dabei, wenn jemand aus der eigenen Einheit rund gemacht wurde.
<<Der hat Ihnen allen das Leben gerettet.>>, schloss der Stabsfeldwebel mit sanfter Stimme und Henry klappte die Kinnlade herunter. Hatte er grade richtig gehört?
<<Gut gemacht, Hauptgefreiter>>, sagte der Ausbildungsleiter anerkennend und klopfte Henry auf die Schulter. Er hatte also richtig gehört. Ein befreites Grinsen regierte jetzt sein Gesicht. Einige Soldaten aus seiner Kompanie lachten verhalten, andere murmelten ein erstauntes <<Henry>> und der Spieß lachte herzhaft. Schließlich applaudierte die ganze Gruppe, was Henry in seiner Zeit beim Militär noch nie erlebt hatte.
<<Ich werde Ihnen jetzt einmal sagen, was ich von solchen Regeln halte>>, fuhr der Stabsfeldwebel fort, <<nämlich gar nicht mal soviel. Regeln sind schön und gut, aber nicht in jeder Situation anwendbar. Benutzen Sie im Zweifelsfall Ihren Verstand, so wie es Ihr Kamerad getan hat. Es nutzt Ihnen nichts, wenn Sie sich an die Regeln gehalten haben, dafür aber Ihre gesamte Einheit weggesprengt wird.>>
Der Oberleutnant meldete sich nun zu Wort, sichtlich verstört:
<<Aber die Frau mit dem Kind? Die geht doch dann drauf, wenn der Kerl mit der Granate hinfällt und das Ding losgeht! Also ich finde so ein selbständiges Kamikaze-Verhalten völlig unangebracht.>>
<<Ja, Oberleutnant, das tut sie. Aber Sie alle leben weiter, und auch wenn wir dort unten sind, um die Zivilisten zu schützen – nicht um jeden Preis. Merken Sie sich das gut, und vor allem von Ihnen als militärischem Führer erwarte ich, dass sie zweckmäßige Entscheidungen zum Wohl Ihrer Männer  treffen können. Zuerst Ihre Männer, dann der Auftrag!>>
Der Oberleutnant schüttelte den Kopf, was den erfahrenen Ausbilder aber nicht störte. Er wandte sich noch einmal an Henry:
<< Hauptgefreiter, Sie können wieder eintreten. >>
<< Jawoll! >> Henry nickte und nahm seinen Platz in der ersten Reihe wieder ein.
<< Oberleutnant, übernehmen und aufsitzen lassen, Abmarsch zur nächsten Station>>. Der Stabsfeldwebel sagte das mit einem Blick auf den Offizier, der Bände sprach. Falls Sie dazu fähig sind, sagten seine Augen, und der Oberleutnant beeilte sich, dem Befehl nachzukommen.
Als die Gruppe sich in Marsch setzte hörte Henry noch, wie der Stabsunteroffizier Franke von vorne sagte: << Luther, gut so. >>
Henry fühlte sich gut. Das mit dem Auslandseinsatz würde schon werden. Wenn man seinen Verstand benutzte und nicht aus der Reihe tanzte, konnte einem vermutlich nicht viel passieren. Er war sich seiner Sache jetzt schon sicherer. Und so ein Casevac war eine Übungskünstlichkeit. Die Chance, dass man so etwas selbst erlebte, war verschwindend gering. Und selbst wenn – er wäre darauf vorbereitet.
 
Routine ist der Feind. Angst ist gut, um zu überleben. Angst hilft, wachsam zu bleiben. Das war der Ratschlag, den sein Zugführer ihm für dieses halbe Jahr mit auf den Weg gegeben hatte. Für den Einsatz waren sie unterschiedlichen Einheiten zugeteilt worden. Henry konnte seinen Rat ohne Probleme befolgen, denn Angst hatte er wirklich. Nicht jeden Tag, aber so oft es ging.
Hauptfeldwebel Krüger war nun sein Staffelführer, und der Aufklatscher (so nannten sie den Luftlandefernmelder) hatte sich als genauso harter Vorgesetzter erwiesen, wie sie es erwartet hatten. Trotzdem war er ein kompetenter Anführer, genau genommen der beste Staffelführer weit und breit. <<They are the best guys here>> hatte der Chef der norwegischen Staffel erklärt, als er seinen Nachfolger eingewiesen hatte und ihm dabei auch die Soldaten der deutschen Fernmeldestaffel vorgestellt hatte. Krügers harte Augen hatten stolz gelächelt, aber nicht widersprochen. Jeden Tag ließ er seine Leute etwas im Staffelbereich verbessern. Zwei der Männer waren gelernte Zimmerleute, und sie leiteten die anderen beim Ausbau des Lagers an. Wenn es einmal nichts zu tun gab, schickte Krüger sie in den Kraftraum oder zum Joggen durch die Kaserne. Es war bereits sein dreizehnter Auslandseinsatz. Jetzt war Henry froh, dass er ihn als Staffelführer hatte und dass er ihnen stets etwas zu tun gab. Langeweile brachte die Leute nur auf dumme Gedanken.
Henry ging zum Funkpanzer, auf dem er die letzten vier Wochen Dienst tun würde. Er gehörte zu den Leuten der Staffel, die für mehrere Fernmeldetrupps ausgebildet waren, und daher war er nun vorübergehend als Vertretung auf diesen Trupp abkommandiert. Der Hauptgefreite Ottel war frühzeitig nach Hause geflogen, weil seine Ehefrau versucht hatte, sich umzubringen. Das war schon seltsam. Hier unten sollten sie die Menschen vor sich selbst beschützen, aber die Zuhausegelassenen waren schutzlos.
Henry ging zum Trupp und sah, dass Krüger gerade den anderen Truppsoldaten, den Hauptgefreiten Ganter, mächtig aufpumpte. Krüger sprengte ihn im Sinne der alten Schule so richtig weg. Ganter hatte in seiner Zeit hier schon einen Haufen Mist gebaut, und Krüger hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm den Dämon der Unzuverlässigkeit auszutreiben. Henry dachte daran, wie er auf dem Trupp einmal einen Brief Ganters an dessen Freundin gefunden hatte. Darin hatte Ganter in maßloser Übertreibung von den täglichen Gefahren berichtet, die sie hier durchzustehen hätten, und davon, dass er jeden Tag um sein Leben kämpfen würde. <<Aber mach dir keine Sorgen, ich bin hart im Nehmen und werde zurückkommen>>, hatte er als letzten Satz geschrieben. Henry hatte laut losgeprustet, als er das gelesen hatte. Als Fernmelder hatten sie hier noch bei weitem den ungefährlichsten Job, und Ganter wurde aufgrund seiner Unbeholfenheit so gut wie nie mit einer Aufgabe außerhalb des Lagers betraut. Der Kerl war ein unglaublicher Aufschneider, aber in diesem Moment war er klein wie ein Gartenzwerg. Krüger kam gerade so richtig in Fahrt, als Henry dazukam. Der Hauptfeldwebel beachtete ihn gar nicht und fuhr fort:
<<Ganter, in drei Teufels Namen, wie können Sie vergessen, die Sprechtafel zu wechseln!? Der Trupp wird den ganzen Tag von der Funkverbindung zum Hauptlager abgeschnitten sein! Sie sind wirklich ein erbärmlicher Vollidiot!>>
<<Aber Hauptfeldwebel, das war keine Absicht. Es tut mir wirklich leid.>>
<<Winseln sie mich nicht voll! Sie sind ausgebildeter Funker, so etwas darf nicht passieren, unter keinen Umständen! Sie dürfen hier nichts tun, was Ihnen leid tut. Wir sind hier nicht auf Übung, sondern im Krieg. Und sehen sie mich gefälligst nicht so an!>>
Ganter begann zu weinen und wischte sich mit der Hand über die Augen. Krüger seufzte entnervt und milderte seinen Tonfall:
<<Hauptgefreiter Ganter, warum weinen Sie denn jetzt?>>
<<Ja…weil…weil ich doch Angst vor ihnen habe.>>
Henry konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Krüger starrte Ganter ungläubig an und warf Henry dann einen amüsierten Seitenblick zu.
<<Ganter, jetzt beruhigen sie sich mal. Das ist doch überhaupt nicht notwendig. Die Leute aus meiner Staffel, oder der Hauptgefreite Lutter hier, haben die etwa Angst vor mir? Nein.>>
Ganter schluchzte laut auf. Mit rotztriefender Nase und weinerlicher Stimme gab er zurück:
<<Aber…aber…als ich hierher gekommen bin…die Leute haben gesagt…SIE SIND DER SATAN!>>. Den letzten Satz heulte er ihm entgegen, dann brach er erneut in Tränen aus. Henry hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen.
Krüger selbst konnte sich ein Glucksen nicht verkneifen.
<<Ganter, in der Verfassung kann ich sie aber nicht aus dem Lager schicken. Eigentlich wollte ich Sie heute mit zum Postholen schicken.>> Er wandte sich an Henry.
<<Lutter, Sie übernehmen das. Der Hauptgefreite Ganter macht heute beide Schichten. Soviel dürfte es ja nicht zu tun geben, ohne Funkverbindung nach draußen.>>
<<Jawoll, Hauptfeldwebel>> gab Henry diensteifrig zurück. Der Postbote des Satans.
 
Zwei Stunden später saß er gedankenverloren im Jeep und war auf dem Weg zum Hauptlager.
Gestern hatte es wieder einen zerrissen. Daran musste er die ganze Zeit denken, während er den Geländewagen über die holprige Straße steuerte. Neben ihm saß Franke und rückte mit ernstem Blick seine Kopfbedeckung wieder zurecht, die ihm vom letzten Schlagloch verrückt worden war.
„Beisetzung im kleinen Kreis“ würde später in der Zeitung stehen. Das stand immer drin, wenn man die Toten nicht mehr erkennen konnte.
Wir sind alle nicht mehr zu erkennen.
Beim ersten Mal hatte Henry gedacht, dass er sich mit der Zeit daran gewöhnen würde, aber man gewöhnte sich nie daran. Gut, den, den es gestern erwischt hatte, hatte er nur flüchtig gekannt, das machte es leichter. Er hatte ihn während der Ausbildung ein paar Mal gesehen und dann noch einmal, als sie hier angekommen waren. Sie waren beide am gleichen Tag eingeflogen worden. Er konnte sich an sein Gesicht erinnern. Ein junges Gesicht, am Flugtag voll von dieser typischen Mischung aus Nervosität und gespielter Abenteuerlust. Blaue Augen. Dunkelblonde Haare. Kinnbart. Ein gut aussehendes Gesicht. Zerrissen.
Henry hatte auch ein junges Gesicht gehabt, als er hergekommen war. Vor vier Wochen hatte er einem Freund Zuhause ein paar Bilder von sich geschickt, und der hatte ihm zurück geschrieben: <<Du siehst älter aus. Irgendwie reifer.>>
Aber er war nicht reifer geworden, nur älter. Älter als die fünf Monate, die er inzwischen hier war. Normalerweise brachte das Älterwerden die Menschen zum Sterben, aber das Sterben brachte einen auch zum Älterwerden. Als Soldaten würden sie vermutlich unbeschadet zurückkehren, aber als Menschen waren sie nicht mehr die gleichen.
Er wich den nächsten beiden Schlaglöchern aus, bevor er durch ein drittes mitten durch fuhr. Wieder hoppelte der Jeep und das Wasser aus dem Loch spritzte an den Seiten hoch. <<Fahr langsamer>>, wies Franke ihn unwirsch an. <<Ich krieg noch ein Schleudertrauma.>>
<<Schon klar>>, gab Henry zurück, <<Soldat auf Zeit und nicht auf der Flucht, was?>>
Franke lachte nicht. Der Stabsunteroffizier wirkte in letzter Zeit gehetzt. Henry verlangsamte die Geschwindigkeit, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Die nächsten Schlaglöcher standen unvermeidlich bevor.
Hier im Gebirge fuhr man lieber durch die Löcher als zu nah am Rand, wo es keine Leitplanken gab. Erst vor drei Wochen war ein LKW mit zwei Soldaten in eine Schlucht gestürzt, nachdem er von einem zivilen Fahrzeug abgedrängt worden war.
So haben wir nicht gewettet. Friedensmission und so. Humanitärer Einsatz. Irgendwas aufbauen und Infrastruktur wieder herstellen. Medizinische Versorgung sicherstellen. Ab und zu einer Kugel ausweichen.
Aber die Kugeln waren nicht das Problem. Eher das Ausweichen. Und vor allem: der Sprengstoff. Den Selbstmordattentätern konnte man nicht ausweichen. Sie kamen wie ganz normale Zivilisten auf einen zu und das Feuerwerk begann, wenn sie nahe genug an einem dran waren. Sein Kumpel Marcel hatte es ihm erzählt. Er war bei einem dabei gewesen. Im Lazarett hatte Henry ihn besucht und seine schwitzende Hand gehalten. Marcel hatte geweint wie ein kleines Baby und immer von den Fetzen erzählt, die durch die Luft geflogen waren. Er hatte versucht, ihn zu beruhigen, aber er hörte ihm nicht zu. Sein Freund würde für immer taub bleiben. Wenigstens hatte er seine Beine noch.
Im Rückspiegel sah er, dass ein ziviles KFZ ganz dicht an ihm dran war. Klingonen. So nannten sie die Einheimischen. Und einige von ihnen sahen wirklich wie fremde Lebewesen aus. Auch ihre radikalen Ansichten und ihre Gewaltbereitschaft waren eher klingonisch.
Er musste noch einmal abbremsen, um einem weiteren Schlagloch auszuweichen. Der Klingone hinter ihm wurde ungeduldig und beschleunigte auf warp neun. Ohne zu blinken setzte er zum Überholen an. Henry ließ ihn gewähren. Sollte er doch durch ein Schlagloch brettern und sich den Rücken brechen. Da kam schon das nächste, zwanzig Meter weiter vorne. Das Klingonenraumschiff hatte eine erbärmliche Beschleunigung. Eine Zeitlang fuhren sie auf gleicher Höhe und Henry konnte die Insassen sehen.
Na klar, sechs Leute in einem Fünfsitzer und die Frau hat noch ein Kind auf dem Schoß. Damit werden eindeutig die Vorschriften der klingonischen Raumfahrtbehörde verletzt.
Das Kind streckte Henry die Zunge raus. Franke sah jetzt ebenfalls hinüber und verzog den Mund. <<Die Kleinen werden von ihren Eltern wieder genauso zum Hass auf uns erzogen wie die Eltern selbst. Das nimmt kein Ende. Ist zum Kotzen.>>
<<Ja>>, sagte Henry, <<da müsste man mal grundlegend was ändern. Toleranz ist für die beschissenen Klingonen ein Fremdwort.>>
Das Zivilfahrzeug scherte vor ihrem Jeep wieder rechts ein und blies ihnen eine voll verbleite Benzinwolke entgegen. Dem nächsten Schlagloch voll Dreckwasser würde es nicht mehr ausweichen können. Henry und Franke saßen in ihrem Fahrzeug und grinsten.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall wurde das Auto der Klingonen aus dem Schlagloch gerissen und in die Luft geschleudert. Die Frontscheibe von Henrys Jeep zerbarst und beide Soldaten rissen die Arme nach oben. Henry schrie und trat auf die Bremse, der Jeep hielt abrupt an und sein Kopf schlug auf das Lenkrad.
Der LKW-Fahrer des zweiten Militärfahrzeuges hinter ihm, Ocak, ein Unteroffizier mit kurdischen Wurzeln, war kurz vor dem Knall nach links einem Schlagloch ausgewichen und hatte damit die beste Entscheidung seines Lebens getroffen. Das zivile KFZ krachte nun kopfüber hinter Henrys Jeep auf die Straße, wo vorher noch Ocaks LKW gefahren war.
Henry stöhnte und wurde von Franke an der Schulter geschüttelt. Er glaubte, das Funkgerät im Jeep auf einer hohen Frequenz pfeifen zu hören, aber er konnte das Geräusch nicht genau lokalisieren. Dann wurde ihm klar, dass das Pfeifen nur in seinen Ohren war. Dort sang eine Armee wütender Vögel den Klingonenblues und sein Herz trommelte dazu ein Schlagzeugsolo. Sein Kopf fühlte sich an wie in einer Taucherglocke. Als er Franke sein Gesicht zuwandte, sah er, wie dieser mit den Lippen das Wort <<Mine>> formte.
Franke stieg aus und kam um den Jeep herum. Er öffnete die Tür und schnallte Henry ab, dem nun Sabber aus dem Mund lief. Der Stabsunteroffizier zog ihn vorsichtig aus dem Fahrzeug und lehnte ihn an das Vorderrad. Er sah ihm ihn die Augen und wieder bewegten sich seine Lippen, aber Henry konnte ihn nicht hören. Franke begriff und hob einen Daumen nach oben, während er Henry fragend ansah. Henry hob ebenfalls einen Daumen. Dann brach er in Tränen aus.
Franke ging um das Fahrzeug herum und öffnete die Hecktür. Er holte den Sprechapparat heraus und sprach ins Funkgerät. Henry saß nur da, Tränen liefen über seine Wangen, er schluchzte und sah seinem Vorgesetzten zu. Inzwischen war der Beifahrer des LKW zu ihnen gekommen und besprach sich mit Franke. Der drückte ihm den Verbandkasten in die Hand und zeigte auf Henry. Jetzt erst schien er Henry zu bemerken und machte große Augen. Er schlug die Hand an die Stirn und rief etwas, das Henry vage als <<Mein Gott>> deutete. Der Kerl war der Hauptgefreite Schmidt aus Henrys Staffel, ein Baum von einem Mann. Hastig kniete er sich vor ihn und fummelte am Verbandkasten herum. Er bekam ihn nicht auf. Das Ding war gut verplombt. Schmidt holte mit zitternden Händen sein Messer aus der Tasche und schnitt die Drähte der Plombe durch. Henry wusste nicht, was das ganze sollte. Wollte er ihn mit der Rettungsdecke zudecken? Hey, die goldene Seite nach oben, hier herrscht ne arktische Kälte!
Der Hauptgefreite zog sich die Schutzhandschuhe an und riss ein Verbandpäckchen auf. Jetzt begriff Henry. ER war verletzt. Aber wo? Schnell sah er nach unten und stellte erleichtert fest, dass seine Beine noch da waren. Ein Blick nach links und rechts bestätigte die weitere Existenz seiner Arme. Als Schmidt anfing, seinen Kopf zu verbinden, beantwortete sich die Frage. Henry sagte etwas, was soviel wie <<Kümmer dich um die Klingonen>> bedeuten sollte – was gar nicht so leicht war, da er sich selbst nicht hören konnte - aber sein Kamerad schüttelte den Kopf. Erst ihre Männer, dann der Auftrag.
Henry sah nach links, wo die Überbleibsel des zivilen KFZ lagen. Franke war jetzt ganz Herr der Situation. Zusammen mit Ocak hatte er die Stelle abgesichert und versorgte jetzt die Verwundeten. Zwei weitere Klingonen hatten inzwischen angehalten und halfen ihnen. Franke gab Kommandos, die sich anscheinend darauf bezogen, wer welchen Verwundeten versorgen sollte, während er selbst einen Mann verarztete, dem eigentlich gar nichts fehlte. Es war seltsam, sie hatten nur drei Leute aus dem Fahrzeug geholt. Henry war sich sicher, dass er mindestens sieben Insassen gezählt hatte.
Franke drehte den Mann jetzt auf die Seite und Henry sah, was ihm fehlte: Sein Arm. Nur noch ein kleiner Stumpf ragte aus der Schulter, und der Stabsunteroffizier versuchte mit seinem Gürtel, die Wunde abzubinden. Der Kerl wand sich und schrie jetzt wie am Spieß und Henry war froh, dass er ihn nicht hören konnte. Schmidt sah ebenfalls hinüber und übergab sich auf Henrys Stiefel. Franke sah zu ihnen hin und rief etwas. Schmidt setzte sich stockend in Bewegung und half dann Ocak, die Frau zu verarzten. Sie blutete aus mehreren Wunden. Ihr Arm hob sich mechanisch und zeigte mit dem einzig verbliebenen Finger auf das Autowrack, in dem sich ihr Kind befand. Ocak sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf, dann wurde sie ohnmächtig. Unbeirrt fuhr er fort, sie zu verbinden. Er kramte im Verbandkasten und sagte etwas zu Franke, der darauf in seinem Verbandkasten nach etwas suchte. Offenbar ging ihnen das Verbandzeug aus. Ocak sagte etwas auf Türkisch zu den Zivilisten (die meisten Klingonen verstehen Türkisch), die neben ihm Klingone Nr. 3 verarzteten, aber sie hoben nur hilflos die Hände. Er betrachtete eine offene Wunde am Unterschenkel der Frau, dann hielt er sich die Hände mit den Gummihandschuhen vors Gesicht, die bereits blutverschmiert waren. Mit grimmigem Gesichtsausdruck legte er beide Hände um die Wunde, um den Blutfluss zu stoppen. Wieder sagte er etwas zu Franke und Henry wusste, dass es um die Zeit ging, die sie noch hatten, bis die Frau verblutet war. Er fühlte sich seltsam schwammig, fast wie im Rausch.
Übungsunterbrechung, bitte, Übungsunterbrechung! Alles geschah in Zeitlupe und als er nach oben sah, drehte sich der Himmel wie ein Hubschrauberrotor. Er dachte an das beruhigende „Flap Flap Flap“ und wie gut es jetzt wäre, das zu hören. Wie gut es wäre, irgendetwas zu hören. Aber die Welt drehte sich einfach weiter und das Blut floss über die Straße und sein eigenes Blut sauste in seinem Kopf hin und her und sein Herz feuerte das Blut durch seine Adern, schneller als jedes Maschinengewehr. Ocak hatte aufgehört, die Wunde der Frau abzudrücken und stützte sich jetzt mit beiden Armen auf ihre Brust, pumpte mit aller Kraft seine ganze Verzweiflung in ihren Körper, während ihm der Schweiß übers Gesicht lief. Aber dieses Herz hatte aufgehört zu schlagen, Henry wusste es. Keine grinsenden Rollenspieler, nur nackte Realität, und die Realität lacht nicht.
Ein heftiger Luftzug bließ eine kühle Brise in sein Gesicht und Henry genoss die Erfrischung. Das tat gut. Das Dröhnen in seinem Kopf wurde stärker. Nein, es war außerhalb! Ein Hubschrauber mit einem roten Kreuz auf der Seite, der gerade zur Landung ansetzte. Tot stellen und warten, bis die Gefahr vorbei ist?
Er sprang auf und fing an zu schreien. <<Hier sind wir!>> rief er und wedelte wie ein Verrückter mit den Armen <<Holt uns hier raus, holt uns raus! Bitte! Bitteeee!>>
Er riss die Tür des Jeeps auf und wollte sein Gewehr holen, um ein paar Signalschüsse abzugeben. Eine kräftige Hand legte sich auf seine Schulter. Als er sich umdrehte, sah er Frankes kahl geschorenen Schädel. Eine unglaubliche Ruhe ging von ihm aus, so als ob er seine Nerven mit abrasiert hätte.
<<In Ordnung Lutter, sie haben uns schon gesehen. Alles in Ordnung. Wir bringen dich raus.>> Henry konnte wieder hören. Der Druck in seinem Kopf war weg.
<<Die Pfütze…>>, stammelte er, <<wenn die uns nicht überholt hätten…>>
<<Ich weiß.>> Franke stapfte davon und kümmerte sich wieder um die Verwundeten.
 
Als Henry aufwachte, lag er im Lazarett. Er vermutete, dass er in Mes war. So nannten sie Masar-E-Sharif in der Kurzform. In seinem Arm hing ein Schlauch. Das Pfeifen im Ohr war weg. <<Alpha Bravo Charly>> sagte er schnell, um sich selbst reden zu hören. <<Jawoll, Herr Hauptfeldwebel!>> fügte er mit einem zufriedenen Lächeln hinzu. Sein Gehör funktionierte wieder. Er sah sich um und stellte fast, dass er allein im Zimmer war. Neben ihm lag die Muz & More, die Soldatenzeitschrift. Eine Verbindung nach Hause, die man anfassen konnte. Darin standen die Grüße der Verwandten und Familien der Soldaten, außerdem Berichte aus den Heimatstandorten und alles Mögliche über den Afghanistaneinsatz. Er und seine Kameraden liebten diese Zeitschrift. Der wichtigste Mann und gleichzeitig der größte Held in der Staffel war eigentlich immer der, der alle zwei Tage ins Hauptlager fuhr und dort die Post von Zuhause und die Muz & More abholte. Dessen Rückkehr wurde begierig erwartet und wenn er in den Staffelbereich kam wurden ihm die Briefe und Pakete von begeisterten Uniformknaben aus den Händen gerissen. Dann zog sich jeder mit seiner Beute auf seinen Trupp zurück und sog die Nachrichten aus der Heimat in sich auf. Die, die nichts erhalten hatten, blieben enttäuscht im Aufenthaltsraum zurück und trösteten sich damit, die Grüße in der Soldatenzeitschrift zu studieren. Oft las man Liebesbekundungen und Durchhalteparolen von Ehefrauen und Freundinnen, und wenn man den Adressaten selbst kannte kam es zu heftigen Lachsalven und Vermutungen darüber, wer Zuhause die Befehle gab. Im Grunde genommen war es aber nur der pure Neid.
Auf der Muz & More klebte ein Zettel, auf dem in Frankes fast unleserlicher Handschrift stand: <<Gute Besserung von der ganzen Staffel, Mausebär!>> Dahinter war ein smiley aufgemalt.
Henry errötete. Nur seine Freundin Melanie nannte ihn so (und auch nur, wenn sie alleine waren), und er hatte wohlweislich keinem sonst davon erzählt. Verflucht, hier bleibt einfach nichts geheim! Und das beim Militär!
Wie hatten sie seinen Kosenamen herausbekommen? Es gab nur eine Erklärung dafür. Jemand musste sie angerufen und ihr von seinem Zustand erzählt haben. Dabei hatte sie dann vermutlich etwas wie <<Mein armer Mausebär>> ins Telefon geschluchzt. Das war gar nicht gut. Mel machte sich immer furchtbare Sorgen, sie war überhaupt gegen diesen ganzen Einsatz gewesen, auch wenn Henry ohnehin keine Wahl gehabt hatte. Und in der Staffel würde er jetzt für alle Zeiten der Mausebär sein.
Andererseits hatte er niemandem ihre Nummer gegeben. Sie konnten sie gar nicht angerufen haben. Das ließ nur eine einzige Möglichkeit offen…
Sein Herz erhöhte die Schlagzahl. Henry schlug die Muz & More auf und blätterte mit Schweißfingern zu den Grußseiten vor. Geburtstagsgrüße, Aufmunterungen, Gratulationen. Bilder von Neugeborenen, die ihre Väter erst in paar Wochen zum ersten Mal sehen würden. Dazu die üblichen kameradschaftlichen Grüße aus den Heimatstandorten, Fotos von Zuhause gebliebenen Soldaten, die sich sonnten und das Leben genossen. Nichts, was Henry aufgemuntert hätte. Halt! Da war sie. Die unverkennbare Handschrift seiner Melanie. Überschrift in Rosa: <<Mein lieber Mausebär>> Obwohl das eine peinliche Sache zu werden versprach, las Henry jetzt mit einem fetten Grinsen weiter.
<<Fünf Monate bist du nun schon weg. Ich vermisse dich schrecklich. Jeder Tag ohne dich ist ein Tag ohne Freude. Aber ich bin stolz auf dich und schon bald wirst du wieder bei mir sein. Ich freue mich auf deine Umarmungen, deine Küsse und alles andere J und möchte dich fragen, ob du mich heiraten willst?
Ohne dich kann ich nicht leben. Ich liebe dich.
Deine Maus
 
Melanie>>
 
Henry starrte die Seite an, doch sein Blick ging ins Leere. Sein Hals war staubtrocken und in seinem Kopf schlug der Hammer der Panik.
Heiraten? Ehe? Ich bin doch erst 21. Oder?
Er dachte an einen Witz mit einem Kreuzworträtsel. Eine Frau fragt ihren Mann nach der Lösung für ein Lebensende mit drei Buchstaben. Seine Antwort: Ehe.
Wach auf Henry, das alles ist nur ein fieser Albtraum. Die ganze Scheiße hier, Minen, Tote, abgerissene Beine, Ehe. Alles nur ein Traum.
Wieder sah er auf die Zeitschrift, aber die Wörter der Verdammnis lösten sich nicht auf. Standhaft reckten sie ihm ihre Fäuste entgegen. Für einen Moment glaubte er, dass der smiley im Text ihm die Zunge rausstreckte.
Okay, tief durchatmen Lutter, konzentrier dich! Das ist nur ein Antrag, noch kein endgültiges Urteil. Heiraten musst du nicht gleich. Verlobung ist vielleicht unausweichlich, aber das bedeutet noch keine Ehe. Jedenfalls nicht sofort.
Henry entspannte sich wieder. Irgendwie war es auch schmeichelhaft. Eine Frau wollte ihn heiraten, für immer mit ihm zusammen sein. Und Mel war eigentlich gar nicht so übel. Immerhin waren sie schon neun  Monate zusammen und in letzter Zeit lief es ziemlich gut. Sie telefonierten oft und schrieben sich flammende Liebesbriefe. Und jetzt hatten sie beide sich wohl soweit reingesteigert, dass Mel dem ganzen die Krone aufsetzen wollte.
Heute Abend würde er auf jeden Fall mit ihr telefonieren müssen.
Es klopfte an der Tür des Krankenzimmers. Da stand wohl die erste Visite des Doktors an. <<Herein>> rief Henry und lachte überrascht auf, als sich die Tür öffnete und Frankes kahle Platte erschien. Der Stabsunteroffizier lächelte.
<<Na, Mausebär, alles senkrecht?>>
<<Immer doch, Frankyboy>>
<<Schön zu hören. Ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht. Und ich soll dir jede Menge Grüße bestellen. In der Staffel machen sich alle Sorgen um dich. Jedenfalls alle, die noch da sind>>.
<<Die noch da sind? Warum, sind ein paar Vögel ausgeflogen?>>
<<Ausgeflogen ist gut. Heimgeflogen worden.>> Franke zupfte verlegen an seinem Barett rum, das er in der linken Hand hielt. Normalerweise trug er seine Feldmütze, aber außerhalb der Staffel kontrollierte niemand, welche Kopfbedeckung er trug. Das rote Barett machte natürlich einiges mehr her. Überhaupt wirkte Franke irgendwie größer als sonst. Seine Augen strahlten die übliche Zuversicht aus, aber seine ganze Haltung war noch selbstbewusster als gewöhnlich. Sein Körper war straff und gerade. Die Anspannung der letzten Wochen war wie weggebombt.
<<Heimgeflogen?>> krächzte Henry. <<Aber wir haben doch noch drei Wochen hier. Sind die abkommandiert worden?>>
<<Ne, sind nervös geworden, glaub ich. Schnalle hat in die Kiste geschossen. Du weißt ja, was das heißt.>>
 Henry wusste es. Wenn ein Soldat beim Entladen seiner Waffe vergaß, das Magazin herauszunehmen, feuerte er in die Sandkiste, in die man sein Gewehr bei der Sicherheitsüberprüfung hielt. Da der Knall keinem verborgen blieb war das gleichzeitig ein unfreiwilliges Ticket für den Heimflug, da man das als psychische Schwäche des Soldaten auslegte. Wer beim routinemäßigen Entladen schon losfeuerte, dem war in brenzligeren Situationen noch viel weniger zu trauen. Routine ist der Feind.
Henry grunzte. <<Und, wer noch außer Schnalle?>>
<<Kohlmeier. Seine Frau ist bei ihrem Chef eingezogen.>>
<<Schlampe>>, gab Henry abwesend zur Antwort. Viele Beziehungen hielten der Belastung des Einsatzes nicht stand. Insofern war Mels Heiratsantrag ein echter Vertrauensbeweis. Das wertete die Sache schon ziemlich auf, wenn man genauer darüber nachdachte. Henry seufzte.
<<Der Krüger fackelt da nicht lange, was?>>
<<Du meinst, der Hauptfeldwebel Satan?>> Franke zeigte ein wölfisches Grinsen. Henry hatte ihm auf der Fahrt zum Lager die Geschichte von Ganters Gefühlsausbruch brühwarm erzählt.
<<Ja ja, mit Hauptfeldwebel Satan auf dem Exorzierplatz>> gab Henry lachend zurück. Eine wunderbare Minute lang war das Krankenzimmer vom schallenden Gelächter der beiden erfüllt. Dann herrschte Schweigen. Franke sah ihn erwartungsvoll an.
<<Und?>> fragte er.
<<Was, und?>>
<<Schon mit deiner Maus gequatscht? Wegen Heiraten und so?>>
<<Scherzkeks. Bin grade erst aufgewacht. Weiß noch nicht, wann ich hier rauskomme.>>
Franke strahlte ihn an. <<Aber ich. Hab mit dem Stabsarzt geredet. Ich kann dich zum Betreuungstelefon bringen, wenn du dich halbwegs gut fühlst. Danach musst du aber zurück und noch ein paar Tage zur Beobachtung hier bleiben. Und ich glaub´ er hat auch irgendwas von nem Gespräch mit dem Psychologen gesagt. Reine Routinemaßnahme.>>
<<Und du musst da nicht hin? Du warst doch auch dabei.>>
<<Jo, ich brauch so was nicht. Hab ja auch nix abgekriegt und so.>> Franke lächelte.
<<Okay. Seit wann bin ich eigentlich hier?>>
<<Seit zwei Tagen.>>
<<Zwei Tage!? So lange schon?>> Henry starrte ihn ungläubig an.
„Ja Mann! Die haben dir Beruhigungsmittel gegeben und du hast tief und fest geschlafen. Wie ein…Mausebär im Winterschlaf.>> Franke lachte ihn herzhaft an. Henry lächelte gequält zurück.
<<Bring mich zum Telefon.>>
<<Bist du sicher? Kannst du überhaupt laufen?>>
<<Bestimmt. Außerdem wartet Mel schon mindestens zwei Tage auf meine Antwort.>>
<<Ach so, stimmt ja. Irgendwie hatte auch keiner von uns ihre Nummer. Aber wir haben über das Betreuungszentrum Zuhause deinen Eltern Bescheid gesagt. Hab keine Ahnung, ob sie von dort jemand angerufen hat.>>
<<Wenn meine Alten Bescheid wissen, dann weiß Mel es auch. Deshalb muss ich sie jetzt gleich anrufen, verstehst du?>>
<<Alaska. (Das war Frankes Kürzel für „Alles klar“). Ich hol ne Schwester und helfe dir aus dem Bett.>> Henry schlug die Decke zurück und Franke half ihm raus. Als die Schwester kam, nahm sie ihm den Schlauch aus dem Arm und prüfte seine Pupillen. Sie überprüfte ihn routinemäßig und ließ ihn ein paar Schritte laufen. Schnell war klar, dass Henry allein gehen konnte. Er zog seinen kurzen Sportanzug an (das ging am schnellsten) und gemeinsam verließen sie das Krankenhaus.
Als sie bei den Telefonzellen angekommen waren, zögerte Henry unschlüssig. Franke klopfte ihm auf die Schulter.
<<Nun komm schon, keine Angst vor dem Feind!>>
<<Es ist nur…ich weiß nicht, ob ich schon heiraten will…>>
<<Weißt du>>, gab Franke zu bedenken, <<bei mir und meiner Freundin ist es zum Beispiel noch nicht soweit. Wir lassen uns mit so was Zeit. Ich vertraue ihr hundertprozentig und sie ist die Liebe meines Lebens, das mit dem Heiraten kann aber trotzdem noch warten. Da sind wir uns einig. Aber wenn ihr das jetzt beide gerade so fühlt und ihr euch sicher seid – warum nicht? Liebst du deine Freundin? Vermisst du sie jeden Tag? Kannst du dir vorstellen, bis an dein Lebensende mit ihr zusammen zu sein? Das musst du dich fragen.>>
Bis an das Lebensende? Das kam Henry ziemlich lang vor. Andererseits konnte das Leben jeden Tag ganz schnell vorbei sein, wie er hier unten gelernt hatte. Was hatte er also zu verlieren? Und vor allem, konnte man zu so einem Angebot überhaupt nein sagen? Mel hatte bisher immer zu ihm gehalten, und sie hatte ihm in den letzten Monaten wunderschöne Liebesbriefe geschickt. Außerdem musste er sie so oder so anrufen, und wenn es nur war, um ihr zu sagen, dass es ihm gut ging.
 <<Also gut. Auf in den Kampf!>> Henry holte tief Luft und betrat die Telefonzelle, Franke wartete draußen auf ihn. Er holte seine Zigaretten aus der Brusttasche und zündete sich eine an. Genüsslich sog er den Rauch ein und lächelte. In letzter Zeit ging es im sehr gut. Er hatte großes Vertrauen in sich selbst. Der Einsatz würde bald vorbei sein und dann ging das echte Leben wieder los.
Als er mit seiner Zigarette fast fertig war, wurde es in der Telefonzelle lauter. Lutter schrie etwas. Franke runzelte die Stirn. Drinnen schlug etwas auf den Boden. Lutter öffnete die Tür, der Telefonhörer baumelte am Kabel wie ein Galgenvogel – und Lutter sah wie einer aus.
 
<<Wie siehst du denn aus? Heiratest du den Tod oder was?>>
<<Nein.>>, flüsterte Henry. <<Aber ich hätte fast eine Lüge geheiratet. Eine betrügerische Lüge>>
<<Lügen sind immer betrügerisch>>, antwortete Franke philosophisch. <<Das Gespräch ist wohl nicht so gut gelaufen>>, stellte er fest.
<<Das kannst du laut sagen. Sie hat mich betrogen. Ich bin kaum fünf Monate weg und sie betrügt mich! Möchte wissen, was sie mit dem Heiratsantrag wollte…>> Henry lief mit hängenden Schultern weg. Der Stabsunteroffizier folgte ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
<<Ich weiß, das hilft dir jetzt  nicht viel, aber sieh es mal so: Du bist vor nem großen Fehler bewahrt worden. Stell dir vor, du hättest sie erst geheiratet und dann davon erfahren. Insofern war es ja ganz fair, dass sie es dir gesagt hat. Der Antrag sollte wahrscheinlich nur im ersten Moment ihr Gewissen beruhigen.>>
<<Pfff. Erzählt hat sie es mir nicht direkt. Der Kerl war bei ihr, als wir telefoniert haben.>>
<<Oh Mann!>> Franke´s Gesichtsausdruck wandelte sich von Besorgnis zu Erstaunen. <<Weiber. Die können einen echt fertig machen.>>
<<Hm. Ja. Aber du hast Recht. Es hätte schlimmer kommen können…>>
Henry blieb stehen und fing an zu weinen. Franke sah ihn mitleidig an und stand unschlüssig neben ihm. Dann, mit einem Seufzer der Überwindung, nahm er ihn in den Arm. Henry drückte sich an ihn und ließ die Tränen in seine Feldbluse laufen. So standen sie in der Kaserne mitten auf der Straße, er im kurzen Sportanzug und sein stabiler Vorgesetzter in seiner Uniform. Es war so ziemlich das unsoldatischste, was Henry je erlebt hatte, aber in diesem Moment war ihm das egal. Einige Soldaten liefen an ihnen vorbei und beäugten sie von der Seite, gingen dann aber zügig weiter. Es war nicht mehr so selten, dass Soldaten weinten.
Als sie sich wieder voneinander lösten, zitterte Henry und lief mit verschränkten Armen und hängendem Kopf zurück in Richtung Lazarett. Jetzt war es ihm doch peinlich, dass er sich vor Franke so hatte gehen lassen. Er fühlte sich wie ein Blindgänger.
<<Franke?>>, fragte er mit brüchiger Stimme.
<<Ja?>>
<<Sag den anderen bitte erstmal nichts davon, okay?>>
<<Ist doch logisch. Die paar Wochen stehst du jetzt auch noch durch. Und Zuhause sieht das alles dann wieder ganz anders aus.>>
<<Danke.>>
<<Aber Henry, du solltest in den nächsten Tagen noch hier bleiben. Und deine Waffe behalten wir erstmal im Lager. Ich glaub es ist nicht so gut, wenn du damit allzu schnell wieder durch die Gegend rennst. Du schießt mir sonst noch in die Kiste.>> Franke sah ihn mit einem verschmitzten Lächeln an. In Wirklichkeit hatte er Angst, dass Henry sich den goldenen Schuss in seine eigene Kiste setzte, soviel war Henry klar. Trotzdem war er ihm dankbar dafür, dass er einen anderen Grund vorschob. Er nickte zustimmend und wankte weiter die Straße entlang, während Franke ihn stützte und seinen Arm wieder um seine Schultern legte.
<<Ich bring dich jetzt zum Psychologen>> sagte der Stabsunteroffizier, und seine Stimme machte deutlich, dass das kein Vorschlag war. Henry widersprach nicht. Nach den Ereignissen der letzten Tage würde es erfrischend sein, mal wieder mit einem normalen Menschen zu reden.
 
Als Henry sechs Tage später im Flieger nach Hause saß, weinte er immer noch. Beim Psychologen war es mit aller Macht aus ihm heraus explodiert, und seither weinte er jeden Tag. Es half ein bisschen. Wenn er lange geweint hatte, war er oft so erschöpft, dass er danach schlafen konnte.
Der Psychologe hatte sofort angeordnet, dass er nach Hause geschickt wurde. <<Der Psycho-Fritze ist eigentlich der Dienstgradhöchste im ganzen Lager>>, hatte Franke zu ihm gesagt. <<Wenn der etwas anordnet, traut sich kein General, zu widersprechen. Der einzige, der genauso viel zu sagen hat, ist der Militärpfarrer.>>
Henry hatte darüber geschmunzelt, doch Franke hatte Recht behalten. Ein Anruf des Psychologen hatte genügt, und Henrys Platz im Flugzeug war reserviert. Franke hatte einfach immer Recht gehabt. Manchmal glaubte Henry, der Stabsunteroffizier war der einzige, der wirklich auf diesen Einsatz vorbereitet gewesen war.
Er strich liebevoll über die kleine Metallkiste auf seinem Schoß. FRANKE stand in großen schwarzen Lettern und mit eisernen Kreuzen an der Seite auf einem Metallschild am Deckel. Der Stabsunteroffizier hatte ihn darum gebeten, die Kiste mitzunehmen. Wie hätte er ihm diesen Wunsch abschlagen können? Es war das letzte, was sein Kamerad in seinem Brief geschrieben hatte, bevor er sich mit einer Granate in die Luft gesprengt hatte. Seine letzten Zeilen hatten sich für immer in Henry Gedächtnis eingebrannt:
<<Verbrennt, was von mir übrig ist. Henry, ich weiß, du fliegst bald nach Hause. Nimm meine Asche mit und bring sie meiner Familie. Das ist mein letzter Befehl an dich. Wie immer weiß ich, dass ich mich auf dich verlassen kann.
 
Dein Freund
 
Franke>>
 
Henry umklammerte den Kasten krampfhaft. <<Warum hast du das gemacht? Du. Ausgerechnet du!>> sagte er, lauter, als er es beabsichtigt hatte.
<<Wie bitte?>> fragte der Mann in schwarz, der neben ihm saß. Es war der katholische Standortpfarrer, der ebenfalls auf dem Heimflug war. Man hatte ihn neben Henry platziert, zur Sicherheit. Henry war es ganz recht, obwohl er evangelisch war. Der alte Mann lächelte die ganze Zeit und gab ab und zu einen Bibelspruch von sich, den er für besonders weise hielt, aber er nervte ihn nicht mit Fragen. Und Soldaten wollte er am liebsten keine mehr sehen, auch wenn das Flugzeug ansonsten voll davon war. Jetzt war der Pfarrer aufgeschreckt und sah Henry erwartungsvoll an, bereit, ihn mit all seinem Mitgefühl in seiner Trauer zu helfen.
Henry wich seinem Blick aus und sah zum Fenster hinaus. Er antwortete nicht und schüttelte lediglich den Kopf, während einige zerfetzte Wolken an ihm vorüber zogen. Du kannst mir nicht helfen, alter Mann. Nicht einmal der Dienstgradhöchste im Himmel kann das ändern. Kein Befehl hält den Tod auf.
Er dachte an das, was er in den letzten Tagen erlebt hatte. Seine Kehle trocknete aus, dafür lief das Wasser eifrig über seine Wangen. Er sah Frankes Gesicht vor sich, wie er bei der Vorausbildung grinsend auf dem unfähigen Oberleutnant gelegen war und Henry zugenickt hatte. Wie er souverän seine Männer dirigiert hatte, als sie den Minenunfall hatten. Und wie er Henry beigestanden und ihm Mut zugesprochen hatte, als seine Freundin sich als Heckenschütze entpuppt hatte.
Er hatte ihm den Mut gegeben, der ihn dann selbst verlassen hatte. Zwei Tage nach ihrem Gespräch im Lazarett hatte Franke Nachricht von Zuhause bekommen, von seiner Bank. Seine Freundin hatte mit der Vollmacht, die er ihr gegeben hatte, das komplette Bankkonto abgeräumt. Alles, was Franke in Afghanistan und davor verdient hatte, war weg. Ein Anruf bei seinen Eltern hatte außerdem ergeben, dass sie auch die gesamte Wohnungseinrichtung mitgenommen hatte. Das hatte der kernige Soldat nicht verkraftet. Er, der in den brenzligsten Situationen stets kühlen Kopf bewahrt hatte, war auf diesen Hinterhalt nicht vorbereitet gewesen. Aber der Krieg wurde nun mal nicht nur in Afghanistan geführt. Eigentlich war es sogar so, dass die schwersten Schlachten Zuhause geschlagen wurden.
Franke war in diesen paar Monaten sein Freund geworden, und er war nicht für ihn da gewesen, als es notwendig war. Er konnte nicht für ihn da sein. Wie alle anderen war auch er zu sehr mit sich selbst und seinen eigenen Ängsten beschäftigt gewesen. Das würde er sich nie verzeihen.
Henry hörte nicht, wie die Durchsage zum Landanflug kam. An der Seite zog eine Wolke vorbei, die einem Klingonenraumschiff ähnlich sah. Keine Raumschiffe mehr, und keine Klingonen, bitte! Nie mehr! Ich hab auf eurem Planeten nichts verloren. Schlagt euch die Köpfe ein, aber macht euren Krieg ohne mich.
Als sie aus dem Flugzeug ausstiegen, sprach ihn der Pfarrer noch einmal an. Offenbar wollte er seiner Sorge noch einmal Ausdruck verleihen, schließlich war das seine heilige Pflicht.
<<Herr Lutter, ich wollte Ihnen noch einmal sagen, dass Sie mich jederzeit anrufen können. Meine Nummer haben Sie ja. Bitte kommen Sie doch einmal bei mir vorbei, wenn Sie wieder am Standort sind.>> Dann machte er eine kurze Sprechpause, wiegte den Kopf nachdenklich hin und her und sah Henry, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte, fest in die Augen. <<Wissen Sie, diesen Kampf müssen Sie nicht alleine durchstehen. Trauern Sie um Ihren Kameraden, aber vergessen Sie nicht, dass Gott Ihnen auch viel Trost spenden kann. Der Tod ist nicht das Ende allen Lebens.>>
Doch, alter Mann, das ist er, genau das. Du hast die Schrecken von Klingonistan nicht gesehen. Geh zu deinem Gott und sag ihm, dass du mit mir gesprochen hast. Dann kannst du deine Stempelkarte ablochen.
Henry sprach die Worte nicht aus. Er wollte nicht reden. Stattdessen nickte er nur und entzog sich dem Heiligenschein. Der lief ihm noch ein paar Meter hinterher und sprach Segenswünsche aus, aber Henry hörte nicht mehr zu. Als er den Verfolger endlich abgeschüttelt hatte, trottete er zusammen mit der restlichen Meute ins Flughafengebäude. Dort wartete die nächste Konfrontation. Seine Eltern standen bereits an der Gepäckstation, daneben ein Hauptmann, vermutlich einer vom Betreuungszentrum, der sich versichern wollte, dass Henry sich nicht vor den nächsten Bus warf. Völliger Unsinn. Wenn er hätte sterben wollen, hätte er das längst getan. Auf das Leben hatte er allerdings auch keine große Lust mehr. Der Hauptmann faselte irgendwas von Dankbarkeit, Kameradschaft und dass der Einsatz so manches schwere Opfer fordere. Dann sagte er noch etwas von psychologischer Betreuung und dass bereits alles mit Henrys Eltern besprochen sei.
Gut, dann bin ich jetzt also vollends unmündig geworden.
Als Henry nichts antwortete, sah der Hauptmann ihn betroffen an und verabschiedete sich dann mit den besten Genesungswünschen. Seine Eltern hatten sich bisher im Hintergrund gehalten. Jetzt sah er erst, wie sie ihn anstarrten. Seine Mutter hatte Tränen in den Augen. Der Einsatz hatte ihn äußerlich verändert, mehr als ihm selbst bewusst war. Zum Glück trug er sein Namensschild an der Uniform, sonst hätten sie ihn wohl gar nicht erkannt.
<<Henry, Junge…wie…schön, dass du wieder da bist>>, stammelte sein Vater.
<<Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht>>, brachte seine Mutter hervor, dann kam sie zu ihm und nahm ihn unter Tränen in den Arm. Mit der Hand kraulte sie sein ergrautes Haar. Er war ein Junge, der ein Mann hatte werden wollen und nun als Greis zurückkehrte. Jetzt erst kam die Befreiung. Henry weinte ebenfalls stumme Tränen, Rotz lief ihm aus der Nase und seine Feldmütze fiel ihm vom Kopf. Es fühlte sich gut an, wieder in den Armen seiner Mutter zu sein. Sein Körper löste sich leicht vom Boden, als sie ihn kräftig drückte. Er wog nur noch wenig. So ähnlich musste es gewesen sein, als er noch ein kleines Kind war. Jetzt genoss er wieder seine Unmündigkeit, das Gefühl, dass sich jemand um ihn kümmern würde und ihn beschützte, jemand, der ihm die Entscheidungen abnehmen würde. So stand er und überschwemmte seine Mutter mit Erleichterung, sein Vater stand still daneben.
 <<Wollen wir nach Hause gehen?>> fragte seine Mutter dann und Henry nickte lächelnd. Sein Vater nahm ihm das Gepäck ab und gemeinsam gingen sie in Richtung Ausgang. Als sie zum Auto kamen, hielt sein Alter ihm die Tür auf und sah ihn prüfend an. Es war der Blick eines Mannes, der wütend darüber ist, dass man seinen Sohn so schutzlos fremden Mächten ausgeliefert hatte. Der Blick eines Mannes, der erbost darüber ist, dass er seinen Jungen nicht so wieder zurückbekommt, wie er ihn abgegeben hat. Trotz aller Nachrichtensendungen und Telefonate bekamen die Eltern der Soldaten vom wahren Einsatzgeschehen nicht viel mit, und noch viel weniger konnten sie sich wirklich in die Situation der Soldaten hineinversetzen. Und das war auch gut so.
<<Was zur Hölle ist dort unten eigentlich genau passiert?>>, fragte er Henry.
Henry zuckte mit den Schultern und stieg ein. Mit leeren Augen sah er seinen Vater an und sprach das erste Wort seit einigen Tagen:
<<Casevac>>, sagte er. Dann zog er die Tür zu.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Martin Wolfarth).
Der Beitrag wurde von Martin Wolfarth auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.02.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Martin Wolfarth als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Glück ist unberechenbar von Lisa-Doreen Roth



Ein schönes Zuhause, ein sicheres Einkommen, eine kleine Tochter und viele Freunde.
Ina liebt ihr Leben in Hamburg und auf Sylt, mit Oliver und Klein-Julie, in dem Glück und Zufriedenheit regieren.
Ein Autounfall bringt diese heile Welt leider ins Wanken. Nach dem Unfall, bei dem Oliver zum Glück nur leicht verletzt wird, ist er seltsam verwandelt.
Seine Unbeherrschtheit und charakterlichen Veränderungen bringen Ina, Freunde, Chefs und Arbeitskollegen völlig zur Verzweiflung. Was ist nur los mit dem sonst so netten und hilfsbereiten Oliver? Starke Schmerzen machen ihm das Leben zur Hölle. In seiner Verzweiflung stiehlt er verschreibungspflichtige Schmerzmittel und ist unberechenbar. Eines Tages bricht er mit einem epileptischen Anfall an seiner Arbeitsstelle zusammen und ihn erwartet eine furchtbare Diagnose …

Ein Schicksal, wie es jeden Einzelnen von uns treffen kann ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gesellschaftskritisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Martin Wolfarth

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Nachtglut (1. Kapitel) von Martin Wolfarth (Fantasy)
Ali von Claudia Lichtenwald (Gesellschaftskritisches)
Ein Königreich für eine Lasagne von Uwe Walter (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen