Jürgen Pannek

Das lange Warten auf Hahnemanns Vermächtnis

Warum die 6. Auflage des Organons der Heilkunst erst 78 Jahre nach seinem Tod erschien
 

 

 



 Anmerkung des Verfassers
 
Das Organon der Heilkunst von Samuel Hahnemann, die grundlegende Schrift der Homöopathie, ist in insgesamt 6 Auflagen erschienen. Die 6. Auflage erschien erst 1921, herausgegeben von Richard Haehl. Die Gründe für die späte Publikation sind bis heute nicht vollständig geklärt. Die am häufigsten genannte Hypothese besagt, dass Hahnemanns Frau Melanie (1800-1878) aus finanziellen Gründen die Herausgabe des Manuskripts verweigerte, doch auch diese Vermutung ist umstritten.
 
An Versuchen, das Manuskript früher zu veröffentlichen, hat es nicht gemangelt. 1856 forderte Clemens v. Bönninghausen von Melanie Hahnemann während ihres Aufenthalts in Münster erfolglos die Herausgabe des Manuskripts. Darüber hinaus ist belegt, dass Melanie Hahnemann 1865 mit dem Verlag Reichard und Zander in Berlin über eine Publikation verhandelt hat. Bei Kriegsausbruch 1870 verliess Melanie Hahnemann Paris und überführte Hahnemanns gesamten literarischen Nachlaß nach Münster/Westfalen. Letztmals zu Lebzeiten Melanie Hahnemanns bemühte sich 1877 Dr. Bayes im Auftrag der "Londoner Schule für Homöopathie" ohne Erfolg um das Manuskript. Erst 1920, nach 25 jährigem Schriftwechsel erwarb Richard Haehl von der Familie v. Bönninghausen die Hinterlassenschaft Hahnemanns und veröffentlichte im März 1921 eine seitdem verlorene Abschrift der 6. Auflage.
 
2010 veröffentlichte der Apotheker Alexander Bohn den Thriller: „Hahnemanns Vermächtnis“ (1. Auflage, Dannsheimer Verlag), in dem er das (fiktive) Konzept der Homöopsychè entwickelt, welches auf der Übertragung der Persönlichkeit eines Individuums auf ein anderes mittels potenziertem Liquor basiert.
 
Das vorliegende Manuskript verknüpft die Geschichte des Organons mit der Grundidee des Thrillers.
 



 2.7.1843, 11 Uhr
 
Melanie Hahnemann öffnet leise die Tür zu Samuels Zimmer. Der grosse Samuel Hahnemann, Begründer der Homöopathie, der mit seiner neuen Heilmethode so vielen Menschen das Leben gerettet hat, liegt matt und mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Seine Züge sind vom Alter, den Anstrengungen der letzten Monate und von der Krankheit gezeichnet. Melanie und er wissen beide, dass er diese Pneumonie nicht überleben wird.
 
Als Melanie den Raum betritt, öffnet Hahnemann die Augen. Mit leiser Stimme bittet er sie näher.
 
„Wie geht es Dir?“
 
„Wie beide wissen, dass mein diesseitiges Leben nun zu Ende geht. Ich habe ein hohes Alter erreicht, ich durfte mit Gottes Hilfe vielen Menschen helfen und soll nun zu ihm heimgehen. Aber, Melanie: ich habe in letzter Zeit sehr viel über Sterben und Tod nachgedacht. Die Homöopathie ist ein Geschenk an die Menschheit. Die Macht der kleinen Kugeln ist gross. Gott hat mich zu seinem Werkzeug gemacht. Ich durfte diese Wissenschaft auf Erden entwickeln und verbreiten. Aber es gibt noch so viel zu tun. Die chronischen Krankheiten sind ein nicht gelöstes Problem. Die Miasmen sind eine so wichtige Entdeckung, aber keiner meiner Schüler hat sie wirklich verstanden. Im Gegenteil, selbst die wenigen, die mir bislang gefolgt sind, fallen von meiner Lehre ab. Sie halten die Miasmenlehre für einen Irrweg eines alten greisen Mannes. Melanie, ich kann nicht so einfach die Erde verlassen. Meine Mission hier ist noch nicht erfüllt. Und Gott sieht das genauso. Er hat mir einen faszinierenden Weg gezeigt, wie ich mein Leben weiterführen kann, auch wenn mein sterblicher Körper nicht mehr lebensfähig ist. Aber dieser Weg verlangt Opfer, von mir und von Anderen. Liebe Melanie, ich habe eine neue Ausgabe des Organons vorbereitet. Alle Korrekturen sind gemacht, das Manuskript kann dem Verleger zugestellt werden. Jedoch habe ich in letzten Kapitel eine Entdeckung angefügt, welche die Medizingeschichte noch einmal revolutionieren wird, und, glaube mir, Melanie, gegen den Sturm, den diese Entdeckung verursachen wird, war die Entwicklung der Homöopathie nur ein lauer Windhauch.“
 
Müde sank Hahnemann zurück in seine Kissen. Als Melanie das Zimmer bereits wieder verlassen wollte, setzte er seine Rede mit fast unhörbarer Stimme fort.
 
„ Bitte versprich mir hier auf meinem Totenbett drei Dinge: Erstens: Du wirst mich in diesem Leben nicht mehr wiedersehen. Wundere Dich nicht, wenn Du meine sterblichen Überreste findest. Vertraue mir. Das Opfer, das gebracht werden muss, scheint gross, ist jedoch nur ein kleines Sandkorn im Vergleich zum Berg der Erkenntnis, welche die Menschheit daraus gewinnt. Zweitens: Lese noch einmal das Manuskript des neuen Organons. Du wirst darin ein ungeheures Geheimnis finden, das Dir vor meinem Ableben dir mitzuteilen mir der Mut fehlt. Und drittens: bitte lasse mich nun für eine Stunde allein.“
 
 
 
2.7. 1843, 11.30
 
Leise öffnet Samuel Hahnemann die Tür zu seiner Dachkammer. Dort, auf einem Tisch, liegt halb betäubt und gefesselt ein junger Mann. Hahnemann öffnet einen kleinen Kasten, aus dem er eine Spritze und eine Injektionsnadel hervornimmt. Er dreht den jungen Mann auf die Seite, legt ein Messer zum Durchschneiden der Fesseln neben ihn und injiziert die Flüssigkeit mit geübter Hand in das Rückenmark des Gefesselten. Mit letzter Kraft lässt er sich in den daneben stehenden Sessel fallen, macht noch einige tiefe Atemzüge – dann ist Samuel Hahnemann tot.
 
Der junge Mann auf dem Tisch erwacht langsam. Verwundert schaut er um sich. Er scheint nicht begreifen zu können, was mit ihm geschehen ist. Langsam dreht er den Kopf. Dabei sieht er das bereitliegende Messer. Mit einem schwachen Lächeln ergreift er die Klinge, befreit sich von den Fesseln und erhebt sich langsam. Mit einem Blick zwischen Mitleid und Erstaunen betrachtet er die Leiche des Begründers der Homöopathie, die vor ihm im Sessel liegt. Ohne sich weiter umzusehen, geht er zielstrebig zur Tür der Dachkammer und verlässt den Raum.
 



 2.7.1843, 12.30
 
Melanie Hahnemann betritt leise und vorsichtig Samuels Zimmer. Zu ihrem Erstaunen ist das Bett leer. Mit dem Gedanken, dass er die Toilette aufgesucht haben könnte, wartet sie einige Minuten. Als Samuel nicht wiederkommt, erinnert sie sich an die letzten Worte ihres Mannes. Sie solle sich nicht wundern, wenn sie seine sterblichen Überreste fände. Was meinte er damit? Will er seinem Leben gezielt ein Ende setzen, weil er das Leiden nicht ertragen kann? Völlig absurd, durch die homöopathische Medikation war er kurz davor, ruhig, friedlich und schmerzfrei einzuschlafen. Meinte er vielleicht weniger in welchem Zustand, sondern an welchem Ort sie ihn finden würde? Ruhelos steht Melanie auf und durchsucht das Haus. Weder auf der Toilette noch in seinem Arbeitszimmer findet sie ihn. Endlich steigt sie die Treppe zum Dachboden herauf. Behutsam öffnet sie die Tür – und erstarrt. Ihr Mann befindet sich halb liegend, halb sitzend in dem alten Lehnstuhl, den er sich in seinen letzten Wochen auf diesen Dachboden hat bringen lassen. Kein Zweifel – er ist tot. Seine Züge wirken im Tod entspannt, friedlich, fast triumphierend. Seit Wochen schon hat sie sich gewundert, warum Samuel immer häufiger sich nach hier oben als in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. Nun versteht sie seine Worte; hier oben, wo er aus Gründen, die nur er selbst kannte, den grössten Teil seiner letzten Monate verbracht hatte, wollte er sterben.
 


8.7. 1843
 
Melanie sitzt in ihrem Wohnzimmer. Seit einer Woche ist sie das erste Mal allein im Hause. Die letzten Tage hat sie weder Schlaf noch Ruhe gefunden. Obwohl sie doch lediglich die letzten 8 Jahre in Paris gelebt haben, war die Anzahl der Leute, die Anteil an Samuels Tod nahmen, immens. Freunde, Patienten und auch ehemalige Gegner ihres Mannes suchten sie immer wieder auf, um ihr zu kondolieren, auch Tage nachdem Hahnemann auf dem Friedhof Montmartre  begraben worden ist. Um nicht tatenlos im Sessel zu sitzen und langsam in einen Zustand der Erschöpfung und Depression zu fallen, holt sich Melanie das Manuskript der Neuauflage des Organons hervor. Dies ist die letzte Erinnerung an ihren Mann, mit dem sie trotz des grossen Altersunterschieds noch so viele schöne, intensive und lehrreiche Jahre hat verbringen dürfen. Und dieses Organon, die Grundlage der Homöopathie, auf das Samuel so stolz gewesen war und dessen Inhalt er fast wie ein Besessener Buchstaben für Buchstaben gegen seine Kritiker verteidigt hat, war die „Bibel“ der Homöopathen, das grundlegende Lehrbuch dieser Wissenschaft. Auch Hahnemanns letzte Gedanken kreisten ja noch um dieses Buch. Wie sagte er kurz vor seinem Tod? „Lese noch einmal das Manuskript des neuen Organons. Du wirst darin ein ungeheures Geheimnis finden, das Dir vor meinem Ableben dir mitzuteilen mir der Mut fehlt.“
 
Plötzlich überfällt Melanie ein seltsames Gefühl. Was meinte er damit? Sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt, weder privat noch in beruflichen Dingen. Wieso sprach er von einem Geheimnis, dazu noch von einem „ungeheuren“? Wieso fehlte ihm, der nie vor irgendeinem Menschen, ganz gleich welchen Standes, ein Blatt vor den Mund nahm, der Mut, ihr etwas zu sagen? Alle Müdigkeit und Trauer fallen von ihr ab. Sie beginnt, das Buch durchzusehen. Auf den ersten Seiten findet sie keine Besonderheiten. Die Vorrede ist stark gekürzt. Im ganzen Text finden sich in Hahnemanns typischer Handschrift verfasste Anmerkungen. Auch im weiteren Text zeigen sich auf nahezu jeder Seite ausgedehnte Streichungen, Einschübe, Umstellungen und akribisch eingefügte neue Textpassagen. Ein grosser Teil des neuen Texts ist brillant. Viele neue Erkenntnisse der letzten Jahre sind in das Manuskript eingegangen. Es ist präziser formuliert, die Thesen sind klarer herausgearbeitet, die Vorschriften unmissverständlich formuliert und wichtige neue Erkenntnisse, zum Beispiel die Hochpotenzen, werden erstmals im Organon dargestellt. Dies alles ist die Krönung der wissenschaftlichen Homöopathie, aber kein ungeheures Geheimnis! Alle diese Dinge hatte er mit ihr diskutiert, besprochen, hin und her gewendet, bis sie in der aktuellen Form von ihnen beiden gut geheissen wurden. Ratlos wendet sie sich dem letzten Kapitel des Buches zu. Es endet mit § 291, wie erwartet. Sie blättert die letzte Seite um. Auf der Rückseite befindet sich ebenfalls ein Text – § 292, überschrieben mit dem Wort: „Homöopsychè“. Seltsam, diesen Begriff hat sie bisher noch nie gehört. Fasziniert liest sie den recht langen Absatz. Ihr Ausdruck wechselt zwischen Staunen, Unglauben, Verwirrung und Heiterkeit. Nachdenklich legt sie das Buch zur Seite. Was war das denn? In diesem Paragraphen schildert ihr gerade verstorbener Mann, den sie so gut zu kennen geglaubt hat, ein ihr völlig fremdes Verfahren. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wann er es entwickelt h! atte; si e war der festen Ansicht, dass sie ihre Forschungen stets gemeinsam durchgeführt hatten und ihre Ergebnisse regelmässig und oft lebhaft miteinander diskutierten. Ausserdem war die beschriebe Technik abstrus. Sie ging von der Beobachtung aus, dass Menschen miasmatisch belastet sind – diese Theorie hatte Hahnemann in seinen letzten Jahren lebhaft vertreten und war auf starken Widerstand gestossen. Wenn also Miasmen Charakteristika des Individuums bestimmen und ich durch homöopathische Arzneien diese Charakteristika beeinflussen kann, muss ich sie auch im Menschen finden können- similis similia curentur. Hahnemann ging davon aus, dass der Geist Sitz der wesentlichen Eigenschaften des Menschen sei. Die Essenz des Individuums müsse daher in enger Beziehung zum Geist stehen. Die einzige Körperflüssigkeit, die in enger Beziehung zum zentralen Nervensystem, dem Zentrum des Geistes, steht, ist der Liquor, die Rückenmarkflüssigkeit. Ihr Mann ging davon aus, dass durch die homöopathische Aufbereitung, also Verdünnung und Potenzierung des Liquors einer Person die Persönlichkeit des Individuums extrahiert werden könne. Die Konsequenz war offensichtlich: durch eine derartig gewonnene Substanz liesse sich dieser Theorie zufolge die geistige Substanz, also das, was einen Menschen eigentlich ausmacht, auf ein anderes Individuum übertragen. Melanie schüttelt vehement den Kopf. Allein der Gedanke erscheint ihr völlig abstrus. War ihr Mann im Alter doch Wahnvorstellungen zum Opfer gefallen? Hatten seine ärgsten Kritiker, gegen den sie ihn immer in Schutz genommen hatte, doch Recht gehabt? Wie sehr durfte sie dann diesem Organon als Gesamtwerk trauen? Und doch- das Buch war ein Geniestreich, der ihres Mannes würdig war. Es ist bezüglich Didaktik, Theorie und Anordnungen zur praktischen Anwendung der Homöopathie den vorherigen Auflagen weit überlegen. Es zeigt alle Merkmale eines wohl durchdachten, planvoll weiterentwickelten wissenschaftlichen Werks. Und dann, ganz am Ende: die Homöopsychè. Eine offensichtlich völlig unvernü! nftige, durch nichts belegte Theorie, Dabei hat ihr Mann Theorien ohne Beweise stets strikt abgelehnt. Was sollte sie tun? Die Veröffentlichung des Organons mit dieser Ergänzung würde die ganze Homöopathie unglaubwürdig machen. Andererseits: offensichtlich lag ihrem Mann viel an dieser Entwicklung, sonst hätte er nicht einen derart ausführlichen Paragraphen an das Organon angefügt. Sie beschliesst, erst einmal eine Nacht vergehen zu lassen, um am nächsten Morgen einen endgültigen Entschluss zu fassen.
 
 
9.7. 1843
 
Gegen Mitternacht erwacht Melanie. Sie glaubt zu träumen. Vor ihr, direkt an ihrem Bett, steht ein junger Mann, der sie schweigend betrachtet. Sie will schreien, aber Schreck und Angst machen sie stumm. Sie ist unfähig, sich zu rühren. Da beginnt der junge Mann mit leiser Stimme zu reden: „Fürchte Dich nicht, Melanie. Ich weiss, Du kannst mich nicht erkennen und wirst mir nicht glauben, aber ich bin Dein Mann, Samuel. Du hast meinen Leichnam gefunden, bestatten lassen und mich betrauert, aber – ich lebe. Ich lebe allerdings in einem anderen Körper, und der Preis für das Weiterleben war hoch – ein anderer, junger Mensch musste dafür sterben. Du erinnerst Dich an den letzten Paragraphen im Organon, den ich neu hinzugefügt habe? Ich kenne Dich gut genug, um mir vorstellen zu können, wie du beim Lesen reagiert haben wirst. Die Vorstellung der Existenz eines derartigen Verfahrens erschien Dir völlig unmöglich, und du wirst an meinem Geisteszustand gezweifelt haben. Aber, so unglaublich dieses Verfahren auch klingen mag; es funktioniert. Ich bin der lebende Beweis dafür. Ich habe meinen Liquor selber potenziert, einen jungen verwahrlosten Mann aus der Gosse in unser Haus gelockt, betäubt und meine Essenz in sein Rückenmark injiziert. Ich lebe in seinem Körper weiter, den ich übernommen habe. Ich habe ihn nicht getötet, ich habe lediglich dank meiner überlegenen geistigen Fähigkeiten seinen Körper übernommen.“
 
Melanie ist entsetzt. Das soll ihr geliebter Mann sein? Das völlig andere äussere Erscheinungsbild kann sie sich noch erklären, aber seine Worte klingen so ganz anders wie die Gedanken Samuels. Er, der immer für seine Mitmenschen da war, sollte ohne Skrupel einen Menschen ausgelöscht haben, um sein eigenes Weiterleben zu sichern? Bei allem homöopathischen Ehrgeiz, ja Fanatismus, den ihr Mann zuweilen an den Tag gelegt hat, das klang völlig unglaubwürdig.
 
„Glaube mir, Melanie, ich bin es wirklich. Erinnerst Du Dich noch an unsere Ankunft in Paris? Meine erste Handlung war es, unserem völlig erschöpften Pferd einige Globuli Arnica zu geben. Das wissen nur wir beide, ausser uns war kein anderer Mensch in der Nähe. Wäre ich nicht Samuel, woher sollte ich das wissen? Du musst mir vertrauen. Ich werde dich jetzt wieder verlassen. Aber wisse: ich bin in Deiner Nähe. Ich werde meine Forschungen weiterführen, und ich werde Dich von Zeit zu Zeit aufsuchen, um Dir meine neuesten Forschungserkenntnisse mitzuteilen. Ich bitte dich: füge sie als neue Paragraphen der neuen Ausgabe des Organons an. Für die Öffentlichkeit bin ich tot, also kann es keine weitere Bearbeitung aus meiner Hand geben. Darum verzögere die Herausgabe des Manuskripts, bis ich Dir eine andere Anweisung gebe.“
 
„Ich kann nicht glauben, dass wirklich Du vor mir stehst. Deine Experimente mit der Homöopsychè – wie hast du sie vor mir verbergen können? Wie konntest Du nur einen Menschen für Dein eigenes Weiterleben opfern? Bitte geh – du bist mir unheimlich. Ich habe Angst vor Dir. Das Organon werde ich so schnell wie möglich veröffentlichen, so wie du es zu Lebzeiten erstellt hast. Deine furchtbaren sogenannten Weiterentwicklungen dürfen nicht öffentlich gemacht werden; die Folgen wären schrecklich.“
 
„Das ist wirklich Deine Meinung? Ich hätte von Dir mehr wissenschaftliches Engagement erwartet. Meine Entdeckung wird vielen Wohltätern der Menschheit, Genies aller Fachrichtungen, ein Weiterleben ermöglichen. Sie werden Fortschritt bringen, Katastrophen vermeiden und Leben verlängern können – ist das nicht wenige Leben Einzelner wert? Ich sage Dir: wenn Du dich nicht fügst, werde ich nicht als Dein Getreuer, sondern als Wächter des neuen Organons in Deiner Nähe sein. Wage es nicht, gegen meinen Auftrag zu handeln – schon um Deiner selbst Willen.“
 


10.07.1843
 
Als Melanie am Morgen erwacht, weiss sie nicht, ob das ganze Geschehen lediglich ein Albtraum gewesen ist oder ob diese Begegnung tatsächlich real gewesen war. Als sie jedoch die Küche aufsucht, liegt dort ein Zettel auf dem Tisch, auf dem nur ein Satz stand: „Wehe Dir, wenn Du meinen Anweisungen nicht folgst“. Nachdenklich legt sie den Zettel auf den Tisch. Also kein Traum, sondern Realität. Was soll sie tun? Die Behörden verständigen? Mit welchem Argument? Mein verstorbener Mann ist im Körper eines Anderen zu mir gekommen und bedroht mich? Die einzige behördliche Aktion, die sie damit auslösen würde, wäre ihre eigene Einweisung in eine Irrenanstalt gewesen. Also beschliesst sie, zunächst abzuwarten. Das Organon-Manuskript zu publizieren, hat keine Eile. Sie würde mit den Verlegern verhandeln, etwas härter vielleicht, als sie es eigentlich vorhatte. Sie würde einfach einen höheren Preis verlangen oder andere, nicht einfach zu erfüllende Bedingungen stellen. Sollten die Leute sie doch für habgierig halten. Der junge Mann, der jetzt Samuel war, musste einige Jahre jünger sein als sie selber. Eine biologische Lösung des Problems scheint somit nicht wahrscheinlich. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten und darauf zu hoffen, dass sich mit der Zeit eine Lösung für das Problem finden lässt.
 
 
Nach Juli 1843
 
Bereits zu Lebzeiten Hahnemann wurde die revidierte Ausgabe des Organons von seinen Kollegen dringlich erwartet. Nach seinem Tod warten die homöopathischen Kollegen zunächst einige Monate ab, wann Melanie das Buch veröffentlichen lassen werde. In dieser Zeit erscheint Samuel in ganz unregelmässigen Abständen in ihrem Haus. Meist bleibt er nur einige Minuten und erkundigt sich nach den Anfragen zu seinem Manuskript. Melanie sind diese Besuche immer unheimlich. Insgeheim fürchtet sie sich vor diesem Wesen, das in gewisser Weise noch ihr Mann sein soll. Aber eigentlich ist diese Angst nicht unmittelbar gerechtfertigt, denn Samuel oder besser seine Reinkarnation sind an der Person Melanies gar nicht interessiert. Nach 7 Monaten bringt er den ersten neuen Paragraphen für das Organon. Im Laufe der nächsten Jahre werden seine Besuche seltener, aber sie bleiben immer unvorhersehbar und sind noch häufig genug, um Melanie an die ihr auferlegte Aufgabe zu erinnern. Da sie die homöopathische Praxis weiterführt, hat sie regelmässigen und engen fachlichen Kontakt zu Kollegen, die sie immer heftiger drängen, Hahnemanns Vermächtnis endlich zu veröffentlichen. Sie gibt diesem Drängen scheinbar nach und führt Verhandlungen mit verschiedenen Verlegern, lässt sich dabei jedoch viel Zeit. Dabei kommt ihr entgegen, dass hauptsächlich deutsche Verlage Interesse zeigen und sie in Frankreich lebt, was die Kommunikation zeitaufwendig macht.
 
Im Laufe der Zeit ändert sich die Situation in verschiedener Hinsicht. Während ein Teil der Kollegen offensichtlich die Hoffnung aufgegeben hat, dass Hahnemanns letztes Manuskript der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, verstärkt der andere Teil der Homöopathen den Druck auf Melanie. Aber auch mit Samuels Inkarnation gehen deutliche Veränderungen vor. Bei jedem Besuch wurde er unruhiger, mürrischer, misstrauischer. Melanie weiss nicht, wo er jetzt lebt und forscht, aber es scheint kein Ort zu sein, an dem er sich wohl fühlte. Er sieht schlecht genährt aus, seine Kleidung ist abgetragen und schmutzig. Neue Paragraphen für das Organon bringt er nur noch extrem selten. Er spricht nicht über seine gegenwärtigen Lebensumstände, und Melanie fragt auch nicht danach. Sie ist froh, ihn so selten wie möglich zu sehen. Aber wie schlecht es ihm auch zu gehen scheint, zum Abschied stösst er immer mit unverminderter Heftigkeit seine Drohung gegen sie aus.
 
So vergehen mehr als 10 Jahre. Melanie führt ihre Praxis weiter, zwischenzeitlich unternimmt sie Reisen zu ihren deutschen Kollegen. Einerseits möchte sie den Kontakt nicht abreissen zu lassen, andererseits sucht sie auch Mitarbeiter für ihre Praxis und einen Mann für ihre Tochter. Bei einem dieser Besuche bei Clemens v. Bönninghausen in Münster entspinnt sich ein heftiger Streit um die Herausgabe des Manuskripts, aber Melanie lässt sich weder überreden noch einschüchtern. Zur Beruhigung ihrer Kritiker führt sie zwischenzeitlich Verhandlungen über eine Publikation mit verschiedenen Verlagen, bringt diese aber zu keinem Abschluss.
 
Im Jahre 1870 bricht der deutsch-französische Krieg aus. Die Kriegswirren versucht Melanie für sich zu nutzen. Die chaotische Situation bei der Belagerung von Paris gibt ihr die Möglichkeit, die Stadt unbemerkt zu verlassen. Ihren Mann sieht sie 5 Tage vor ihrer Abreise zum letzten Mal. Bei ihrer Flucht von Paris nach Münster führt sie Hahnemanns gesamten literarischen Nachlaß mit sich.
 
In den letzten Jahren ihres Lebens ringt Melanie mit sich, ob und wie weit sie dem Wunsch ihres Mannes nachkommen soll. Die Schriften, die er ihr nach und nach zur Ergänzung des Organons gegeben hatte, waren alle von minderer Qualität. Offensichtlich fehlten ihm die materiellen Mittel, aber auch die geistige Kraft und Ruhe, um weiterhin klar strukturiert zu forschen und zu analysieren. Für Melanie besteht kein Zweifel; sie vernichtet diese minderwertigen Schriften, damit sie nicht nachträglich ein schlechtes Licht auf Hahnemanns Gesamtwerk werfen. Lediglich bezüglich des Abschnitts über die Homöopsychè bleibt sie lange unschlüssig. Einerseits stellt dieses Verfahren die letzte Innovation dar, die ihr Mann noch zu Lebzeiten entwickelt hatte. Und – er selber war der lebende Beweis, dass das Verfahren erfolgreich war. Andererseits stellt es einen gravierenden Bruch zu seinem Gesamtwerk dar. Es setzt voraus, dass man seine Existenz als wichtiger einschätzte als das Leben Anderer. Die Publikation dieses Verfahrens würde nicht, wie ihr Mann plante, das Überleben einiger weniger hervorragender Forscher und Politiker sichern, sondern dazu führen, dass besonders skrupellose und egomanische Personen die Technik nutzen werden, um sich ewiges Leben zu sichern.
 
Melanie macht sich die Entscheidung nicht leicht. Noch im Jahr vor ihrem Tod lehnt sie ein Kaufgesuch der "Londoner Schule für Homöopathie" für das Manuskript ab.
 
1878 stirbt Melanie Hahnemann. Erst kurz vor ihrem Tode trifft sie ihre Entscheidung. Sie hat in den letzten Monaten sehr sorgfältig den gesamten Nachlass ihres Mannes durchgesehen, um ganz sicher zu sein, dass es ausser der Stelle im Organon keinen weiteren Hinweis auf die Homöopsychè gibt. Als sie weitere Hinweise ausgeschlossen hat, verbrennt sie die angefügte letzte Seite des Manuskripts und verstreut die Asche im Garten ihrer Wohnung.
 
Nach Melanie Hahnemanns Tod gelangt das Manuskript in den Besitz der Familie von Bönninghausen, bei der Melanie nach ihrem Umzug aus Paris gelebt hat. Von den Erben der Familie erwirbt Richard Haehl im Jahre 1920 nach 25 jährigem Schriftwechsel die Hinterlassenschaft Hahnemanns und veröffentlicht im März 1921 die 6. Auflage des Organons. Eine lange Wartezeit ist vorbei.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.02.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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