Karin Brose

Nirgendwo


Was für ein Elend! Die Tankstelle hat geschlossen. Nur eine miese Energiesparlampe verbreitet ein wenig schales Licht im hinteren Bereich. Der Tank meines Mini ist mehr als leer. Auf dem letzten Tropfen bin ich auf den Hof gerollt. Was mache ich jetzt? Ich schaue mich um. Wo bin ich hier gelandet? 100 km vor den Toren Berlins und es mutet an wie das Ende der Zivilisation. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Aber welche? Die Dorfstraße wölbt sich unter dem Kopfsteinpflaster, als hätte sie sich unter Schmerzen gekrümmt. Wer darüber geht oder fährt, kommt nicht so leicht davon. Kein glattes Weiterfahren, kein Darüberhinwegrollen. Ganz im Gegenteil. Jeder einzelne Stein verursacht ein kleines Hindernis, zwingt zur Erinnerung. Denk daran! Weißt du noch? Vergiss nicht! Die Straße säumen vereinzelt geduckte, windschiefe Häuser, von deren Fassaden der Putz abbröckelt, aus deren Schornsteinen kein Rauch aufsteigt. Keine Häuserfront, nein, es sieht hier aus wie ein großer Mund, in dem zahlreiche Zahnlücken klaffen. Die Lücken geben den Blick frei auf unbestellte Felder, braune Erde, vertrocknete Halme. Ich gehe hinüber zu den Häusern. Schaue mich verstohlen um. Meine Neugierde ist mir peinlich. Mit beiden Händen schirme ich das Licht ab und presse mein Gesicht an eine Fensterscheibe. Drinnen sehe ich eine Art Wohnzimmer. Die Möbel sind alt. Grauer Staub bedeckt alles. Die Deckenleuchte ist umwoben von Spinnennetzen. In einer Zimmerecke steht eine vertrocknete Pflanze. Es mag einmal eine Zimmerpalme gewesen sein. Die Blätter sind vor Trockenheit aufgerollt und schon lange nicht mehr grün.
An der Tür zum nächsten Zimmer liegt eine einsame Wollsocke. Wer hat die verloren? Wie eilig hat er das Haus verlassen, dass er sie zurücklassen musste? Wohin hat es ihn verschlagen?
Ich schaue mich um. Noch immer ist niemand zu sehen. Die Straße wie leergefegt, die Tankstelle verlassen, Häuser ohne Leben. Ich gehe weiter zum nächsten. Ehemals grüne Fensterläden, die aufgrund fehlender Farbe nun anmuten, als hätten sie Lepra, schwingen im Wind langsam auf und zu. Das klappernde Geräusch ist nahezu das einzige, das man hört. Nur ab und zu surrt eine Fliege vorbei. Ich frage mich, wo sie Nahrung findet und möchte es doch eigentlich gar nicht so genau wissen. Irgendwie liegt hier eine „zwölf Uhr mittags Atmosphäre“ in der Luft. Ich bin ratlos. Wenn ich hier weg will, werde ich den ADAC rufen müssen, denn ich kenne niemanden in der Nähe. Auf das Gespräch bin ich nicht gespannt, wenn ich erklären muss, warum ich ohne Benzin im Nirgendwo liegen geblieben bin. Wie heißt das Kaff eigentlich? Das sollte ich zumindest wissen, bevor ich das Handy bemühe. Ich mache mich also auf den Weg zurück. Nach ca. 500 Metern sehe ich das Ortsschild. Ich trete darum herum und muss grinsen. „ Nigdzie“, steht da. Na, das macht doch Sinn! „Nirgendwo“. Tja.
Plötzlich höre ich ein Geräusch. Mit dem Auftauchen eines Konvois aus 5 Fahrzeugen erkenne ich, dass es Musik ist. Volksmusik. Wie schön! Prima, denke ich, meine Rettung. Die können mich bestimmt zur nächsten Tankstelle schleppen.
Das erste Vehikel ist ein bunt lackierter Bus. Die Aufschrift, die von vorn bis zum Heck reicht, sagt alles. „Florian Silbereisen AIDA Vario“ steht da in rosa Lettern. Die wollen zur Ostsee. Die Vario ist ein Kreuzfahrtschiff, das Wellnessreisen auf der Ostsee unternimmt. Aus dem Bus schauen müde Gesichter, die der launigen Volksmusik, die aus dem Lautsprecher auf dem Dach dröhnt, deutlich widersprechen. Die haben Wellness dringend nötig, denke ich. Wahrscheinlich halten sie mich für eine Bewohnerin dieses Ortes. Aber wer weiß das schon? Der Bus zuckelt vorüber. Aus der Heckscheibe glotzt mich ein dickes Kindergesicht an. Jetzt streckt es mir die Zunge aus und zieht dabei mit beiden Händen seine Augen und seinen Mund breit. Oh, bist du hässlich! Ich drehe mich um in der Gewissheit, dass ich das nächste Fahrzeug anhalte. Ich winke kräftig mit beiden Armen. Und... sie winken zurück! Sie winken tatsächlich im Takt der Musik, ich glaube es nicht. Ein Auto nach dem anderen, sämtlichst große, deutsche Fabrikate, rumpeln über das Kopfsteinpflaster an mir vorüber. Die Insassen, meist Frauen mittleren Alters, winken mir freundlich zu. Das kann doch nicht wahr sein! – Sie sind vorbei. Ich sehe das Heck des letzten Wagens über das Kopfsteinpflaster schaukeln und am Ortsende verschwinden.
Also doch der ADAC. Ich schlendere zum Ortskern zurück, wo ich eine Bank erinnere. Es kann ja dauern, bis mich hier jemand erlöst. Ich will mich gerade auf der Bank unter der Kastanie neben dem ehemaligen Postamt häuslich einrichten, als ein Trecker die Straße heraufgetuckert kommt. Ich stehe auf, laufe ihm entgegen und winke. Ein junges Mädchen sitzt am Steuer. Ihr blondes Haar guckt unter einem rot gemusterten Kopftuch hervor, mit dem sie Ihre Frisur gebändigt hat. Freundliche blaue Augen schauen mich an. Ein Junge im Bus hat Bescheid gesagt, dass hier jemand wartet, sagt sie. So ein kleiner Dicker. Da hab ich mich mal auf den Weg gemacht, denn hier kann ja niemand freiwillig sein. – Ich bin überrascht und leicht beschämt. Sieh an, das kleine Mondgesicht aus der Heckscheibe. – Was ist passiert in diesem Ort, frage ich die junge Frau. Sie wird ernst.
Vor genau sieben Jahren wurde in Nigdzie eine ganze Familie ausgelöscht. Eine Neonazigang war in das Haus des Pastors eingedrungen, hatte die Frau und zwei Töchter erst vergewaltigt und gefoltert, um sie dann bei lebendigem Leib zu verbrennen. Den Pastor zwangen sie, dabei zuzusehen. Der arme Mann verlor den Verstand, während die Mörder unerkannt entkamen. Es waren schon damals nur noch wenige Häuser bewohnt. Danach zogen die Letzten auch fort. Sie ertrugen diesen furchtbaren Ort nicht mehr. Sie glaubten, Gott müsse das Dorf verlassen haben.
Mir kommen die Tränen. Hört das denn nie auf? denke ich. – Warum? Ich kannte die Opfer nicht, dennoch fühle ich unendliches Mitleid. Ich bin traurig, weil ich diesen Gott nicht verstehen kann, der solche Taten zulässt und die Täter entkommen. Und ich frage mich, warum mir gerade hier das Benzin ausgehen musste.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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