Jennifer Kramer

Mutter und Tochter

„Oui? Qui est la?“
„Christina, ich bin es, deine Mum.“

Stille. Cynthia bebte innerlich. Sie wollte gerade nochmals auf den Klingelknopf drücken, als sie abermals das Rauschen der Gegensprechanlage vernahm.
„Mum, was tust du hier? Warum bist du hier? Ist etwas mit Dad?“
„Dad geht es gut. Ich bin deinetwegen hier. Bitte, lass mich heraufkommen.“
„Was willst du hier?“
„Christina, bitte, lass mich rein.“

Abermals Stille. Das gedämpfte Dröhnen des Pariser Verkehrs war alles, das in die idyllische Seitenstraße des Boulevard Kaufmann drang. Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönte der Türöffner. Erleichtert stemmte Cynthia die schwere Tür des Altbauhauses auf und ließ sie geräuschvoll hinter sich ins Schloss fallen. Sie konnte gar nicht schnell genug die drei Stockwerke hinauf in die Wohnung ihrer Tochter eilen, die sie sich bis vor wenigen Wochen noch mit ihrem Verlobten geteilt hatte, einem französischem Journalisten, der als freier Mitarbeiter für verschiedene, namenhafte Pariser Zeitungen schrieb. Cynthias Skepsis ihm gegenüber hatte sich also bewahrheitet. Er hatte es wirklich fertig gebracht, Christina kurz vor der Geburt ihres gemeinsamen Kindes sitzen zu lassen. War das vielleicht die französische Lebensart oder besser gesagt, Liebesart? Cynthia spürte eine rasende Wut auf den Mann, der ihre Tochter in eine solche Lage gebracht hatte. Sie kannte ihn kaum, doch alles, was ihr von ihm bekannt war, brachte sie dazu, diesen Mann als niveaulos und heuchlerisch einzustufen. Sie hätte ihm am liebsten mit bloßen Händen den Hals umgedreht.

„Christina!“ Sie trat auf ihre Tochter zu, die mit zerzausten Haaren, ohne Make up und einem langen, unförmigen Shirt, unter dem sich eindeutig ihr Schwangerschaftsbauch abzeichnete, an den Türrahmen gelehnt stand, die Arme wie in Kampfhaltung vor der Brust verschränkt. Sie wich Cynthia aus, die sie in ihre Arme schließen wollte und trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Cynthia sah sich in der geräumigen Wohnung um. Schon auf den ersten Blick bemerkte sie, dass sie sich in einem katastrophalen Zustand befand. Halb gepackte Umzugskartons stapelten sich im Flur und auch im Wohnzimmer. Durch die halb geöffnete Küchentür sah Cynthia, dass sich der Abwasch auf der Anrichte neben der Spüle türmte und durch die leicht angelehnte Schlafzimmertür erspähte sie das nicht gemachte Bett, auf dem Kissen und Decken ein so wildes Durcheinander abgaben, als hätten sich dort Kleinkinder bei einer Kissenschlacht vergnügt.

„Tina“, hilflos trat Cynthia nochmals auf sie zu, doch sie tat sofort drei Schritte zurück und ließ sich auf einem der Umzugskartons nieder.
„Warum bist du hier? Ist in Dublin eine Seuche ausgebrochen und mussten sie darum die Uni schließen oder was ist los?“ Ihr Zynismus war scharf und Cynthia zuckte innerlich zusammen.
„Tina, bitte…“, setzte Cynthia sanft an, doch sie wurde sofort von Christina unterbrochen. „Hör endlich auf mit deinem Tina Gerede! Diese Zeiten sind vorbei und zwar schon ca. dreißig Jahre lang, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest!“
„Christina, ich weiß, dass ich mich nicht immer richtig verhalten habe. Doch nun bin ich hier und…“
„Warum, Mum? Warum bist du ausgerechnet jetzt hier?“
„Ich möchte dir helfen. Du brauchst doch jetzt jemanden, der dich unterstützt.“ Cynthia deutete vorsichtig auf das Chaos um sie herum.
„Bist du hier, um mir Vorhaltungen zu machen? Ich weiß, dass das hier nicht deinem Anspruch entspricht.“ Mit einer ausladenden Geste deutete sie auf den Raum um sich herum. „Doch weißt du, Mum, ich habe dich nicht hergebeten. Ich hatte heute keinen Besuch erwartet.“
„Es ist in Ordnung, Tina.“ Sie seufzte tief. „Christina“, fügte sie schnell noch hinzu, als sie den zornigen Blick ihrer Tochter bemerkte. „Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich will einfach nur für dich da sein.“
„Musst du nicht arbeiten? Warum kannst du einfach mitten im Semester frei nehmen?“
„Mir ist jetzt das wichtigste, für dich da zu sein. Die Arbeit kann warten. Meine Familie steht für mich über meiner Arbeit.“
„Ach ja? Das wäre ja ganz neu.“ Verbittert sah Christina sie an und versetzte Cynthia damit einen Stich in die Herzgegend. Cynthia ließ sich nun ebenfalls auf einem der Umzugskartons nieder, unbeachtet ihres hochwertigen Valentino Kostüms. Sie hatte nicht den Mut, ihre Tochter dazu aufzufordern, dass sie doch hinüber ins Wohnzimmer gehen könnten, wo zumindest noch das Sofa zu stehen schien, wie sie durch die geöffnete Flügeltür des Altbaus erkennen konnte. Doch zunächst war sie froh, dass Christina ihre Anwesenheit zumindest in dem Flur der Wohnung duldete, in dem nur noch der Stuck an der hohen Decke daran erinnerte, dass hier einmal eine wohnliche Atmosphäre geherrscht hatte.
„Wann musst du aus der Wohnung raus?“
„In zwei Wochen.“
„Wie wolltest du das alles allein schaffen? Das Packen in deinem Zustand? Das ist doch vollkommen unmöglich. Und vor allen Dingen, wo gedenkst du, hinzuziehen?“
„Ein Kollege aus dem Labor hilft mir. Und bei ihm bekomme ich ein Zimmer für eine geringe Miete.“ Ihre Stimme klang tonlos und sie schien gewaltsam jegliche Emotion aus ihrem Gesicht zu verdrängen. Diese gesamte Situation musste doch so schmerzhaft für sie sein. Und dann erwartete sie auch noch ihr erstes Kind. Was machte sie wohl durch, in ihrem Inneren? Auf einmal fühlte Cynthia sich furchtbar hilflos. Das war doch ihre Tochter, die dort so starr vor ihr saß, ihren Kummer in sich verbergend, sich stark gebend, aber eigentlich müsste sie doch nichts sehnlicher wollen, als einfach nur an der Schulter eines vertrauten Menschen schluchzend zusammen zu brechen. Jedoch sie, ihre Mutter, war für Christina nicht dieser vertraute Mensch. So hart diese Erkenntnis auch war, doch es war Cynthia nie zuvor so bewusst, wie in genau diesem Moment, als sie in Christinas verhärtete Gesichtszüge blickte, direkt ihr gegenüber auf einem Umzugskarton hockend, und sich dennoch endlos weit von ihr entfernt fühlend.
„Sind die restlichen Möbel und Kartons hier alle deine Sachen?“
„Das Sofa gehört René. Er wird es noch in den nächsten Tagen abholen lassen.“ Plötzlich schimmerten ihre Augen feucht. Rasch senkte sie den Kopf.
Cynthia lehnte sich vor und versuchte, ihren Arm nach Christina auszustrecken, um sie leicht am Knie zu berühren. „Es tut mir alles so leid für dich, Christina.“ Christina zog sofort ihr Bein zurück und setzte sich aufrecht hin. „Lass das!“, fuhr sie Cynthia an und erhob sich von dem Umzugskarton. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und atmete tief aus. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun, Mum? Ansonsten kannst du jetzt auch gern wieder gehen. An der Uni warten sie sicher schon auf dich.“
„Ich habe gekündigt, Christina.“
Mit offenem Mund starrte Christina ihre Mutter an. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Fassung zurück gewann. Dann huschte für den Bruchteil einer Sekunde ein Anflug von Besorgnis über ihr Gesicht. „Bist du krank, fehlt dir etwas? Ich meine, etwas Ernstes?“
„Nein, ich bin nicht krank. Ich möchte einfach nur mein Leben verändern. Das ist der Grund dafür, dass ich diese Entscheidung getroffen habe.“ Cynthia sprach betont ruhig, um Christina die Möglichkeit zu geben, diese vielen neuen Informationen aufnehmen und sortieren zu können.
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“ Nervös fuhr Christina sich durch die Haare und ging in dem langen Flur auf und ab.
„Du brauchst gar nichts zu sagen. Ich erwarte nicht, dass du mir umgehend verzeihst, dass ich mich all die Jahre so wenig um dich gekümmert habe.“ Sie hielt inne und spähte vorsichtig zu Christina herüber, doch ihre Tochter schwieg eisern. „Aber vielleicht kann es irgendwann für uns beide einen Neuanfang geben. Ich bin nun hier, ich habe Zeit für dich und ich werde dich unterstützen in dieser Situation.“
„Halt, Stopp mal!“ Christina hob ihre rechte Hand und baute sich vor Cynthia auf, die noch immer auf dem Umzugskarton hockte, ihre Handtasche auf ihrem Schoß, die kleine Reisetasche vor ihren Füßen, unruhig an ihrer Halskette spielend. „Du kommst hier herein spaziert, einfach so, ohne mich vorher zu fragen, ob ich das überhaupt möchte und nun erzählst du mir auch noch, du hättest deinen Job gekündigt und willst angeblich alles wieder gut machen, was du sechsunddreißig Jahre lang verbockt hast? Glaubst du ernsthaft, dass es so leicht ist?“
„Nein, Christina, ich bin nie davon ausgegangen, dass du mir sofort um den Hals fallen wirst. Ich sagte doch, dass ich nichts von dir erwarte. Gar nichts.“
„Nein, das ist doch überhaupt nicht wahr!“ Christina fasste sich an ihren Bauch und atmete tief. „Du erwartest, dass du mir jetzt helfen kannst, jetzt, wo ich tief am Boden bin und dass danach dann alles wieder gut ist. Doch hast du mich nur einmal gefragt, seit du hier bist, ob ich deine Hilfe überhaupt will? Um wen geht es hier eigentlich, um dich oder um mich?“ Sie ließ sich erschöpft auf einem der Kartons nieder. Erneut hatten ihre Augen einen feuchten Schimmer angenommen.
„Christina“, Cynthia beugte sich abermals zu ihr vor, woraufhin Christina sofort innerlich verkrampfte und ihre Arme um ihren eigenen Körper schlang. Cynthia rang nach Worten. Die tiefe Verletzung ihrer Tochter schnürte ihr den Hals zu. Im Hörsaal wusste sie immer, wie sie sich zu verhalten hatte und legte eine Professionalität an den Tag, die so manchen Studenten erschaudern ließ. Doch diese Situation, gemeinsam mit ihrer verzweifelten Tochter inmitten von Umzugskartons sitzend, die Wahrheit nicht aussprechen könnend, brachte sie an ihre Grenzen. „Ich habe dich noch nicht gefragt, nein. Darum frage ich dich jetzt, ob ich uns zunächst einen Tee kochen soll und wir dann gemeinsam beginnen wollen, deine restlichen Sachen zusammen zu packen? Und heute Abend lade ich dich zum Essen ein in ein Restaurant, das du aussuchen darfst. Was hältst du davon?“
Christina sagte nichts. Sie schien nachzudenken. Dann erhob sie sich langsam. „Mum, ich möchte jetzt allein sein.“
Cynthia schluckte. „In Ordnung, natürlich.“ Sie erhob sich von dem unbequemen Karton und rückte ihren Rock und ihren Blazer zurecht. Christina ging zur Wohnungstür und öffnete sie demonstrativ. Cynthia folgte ihr unsicher. „Soll ich dich später anrufen?“
„Ist mir egal. Du kannst auch den nächsten Flieger zurück nach Dublin nehmen.“

Cynthia trat in den Hausflur hinaus und warf ihrer Tochter noch einen flüchtigen Blick zu. „Dann bis später, ja?“
Christina zuckte nur mit den Achseln. „Wie gesagt, es ist mir egal.“ Dann schloss sie, ohne ein weiteres Wort zu sagen, die Tür. Cynthia starrte noch einen Moment lang auf die verschlossene Tür, wandte sich dann um und stieg langsam die Treppen hinab. Ihr Blackberry brummte in ihrer Tasche und zeigte ihr den Eingang einer neuen Nachricht an. Sie holte es aus ihrer Tasche hervor und öffnete den Posteingang. Die Email war von Mia Barrow und hatte den Betreff Abschied? Ohne die Mail zu öffnen, ließ Cynthia ihr Blackberry zurück in ihre Tasche gleiten. Eine Nachricht von Mia Barrow hatte ihr nun gerade noch gefehlt. Sie stieg rasch die letzten Treppenstufen hinab und atmete erleichtert die frische Herbstluft ein, als sie wieder auf der Straße vor dem gut restaurierten Altbau angekommen war. Sie fühlte sich so hilflos, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie war ein so gut strukturierter Mensch, hatte immer für jede nur denkbare Situation eine Strategie parat, doch auf das hier war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte damit gerechnet, dass es schwer werden würde, Christina unter die Augen zu treten, sie hatte aber nicht einkalkuliert, dass es ihr das Herz brechen würde. Doch in genau diesem Moment, als sie am Dienstag, den vierzehnten Oktober 2009, einem wunderschönen Herbsttag, die Pariser Rue de Jaque-Barqué entlang ging, vollkommen ziellos, ihr Gepäck über der knochigen Schulter tragend, hatte sie das Gefühl, ihr Herz wäre genau in der Mitte in zwei Stücke zerrissen.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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