Irene Beddies

Der Goldfisch


 
Fred lag bäuchlings auf dem Steg, an dem am Abend die Fischer ihre Boote festmachten. Aufmerksam spähte er ins Wasser, um sich die Zeit zu vertreiben, bis seine Freundin Nella kommen würde.
Da kam etwas Goldschimmerndes aus dem Schatten des Stegs in das sonnenhelle Wasser hervorgeschossen. Er sah genauer hin. Ein stattlicher Goldfisch verharrte nun reglos über den Kieseln. Fred war es, als ob der Fisch ihm in die Augen sah.
Vorsichtig ließ er eine Hand ins Wasser. Ein klein wenig bewegte er die Finger, ohne dem Fisch Angst machen zu wollen. Der Fisch schwamm im Kreis um die Hand des Jungen, zuletzt stupste er den Zeigefinger mit dem Maul an, als ob er sich vom Geruch des Jungen überzeugen wollte.
„Du bist doch kein Hund“, lachte Fred leise, „Hunde schnuppern an den Händen, aber doch wohl kein Fisch! Du hast doch keine Nase! Oder doch?“
Der Fisch umkreiste die Hand ein anderes Mal und stieß sein Maul wieder an Freds Finger. Der Junge wurde neugierig. „Was willst du von mir?“, fragte er laut.
„Mit wem redest du?“ Nella hatte sich auf den Steg geschlichen und wollte ihrem Freund die Augen zuhalten, ließ aber davon ab, als sie ihn so reden hörte.
„Pst!“ Fred legte den Finger auf die Lippen und bedeutete Nella mit einer Handbewegung, sich neben ihn zu legen. Nella ließ sich mit einem Plumps fallen. Husch, war der Fisch unter dem Steg verschwunden.
„Konntest du nicht etwas vorsichtiger sein?“, knurrte Fred böse.
„Warum? Was ist los? Mit wem redest du eigentlich?“, zischte Nella, „wenn du mich hier nicht haben willst, kann ich ja wieder gehen.“
„Entschuldige, Nella, du konntest es ja nicht wissen“, begann Fred versöhnlich, „hier war eben ein Goldfisch und hat an meinem Finger gerochen.“
„Sei nicht albern, Fred! Goldfische gibt es nicht in unserem See und riechen können sie schon gar nicht. Was denkst du dir da wieder für Märchen aus!“
Nella fühlte sich Fred oft überlegen, denn sie war zwei Monate älter.
„Du brauchst gar nicht so schlau zu tun, das weiß ich alles selbst. Aber trotzdem war hier eben ein Goldfisch. Leg dich neben mich und sei ganz ruhig, vielleicht kommt er wieder.“
Nella war neugierig geworden und tat, was Fred ihr vorschlug.
Zusammen starrten sie in das klare Wasser. Undeutlich sahen sie ihre Spiegelbilder auf der Oberfläche, deutlich die großen und kleinen bunten Kiesel.
Da! Ein rotgoldener Pfeil kam angeschossen und verharrte im sonnenlichtdurchfluteten Wasser.
„Siehst du ihn?“, flüsterte Fred.
„Ja, wie kommt der hierher?“
„Lass uns sehen, Nella, was er macht, wenn ich meine Hand ins Wasser strecke.“
 Fred ließ die Hand wieder im Wasser baumeln, bewegte sacht seine Finger. Der Fisch umkreiste bald die Hand und stieß nach einer Weile mit dem Kopf an eine Fingerspitze.
„Was will er von dir?“, wunderte sich Nella.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Fred, „sicherlich will er mir eine Botschaft überbringen.“
„Hoffentlich von einem verborgenen Schatz“, flüsterte Nella geheimnisvoll.
„Nun bist du albern“, stellte Fred fest. „Ich glaube eher, er ist an die Hände von Menschen gewöhnt. Überleg mal, Nella, er kann doch aus einem Aquarium hier ausgesetzt worden sein, ausgesetzt wie ein ungeliebter Hund oder eine Katze, die niemand mehr haben will. Vielleicht will er gerettet werden.“
Nella war von diesem Gedanken sehr angetan. „Du, Fred, wir haben ein großes Aquarium auf dem Speicher. Wenn wir ihn fangen und dort hineinsetzen, können wir immer mit ihm spielen.“
„Und wie sollen wir ihn fangen? Meine Angel würde ihm das Maul verletzen.“
„Und wenn wir einen Korb oder ein Netz nehmen?“, fragte Nella. „Dann muss er ersticken, bevor wir bei dir ankommen, das geht nicht“, meinte Fred.
„Ich weiß!“, rief Nella, „ich laufe schnell die paar Schritte nach Hause und hole den großen Eimer, der in unserer Waschküche steht.“ Und schon war sie auf und davon.
Fred blieb auf dem Steg liegen und behielt die Hand weiterhin im Wasser, damit der Fisch nicht wieder verschwand. „Bald bist du erlöst“, murmelte er dem Goldfisch immer wieder zu.
Nella kam mit dem Eimer zurück. Vorsichtig ließ sie ihn am Anfang des Steges ins Wasser und zog ihn immer ein wenig dichter zum Fisch hin. Fred leitete ihn geduldig mit der Hand zum offenen Rund des Eimers. Mit einem Ruck zog Nella ihn hoch, als der Fisch darin war.
Zu zweit trugen sie den Eimer zu Nellas Haus. Er war für einen allein zu schwer.
 
Nellas Eltern hatten vorsorglich das Aquarium schon vom Speicher geholt. Als die Kinder mit dem Fisch eintrafen, füllten sie es mit Wasser und legten einen Stein hinein. Das musste vorerst genügen. Andächtig saßen die Kinder vor dem Becken und beobachteten, wie sich der Goldfisch in seinem neuen Zuhause verhielt.  Nellas  Vater brach auf, um aus der Zoohandlung Sand, Pflanzen und Futter zu holen.
„Habt ihr schon einen Namen für ihn?“, fragte er, als er zurückkam.
„Einen Namen?“, fragte Nella gedehnt, „haben Fische einen Namen?“
„Gewöhnliche Fische sicherlich nicht, aber er ist unser neuer Hausgenosse. Wir können ihn doch nicht nur <Fisch> nennen.“
„Goldi! Er kann Goldi heißen“, meinte Fred, „er ist doch golden und soo goldig“.
 
©I. Beddies

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Irene Beddies).
Der Beitrag wurde von Irene Beddies auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Irene Beddies

  Irene Beddies als Lieblingsautorin markieren

Buch von Irene Beddies:

cover

In Krollebolles Reich: Märchen von Irene Beddies



Irene Beddies hat in diesem Band ihre Märchen für Jugendliche und Erwachsene zusammengestellt.
Vom Drachen Alka lesen wir, von Feen, Prinzen und Prinzessinnen, von kleinen Wesen, aber auch von Dummlingen und ganz gewöhnlichen Menschen, denen ein wunderlicher Umstand zustößt.
In fernen Ländern begegnen dem Leser Paschas und Maharadschas. Ein Rabe wird sogar zum Rockstar.
Auch der Weihnachtsmann darf in dieser Gesellschaft nicht fehlen.

Mit einer Portion Ironie, aber auch mit Mitgefühl für die Unglücklichen, Verzauberten wird erzählt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (5)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Besinnliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Irene Beddies

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Am Grab von Irene Beddies (Zwischenmenschliches)
Meine Straße von Monika Klemmstein (Besinnliches)
„Die Fahrausweise bitte...!“ von Klaus-D. Heid (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen