Karin Erbstößer

Hörbare Schritte

Ausgerechnet Schritte! Warum ausgerechnet Schritte? Und warum ausgerechnet ich? Auf diese Fragen werde ich wohl keine Antworten erhalten. Niemals. Am Besten werde ich mal von vorn anfangen.

Ich kann nicht sagen, wann und warum es anfing. Irgendwann war ich im Supermarkt und vor mir schob ein junger Kerl seinen Einkaufswagen durch die Gänge. 'Netter Hintern, tolle Haare und schön groß' dachte ich und plötzlich konnte ich hören, wie der Typ die ganze Zeit sagte „Welches Bier soll ich für die Party kaufen?“. Da wir vor derselben Frage standen und vor dem Bierregal stehen blieben, sagte ich nur „Die gleiche Frage stelle ich mir auch.“ „Wie, welche Frage stellen Sie sich auch?“ „Na, welches Bier ich für heute Abend kaufen soll. Das haben Sie doch eben auch gefragt.“ Der Typ schaut mich an und sagt „Kein Wort habe ich gesagt.“, dreht sich um und geht ein paar Schritte am Regal weiter. „Ist das peinlich. Man sieht es mir an, dass ich kein Bier trinke.“ Ich wollte ihn trösten „Das muss Ihnen doch nicht peinlich sein, ich weiß ja auch nicht welches Bier die Leute so trinken.“ Er dreht sich um und fragt wie aus der Pistole geschossen „Können Sie Gedanken lesen?“ „Nein, wie kommen Sie denn darauf?“ „Weil ich eben genau das dachte, dass es mir peinlich ist.“ „Wie, sie haben das gedacht? Ich konnte sie doch ganz deutlich hören.“Tja, und da begann es. Er kam auf mich zu und ich hörte 'Nichts sagte ich, aber sie weiß alles. Vielleicht kann sie mir bei der Bierauswahl helfen.' Prompt antwortete ich „Klar, helfe ich ihnen.“

Abrupt blieb er stehen und schaute mich an und sagte „Was denke ich gerade?“ „Keine Ahnung. Woher soll ich das denn wissen?“ Seine Augen blieben an mir hängen „Ich habe gerade gedacht: Wie macht sie das bloß? Und bisher haben sie doch auch alles verstanden, was ich dachte. Versuchen sie es noch einmal. An was denke ich gerade?“ Er überbrückte die letzten Zentimeter mit zwei kleinen Schritten und blieb ganz dicht vor mir stehen. Ich hörte ganz deutlich, wie er „gelber Kühlschrank“ vor sich hin murmelte. „Warum zum Teufel sagen sie denn jetzt 'gelber Kühlschrank'?“ fragte ich ihn. Jetzt wurden seine Augen groß und er sagte „Genau das dachte ich. Gelber Kühlschrank. Ich habe das aber nicht gesagt. Ich habe es nur gedacht. Scheinbar können sie meine Gedanken hören, wenn ich mich bewege.“ „Jetzt machen sie mir aber Angst. Ich kann doch nicht hören, was sie denken. Das ist doch Blödsinn.“

Er sah mich an und machte dann folgenden Vorschlag „Okay, probieren wir es aus. Ich werde jetzt ein paar Schritte laufen und sie hören mir zu.“ Und schon ging er rückwärts, so dass ich sein Gesicht und seinen Mund weiterhin sehen konnte. Dieser bewegte sich nicht und trotzdem konnte ich deutlich hören 'Das ist ein Ding. Sie kann hören, was ich denke, wenn ich laufe. Es müssen die Schritte sein. Ich verstehe nur nicht, warum sie das nicht zugibt.' Ich rief: „Stopp! Bleiben sie bitte stehen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe sie ganz deutlich gehört. Sie fragen sich, warum ich nicht zugebe, dass ich Schritte (?) hören kann. Ich bin davon genauso überrascht, wie sie. Ich höre sie und sehe, dass sich ihr Mund nicht bewegt. Ein Bauchredner sind sie sicherlich auch nicht, oder?“ Natürlich blieb er stehen „Nein, bauchreden kann ich nicht. Aber ich habe genau das gedacht, was sie sagten. Okay, das ist wirklich sonderbar. Und jetzt habe ich Angst! Die Frage ist jedoch, können sie nur mich hören oder auch andere? Sehen wir mal, ob wir das herausbekommen. Kommen Sie, wir schauen mal, ob noch ein Kunde im Laden ist, der sich bewegt.“

Um es kurz zu machen, wir schoben unsere Wagen durch den Gang und suchten nach anderen Kunden. Ich war so aufgeregt und konnte hören, dass er es auch war. Und schon kam uns eine junge Frau entgegen, die mit der einen Hand den Wagen schob und an der anderen einen kleinen Jungen hinter sich her zog. Und schon kamen die Stimmen „Wie soll ich das alles schaffen? Einkaufen und Wäsche waschen, Wohnung sauber machen, keinen Job und allein mit dem Kind. Ich hasse den Scheißkerl. Wo zum Teufel steht hier nur das
Waschmittel?“ Und eine Kinderstimme hechelte „Mama zu schnell. Kann nicht so schnell.“

Ich schaute meinen neuen Freund an und teilte ihm mit, dass ich scheinbar alle, einschließlich der unterschiedlichen Stimmlagen und Dialekte, hören kann. Da standen wir uns nun gegenüber und ich sagte „Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist, und wie ich damit umgehen soll und vor allem stellt sich mir die Frage, wie kann ich es wieder abstellen? Ich will nicht wissen, was andere Leute denken. Ich habe mit mir genug zu tun. Ich will das nicht!“ Er antwortete „Das kann ich verstehen. Ich bin übrigens Paul. Und wie heißt Du?“ „Ich bin Caren. Und was machen wir jetzt?“ „Jetzt gehen wir erst einmal einen Kaffee trinken. Ich sage die Party ab und ich verspreche, ich werde an nichts denken, wenn ich laufe. Großes Indianerehrenwort.“ Diesem Vorschlag stimmte ich umgehend zu. Wir gingen an die Kasse – Paul redete die ganze Zeit vor sich hin „ Ich denke an nichts.“ - und bezahlten.

Auf dem Weg zum Kaffee kamen uns immer wieder Leute entgegen. Und ich konnte sie alle hören. Es wurde immer lauter in meinem Kopf. All die unterschiedlichen Stimmen, all die Satzfetzen. 'Mein Chef kann mich mal.', 'Ob sie wohl heute mit mir schläft?', 'Ah, dieser Termin kotzt mich an.', 'Ich bin so froh, dass es ihn gibt.'... Und zwischendurch immer wieder Pauls Stimme 'Ich denke an nichts. Ich denke an nichts.'

Nachdem wir endlich ankamen, war ich richtig froh, dass Paul einen kleinen Laden aussuchte, der keinen Coffee to go anbot und in dem außer uns nur die blondierte Bedienung war. Welch eine herrliche Ruhe hier war. Als Blondie uns unsere Bestellung brachte, hörte ich natürlich auch sie 'Das ist ja ein schnuckeliger Typ. Aber was will er denn mit der? Die ist doch mindestens 5 Jahre älter als er und hat auch ein paar Pfunde zu viel. Und wie er sie ansieht? Na, wo die Liebe hinfällt.' „ Bitte, hier ist ihr Kaffee.“ 'So, jetzt die Kaffeemaschine sauber machen und in 2 Stunden habe ich Feierabend.' Die Stimme wurde immer leiser und als Blondie endlich hinter dem Tresen ankam, war ihre Stimme nur noch im Hintergrund als Murmeln zu hören. Und auch nur, wenn sie lief.

Es war schon ein bisschen peinlich für mich. Ich sitze am Tisch mit einem Fremden, mitten am Tag, trinke Kaffee und habe Riesenkopfschmerzen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Paul nahm mir den ersten Schritt ab. „Ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, der eine solche Fähigkeit – nennt man das überhaupt Fähigkeit? - hat. Wie geht es Dir?“ „ Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen und bin nur froh, dass hier keiner ist. Endlich ist Ruhe. Was soll ich nur machen? Wie kann ich das abstellen? Bitte Paul, halte die Füße still.“ „Oh, es tut mir Leid. Das passiert automatisch. Ich halte die Füße jetzt still, versprochen. Kannst Du eigentlich auch die Kellnerin hören?“ „Ja, aber jetzt nur noch ganz leise, weil sie so weit weg ist. Sie denkt übrigens, ich bin zu dick und zu alt für dich.“ Das entlockte ihm ein Schmunzeln.

In diesem Moment ging die Tür auf und zwei Männer betraten das Kaffee. Sie sahen sich um und gingen zu dem am Weitesten von uns entfernten Tisch. Der eine groß, kräftig gebaut, grüne Augen und kurz geschorene Haare. Der andere schick im Anzug, nicht mehr ganz jung und mit einer Figur wie ein Geher. Schlank, aber durchtrainiert. Mister Kräftig dachte 'Den Job mache ich. Es gibt dafür immerhin eine halbe Million und was stört es mich, wenn dabei ein paar Leute drauf gehen. Die kenne ich doch nicht. Und dann ab nach Brasilien. Eine Woche, das sollte zu schaffen sein. Mal sehen, wen ich noch dazu hole.' Und Mister Schick 'Der Typ ist der Richtige. Und wenn ich Glück habe, dann geht er mit drauf. Da hat mir
Thomas genau den richtigen Namen genannt.' Sie setzten sich, und ich hörte erst einmal nichts mehr.

„Was ist los, Caren? Du bist noch blasser geworden als Du zuvor schon warst.“ fragte Paul. „Ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll, ob Du mir glaubst. Die beiden Männer planen einen Anschlag.“ „Was? Was hast Du gehört und was für einen Anschlag?“ Ganz leise erzählte ich Paul, was ich gehört hatte. „Was sollen wir denn jetzt machen? Ich kann doch nicht zur Polizei gehen und denen sagen, dass ich von einem Anschlag weiß, weil ich die Gedanken anderer durch deren Schritte hören kann. Die glauben mir doch nicht. Die holen höchstens einen Krankenwagen und weisen mich ein.“ „Und wenn Du denen nicht sagst, woher Du das weißt?“ „Ja, das wäre eine Möglichkeit. Aber ich weiß doch nur was von einem Thomas und dass noch eine Woche Zeit ist.“ „Du hast Recht, das reicht nicht. Da reagieren die Behörden sicher nicht drauf. Da müssen wir noch mehr herausbekommen. Kannst Du sie noch hören?“ „Nein, die bewegen ihre Füße nicht. Was soll ich denn jetzt tun?“ Paul nahm meine Hand „Die Frage ist nicht, was Du tun sollst, sondern was wir jetzt tun. Ich schlage vor, dass wir erst einmal zahlen, und dann folgen wir den Typen. Und dann werden wir doch hören, was die planen. Was hältst Du davon?“ „Ich habe Angst. Und ich bin froh, dass ich ausgerechnet Dich traf. Allein würde ich wahrscheinlich keinen Schritt mehr vor die Tür gehen und mir den Kopf darüber zerbrechen, wie ich die nächsten Tage überstehen soll. Aber deinen Vorschlag finde ich gut. Zuerst einmal folgen wir den beiden.“

Gesagt, getan. Wir zahlten, und als die Männer das Kaffee verließen folgten wir ihnen. Und plötzlich dachte ich nicht mehr daran, warum ausgerechnet ich durch Schritte Gedanken hören kann, und wie ich das wieder abstellen kann.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Stream of thoughts: Stories and Memories – for contemplating and for pensive moments (english) von Heinz Werner



Do we know what home is, what does this term mean for modern nomads and cosmopolitans? Where and what exactly is home?
Haven't we all overlooked or misinterpreted signs before? Are we able to let ourselves go during hectic times, do we interpret faces correctly? Presumably, even today we still smile about certain encounters during our travels, somewhere in the world, or we are still dealing with them. Not only is travveling educating, but each travel also shapes our character, opens up our view for other people, cultures and their very unique challenges.
Streams of thoughts describes those very moments - sometimes longer, sometimes only for a short time - that are forcing us to think and letting us backpedal. It is about contemplative moments and situations that we all know.

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