Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 33

Unter der Führung des Trolls bewegte sich der bunt zusammengewürfelte Trupp erneut weiter in den Wald hinein. Michael konnte zwar nicht den Finger darauf legen, aber er war überzeugt davon, daß der Troll nun noch verschlungenere Pfade wählte. Allerdings wagte niemand sich darüber zu beschweren. Die Furcht vor dem eben Erlebten saß den Gefährten noch immer in den Knochen und lauerte wie ein sprungbereites Raubtier darauf, sie jederzeit wieder anzufallen, sollte sich erneut etwas Unheimliches ereignen.
All dies führte dazu, daß die Gefährten dem Troll im Zustand äußerster Anspannung durch den Wald folgten und den Tag verfluchten, an dem sich dazu entschlossen hatten, diesen zu durchqueren. Und mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, wurde das Gelände noch schwieriger, fast so, als würde der Wald sich mit Gewalt gegen ihr Eindringen wehren. Allmählich begann Michael sich zu fragen, ob der Tag kommen würde, an dem sie endgültig nicht mehr weiterkommen würden. Dankbar sank er daher zu Boden, als der Troll nach einem langen, anstrengenden Tag endlich entschied, daß sie für heute weit genug vorangekommen waren. In schon routinierter Form wurde das Lager errichtet, das Abendessen eingenommen und die Wachen eingeteilt, denn der Wald begann sich bereits zu verfinstern und die Zeit der Dunkelheit würde sich jeden Moment über das Lager senken.
Gegen Mitternacht übernahm Michael gemeinsam mit Glyfara die zweite Hälfte der Nachtschicht. Noch nicht ganz wach ließ er sich auf dem umgestürzten Baumstamm am langsam erlöschenden Feuer nieder und lauschte aufmerksam auf die nächtlichen Geräusche des Waldes, das Knarren der Bäume und das Wispern des Windes in den oberen Etagen der Bäume, das ihn vor den Gefahren des Waldes zu warnen schien.
Er schauderte.
Der Wald hatte sich bisher mit aller Macht gegen sie gestemmt, und trotzdem befürchtete Michael, daß die wirklichen Gefahren erst noch vor ihnen lagen.
Mit einem langen Stock stocherte er in dem fast herunter gebrannten Feuer herum, das nur noch einen trüben Schein verbreitete, der kaum bis zum Rand der flachen Senke reichte, die ihnen als Lagerplatz diente. Dahinter herrschte tiefe Finsternis. Michael war mulmig zumute. Unruhig huschte sein Blick über die tiefen Schatten zwischen den Bäumen. Hier konnte sich alles Mögliche verbergen. Er seufzte. Noch nie war er sich so weit weg von zu Haus vorgekommen, wie in dieser Nacht. Alles war fremd. Sogar die Sterne, die man nur vereinzelt durch das hohe Blätterdach erkennen konnte, erschienen ihm anders. Hemingway hatte Recht gehabt, ging es ihm in Erinnerung an eine Deutscharbeit über den weltberühmten Schrifsteller durch den Kopf. „Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte.“
Verstohlen musterte er Glyfara, die auf der anderen Seite des Feuers saß und gerade einen trockenen Holzscheit in das langsam ersterbende Feuer schob. Es knackte lautstark, als die Flammen an dem Stück Holz hoch leckten, es verzehrten und Glyfaras Gesicht in einen warmen Schein tauchten. In Michaels Hals bildete sich ein Kloß, als ihm seit langer Zeit zum ersten Mal wieder bewußt wurde, wie hübsch seine Begleiterin war. Es verschlug ihm glatt den Atem, aber er wußte auch, daß dies weder die Zeit noch der Ort war, um  irgend etwas Törichtes zu sagen. Bevor er sich zu etwas hinreißen ließ, das er später bedauern würde, wandte er daher eilig den Blick ab und betrachtete stattdessen die Gefährten, die schwer atmend in den unterschiedlichsten Posen schliefen. Während er sich noch fragte, warum das Schicksal ihm solch eine Last aufgebürdet hatte, ertönte irgendwo in der Dunkelheit plötzlich ein lautes Knacken, unmittelbar gefolgt von einem Krachen, als wenn ein großer Ast brechen würde. Schlagartig fuhr er hoch.
„Was war das?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Glyfara, die ebenfalls aufgesprungen war und nun angestrengt versuchte, etwas zu erkennen, auf das sie ihren Bogen richten könnte. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
Ein Rascheln erklang.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen registrierte Michael, dass das Rascheln deutlich näher klang, als das vorherige Geräusch des brechenden Astes.
Das ließ nur einen Schluß zu.
Irgendetwas pirschte sich im Schutze der Nacht an ihr Lager heran. 
Michael konnte die Nähe des Wesens beinahe spüren. Eine physische Präsenz, die wie ein elektromagnetisches Feld ausstrahlte, seine Haut zum Prickeln brachte und ihn vor nackter Angst gerade zu lähmte.
Zugleich setzte eine unheimliche, lastende Stille ein. Es schien fast so, als habe diese Kreatur sämtliche Geräusche der Nacht verschluckt.
„Was zum Henker ist das?“, flüsterte er mit vor Furcht erfüllter Stimme.
„Keine Ahnung. Vermutlich ein nächtlicher Jäger, der auf Beute aus ist und so seinen Teil dazu beiträgt, dass keiner aus diesem verfluchten Wald wieder herauskommt. Genug Schauergeschichten haben wir über die Kreaturen dieses Waldes schließlich schon gehört.“ Glyraras Stimme klang angespannt. Es war nicht zu überhören, dass die Angst auch sie fest in ihren Klauen hielt.
„Nein, anders“, knurrte der Wühler, der plötzlich wie ein Schatten neben ihnen auftauchte, das Fell gesträubt. So tief hatten sie ihn noch nie Knurren gehört. Das war nicht gerade ermutigend. Michael schluckte.
„Sollen wir nicht lieber die anderen aufwecken?“
„Noch nicht“, bestimmte Glyfara. Eine gute halbe Minute lauschten sie schweigend, dann vernahmen sie erneut ein Geräusch. Wieder erklang das Rascheln von Laub, diesmal allerdings von irgendwo hinter ihnen, weit außerhalb des fahlen Lichtscheins und begleitet von einem kehligen, düsteren Grollen, das jeden Zweifel ausräumte.
Etwas Großes, Unheimliches schlich dort draußen in den Schatten der Nacht um das Lager.
Glyfara zögerte nicht länger und schoß einen Pfeil in die Richtung des furchteinflößenden Geräuschs ab, worauf ein unheimliches Lachen ertönte, das sich schnell entfernte.
„Den sind wir erst einmal los“, stellte Glyfara trocken fest, die bereits vorsorglich einen zweiten Pfeil auf die Sehne gelegt hatte.
„Abgehauen“, stimmte der Wühler zu.
„Aber was zum Teufel war das?“, fragte Michael, dessen Beine von dem Schreck noch ein wenig zitterten. Er versuchte in Glyfaras Gesicht zu lesen, wie es um sie stand und entdeckte Besorgnis und einen Hauch von Furcht auf dem makellosen Antlitz der Elbin.
„Ich fürchte, das werden wir schneller herausfinden, als uns lieb ist“, erwiderte sie mit ungewohnt ernster Stimme. Energisch schob sie den restlichen Vorrat an trockenem Holz in das Feuer, um die Schatten der Nacht zumindest ein wenig zu vertreiben.
 
In der Tat entdeckten sie am nächsten Morgen etwas, was die allgemeine Stimmung nicht gerade hob. Zwischen den Bäumen jenseits der Senke, die ihnen als Lagerplatz gedient hatte, befanden sich tief in den weichen Waldboden eingedrückte Spuren, in die der Wühler sogleich seine Nase versenkte.
„Gefährlich“, brummte er. Grüneich, der neben dem Wühler in die Hocke gegangen war, fuhr nachdenklich mit den Fingern über die Ränder der Spuren, die sogar noch ein gutes Stück größer waren als die, die er selbst hinterließ, was auf ein beunruhigend massiges Geschöpf schließen ließ. Eine Reihe tief ausgestanzter Löcher am vorderen Rand jeder Vertiefung dokumentierte eindrucksvoll, daß der Verursacher über ein paar mörderische Klauen verfügen mußte. Dem Troll war klar, daß nur ein Geschöpf in diesem Wald derartige Spuren hinterließ. Schon einmal war er ihnen nur knapp entkommen.
Golems.
Die abscheulichsten Kreaturen, die man sich vorstellen konnte, und mindestens einer war ihnen auf den Fersen war. Mit finsterer Miene teilte er den Gefährten seine Erkenntnisse mit, worauf erst einmal betretene Stille herrschte.
„Wir müssen also damit rechnen, daß ein Golem Jagd auf uns macht“, faßte Grimmbart schließlich die Ausführung des Trolls knapp zusammen. Grüneich nickte.
„Wir sollten besser davon ausgehen.“
„Wäre es dann nicht klüger, umzukehren und den Wald zu umgehen“, überlegte Michael, dem der Gedanke, gejagt zu werden, gar nicht gefiel.
„Kommt nicht in Frage“, beschied Glyfara resolut. „Die Zeit rennt uns davon. Außerdem wußten wir, daß das hier nicht leicht werden würde. Im Übrigen glaube ich nicht, daß ein einzelner Jäger, egal wie gefährlich er auch sein mag, eine schwer bewaffnete Truppe angreifen wird. Gestern Nacht hat schon ein einzelner Pfeil genügt, um ihm Angst einzujagen. Ab jetzt darf sich eben niemand mehr von der Gruppe entfernen. Dann sollten wir sicher sein.“
Die Erklärung war schlüssig, trotzdem flößte sie Michael keine Zuversicht ein. In Gedanken hörte er noch immer das schauerliche Lachen der Kreatur, und das hatte alles andere als ängstlich geklungen. Da nach Michaels Biologiekenntnissen Tiere in der Regel nicht zu lachen pflegen, ließ dies nur einen beunruhigenden Schluß zu. Dieser Jäger war intelligent, und das machte ihn doppelt gefährlich. Anscheinend war doch etwas an dem dran, was man sich über Golems erzählte. Erneut versuchte Michael einen Vorstoß.
„Könnte es sich hier nicht vielleicht um einen Späher handeln. Möglicherweise wartet dann an geeigneter Stelle ein ganzes Rudel dieser Kreaturen auf uns“, gab er mit einem Seitenblick auf den Troll zu bedenken, der nur sein kahles Haupt wiegte.
„Möglich ist alles. Dieser Wald birgt schließlich jede Menge unangenehme Überraschungen. Ich hatte euch gewarnt.“
„Nun gut, dann gibt es vielleicht demnächst eine Überraschung weniger.“ Demonstrativ tätschelte Grimmbart seine Axt. Spur hin oder her, er ließ sich davon jedenfalls nicht beeindrucken. Wenn der geheimnisvolle Verursacher tatsächlich so dumm sein sollte, Zwerge zu jagen, würde seine Spezies demnächst sehr weit oben auf der Liste der bedrohten Arten erscheinen. Streitaxt sah das ähnlich.
„Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich denke, wir haben jetzt genug spekuliert und sollten endlich aufbrechen“, brummte er vor, was auf zögernde Zustimmung stieß.
Geschlossen brach die Gruppe darauf hin auf. Allerdings hielten sich die Gefährten diesmal deutlich dichter zusammen, angesichts der neuen Gefahr, die ihnen offenbar drohte. Aber entgegen der allgemeinen Befürchtungen wurden sie von keiner unheimlichen Kreatur angegriffen, nur ihre Spuren tauchten in unregelmäßigen Abständen auf, als würde sie die Gefährten belauern. Auch die Nacht und der folgende Tag verliefen ruhig, sah man einmal von den üblichen natürlichen Fallen ab,  vor der sie Grüneich bewahrte. In der darauf folgenden Nacht erklang zum ersten Mal wieder das seltsame Lachen, wenn auch in großer Entfernung und sorgte dafür, daß Grimmbart, der gerade Wache schob, sich alles andere als wohl in seiner Haut fühlte. Hinzu kam, daß es auch noch anfing zu regnen, so daß der Untergrund am Morgen  aufgeweicht war, was wiederum das Vorwärtskommen in dem ohnehin schwer zugänglichen Gelände zu einer Qual machte. Das einzig Positive war, daß sie auf keine erneuten Spuren ihres unheimlichen Beobachters stießen. Im Stillen hofften alle, daß er die Jagd aufgegeben hatte, auch wenn ihr Gefühl ihnen etwas anderes sagte. Als der Regen schließlich am späten Vormittag aufhörte und in der Hitze langsam verdampfte, hatte Michael das Gefühl, in einer grünen Sauna unterwegs zu sein. Selbst die Zwerge waren daher dankbar, als der Troll gegen Mittag das Zeichen zum Anhalten gab. Als Lagerplatz diente eine kleine, halbrunde Lichtung, die wirkte, als sei sie extra für eine Rast entworfen worden. An drei Seiten bildete das Unterholz zwischen den massigen Stämmen der hoch aufragenden Bäume eine undurchdringliche Barriere, die es auch größeren Angreifern unmöglich machen würde, sie zu überwinden und ihnen so einen guten Schutz bot. Den Hinweis Michaels, daß der dornengespickte Wall es ihnen andererseits unmöglich machen sollte, im Falle eines Angriffs in diese Richtung auszuweichen, wischte der Troll lässig beiseite.
„Wir haben schon seit Gestern keine Spuren mehr gesehen. Außerdem bleiben wir nicht lange.“
Dankbar für die Rast ließen sich die Gefährten erschöpft auf dem weichen, aber feuchten Waldboden nieder. Michael, der neben Streitaxt mit dem Rücken an den Resten eines Baumstammes lehnte und seine verspannten Muskeln lockerte, war selbst zu müde zum Essen. Nur widerwillig ließ er sich einen Streifen Trockenfleisch aufdrängen. Während er lustlos kaute, musterte er aufmerksam seine Umgebung und dachte über die lässige Art des Trolls nach. Bisher hatte dieser immer zu äußerster Vorsicht geraten, und nun wischte er die Gefahr einfach beiseite. Michael hielt das für leichtsinnig. Er glaubte nicht daran, daß dieser unheimliche Jäger so einfach aufgeben würde. Wie zur Bestätigung, fing der Wühler plötzlich zu knurren an.
„Besuch“, brummte er.
Sofort waren die Gefährten auf den Beinen, die Waffen griffbereit.
„Verdammt“, zischte Glyfara, die mit gespannten Bogen das Dickicht beobachtete. Ihr Verstand sagte ihr zwar, daß diese Dornenhecke selbst dem gefährlichsten Jäger Einhalt gebieten würde, doch ihr Gefühl teilte diese Auffassung nicht. Die Zwerge hatten inzwischen beidseitig des Eingangs zur Senke Aufstellung genommen, während der Troll in der Mitte der Senke wartete, die Keule zum Zuschlagen erhoben. Nur Michael stand mit seinem Hartholzstab in der Hand ein wenig verloren herum.
„Ich denke, du hast seit Stunden keine Spuren mehr gesehen“, tadelte er Grüneich. Der zuckte gleichgültig mit den Achseln.
„Du glaubst doch nicht wirklich, daß das der einzige Jäger in diesem verdammten Wald ist.“ Sein Tonfall klang mitleidig.
„Jäger“, bestätigte der Wühler. In diesem Augenblick erklang ein lautes Rascheln. Irgend etwas bewegte sich mit hohem Tempo auf den Zugang der Senke zu. Michael spürte, wie sein Magen in die Kniekehlen sank. Was auch immer da draußen unterwegs war, es schien es eilig zu haben. Entweder war es selbst auf der Flucht oder ..... Im nächsten Moment stieß er verblüfft den Atem aus, als er die Ursache des Lärms ausfindig machte.
„Ein Kind“, flüsterte er.
Die Gefährten waren nicht minder sprachlos. Glyfara hatte vor Schreck sogar die Sehne ihres Bogens losgelassen, doch eine Laune des Schicksals wollte es, daß der Pfeil um Haaresbreite am Kopf des auf sie zu hastenden Kindes vorbeischoß und es so abrupt am Eingang der Senke zum Halten brachte.
„Wo ...“, brachte Glyfara, bei dem Gedanken, beinahe ein Kind getötet zu haben, zitternd hervor. „Wo um alles in der Welt kommst du denn her?“
„Im Augenblick dürfte uns eher interessieren, was hinter ihm her ist“, knurrte Grimmbart. Im selben Moment erklang ein gewaltiges Brüllen, das allen einen Schauder über den Rücken jagte. Das brachte wieder Leben in den circa achtjährigen Jungen, dessen kleiner Brustkorb sich mit der Regelmäßigkeit eines Blasebalgs bewegte. Ohne zu Zögern rannte er auf Grüneich zu und versteckte sich hinter dem breiten Rücken des verblüfften Trolls, während seine fast schwarz wirkenden Augen unruhig über die Gruppe huschten. Noch immer hatte er keinen Ton hervorgebracht.
„Na prächtig!“ Streitaxt, der den Eingang der Senke nicht aus den Augen ließ, schnaufte verärgert. „Dieser Junge hat diese Monster auf uns aufmerksam gemacht.“
„Beute“, stimmte der Wühler ihm zu.
„Was hätte er denn machen sollen? Sich uns zuliebe auffressen lassen?“, zischte Glyfara. Grimmbart erwiderte nichts, doch sein Blick sprach Bände. „Zwerge“, brummte Glyfara verärgert.
„Mich wundert vielmehr, wo dieses Kind herkommt, ich dachte ...“, schaltete sich Michael ein, doch der Rest des Satzes ging in einem wütenden Brüllen unter. Nachdem es verklungen war, ertönte ein anderes Geräusch, das Michael viel mehr erschreckte, als das tierische Gebrüll ihrer unbekannten Gegner. Ein Geräusch, das er schon einmal gehört hatte und seine Haare zu Berge stehen ließ.
„Da scheint sich jemand gut zu amüsieren“, stellte Grimmbart erstaunt fest, als er das Lachen vernahm, das sich langsam in der Ferne verlor.
„Genauso klang es neulich Nacht“, brachte Michael stockend hervor.
„Hast du gesehen, was dich gejagt hat?“, fragte Glyfara den verängstigten Jungen, der noch immer hinter Grüneich kauerte. Stumm schüttelte er den Kopf.
„Nun ja, zumindest scheint es sein Interesse eingestellt und das Weite gesucht zu haben“, bemerkte Streitaxt.
„Das bezweifle ich.“
Die Stimme des Trolls war fest und kompromißlos. Energisch drehte er sich zu dem Jungen um, vor dem er wie ein Turm aufragte. „Und jetzt würde ich zu gerne wissen, wo du herkommst“, brummte er. Zögernd begann der Junge zu erzählen. Als er geendet hatte, spiegelten die Gesichter der Gefährten die unterschiedlichsten Emotionen wieder. Vom Mitleid bis Unglaube war alles vertreten.
„Vor ein paar Tagen verlaufen“, kommentierte der Troll mit skeptischer Stimme als erster die Geschichte des Jungen, der sich mit dem Namen Greo vorgestellt hatte. „Schwer zu glauben. In diesem Wald überlebt niemand lange genug, um sich zu verlaufen.“
„Wir sind auch noch am Leben“, erinnerte Glyfara den mißtrauisch dreinschauenden Troll, „und er ist klein und fällt nicht so auf. Wahrscheinlich haben ihn die Jäger bisher übersehen.“
„Wie praktisch, dann findet er den Weg nach Hause bestimmt auch allein, ohne ernsthaft in Gefahr zu geraten. Du brauchst dich immer nur in dieser Richtung zu halten, dann kommst du sicher hier heraus“, forderte Grimmbart den Jungen unfreundlich auf, wobei er mit der Hand ein paar Richtungsangaben machte, die mit Ausnahme der dunklen Seite des Mondes so ziemlich jeden Ort auf dem Planeten umfaßten. Glyfara warf ihm einen finsteren Blick zu.
„Ich habe Angst, allein“, schluchzte Greo mit kläglicher Stimme und fixierte dabei Glyfara, der das zu Herzen ging.
„Angst ist gut, da bleibt man am Leben“, brummte Streitaxt. „Die beste Voraussetzung, um das hier durchzustehen. Das macht hart. Ne‘ gute Schule fürs Leben.“
„Stimmt“, kommentierte der Wühler, der gerade damit beschäftigt war, mittels seiner rechten Hinterpfote irgend etwas aus seinem Fell zu kratzen. Für ihn schien die Angelegenheit damit erledigt zu sein. Für Michael und Glyfara hingegen nicht.
„Ich höre wohl nicht recht“, brauste Michael auf. „Ihr könnt das Kind doch nicht einfach wieder sich selbst überlassen.“
„Es wird uns in Gefahr bringen“, erwiderte Grüneich düster.
„Und aufhalten“, ergänzte Grimmbart, worauf Glyfara zu Greo hinüberging und ihm beschützend ihren Arm um die Schulter legte. Irritiert stellte sie fest, daß sich die Schulter des Jungen kalt und leblos anfühlte, aber sie unterdrückte den ersten Impuls, den Arm wieder fortzuziehen. Statt dessen sah sie streitlustig zu Grimmbart hinüber, der sie kopfschüttelnd beobachtete.
„Wir müssen ab jetzt eben besonders aufpassen“, verkündete sie mit fester Stimme.
Es dauerte einen Augenblick, bis die Gefährten begriffen, was sie damit sagen wollte.
„Kommt nicht in Frage“, beschied Grüneich resolut. „Ich führe diese Gruppe an, und ich bestimme, was geschieht.“
„Vergiß nicht, wer dich dafür bezahlt“, erwiderte Glyfara streitlustig.
„Keine Sorge, das vergesse ich bestimmt nicht. Deshalb bin ich ja auch bemüht, euch lebend durch diesen Wald zu führen. Aber das geht nur ohne ihn.“ Demonstrativ verschränkte er die Arme vor der Brust. „Außerdem habe ich das untrügliche Gefühl, daß mit ihm irgend etwas nicht stimmt.“
„Kommt mir auch so vor, außerdem mag ich keine Fremden“, knurrte Streitaxt. „Egal, wie alt sie sind.“
„Egoisten!“
Glyfara schnaubte verärgert. „Hör nicht auf sie, das ist nur heiße Luft“, tröstete sie den verschreckten Greo, der geräuschvoll die Nase hochzog. „Ich passe schon auf dich auf.“
Michael seufzte. Die Situation erinnerte ihn frappant an zu Hause. Aus Erfahrung mit seiner Mutter wußte er, daß es wenig Sinn machte, Frauen, die einmal eine Entscheidung getroffen hatten, zu versuchen diese wieder auszureden. Man konnte nur verlieren.
„Besser wir freunden uns mit der Situation an“, teilte er daher den Gefährten mit, die daraufhin unwillig knurrten, schließlich aber, wenn auch widerwillig, zustimmten. Insgeheim vermutete Michael, daß sie das Kind wahrscheinlich ohnehin nicht allein zurückgelassen hätten, aber genauso wußte er auch, daß keiner der Gefährten das zugeben würde. Die Rolle des Kindergärtners verträgt sich eben nur schwer mit der Aura des knallharten Söldners.
 „Aber verlange nicht, daß wir auch noch den Babysitter spielen“, stellte Grimmbart die Situation noch einmal klar, erhielt jedoch keine Antwort. Glyfara würdigte ihn noch nicht einmal eines Blickes. Statt dessen wies sie Greo an, sich dicht an sie zu halten, der begeistert nickte. Grüneich, der das Ganze mit besorgtem Gesicht beobachtete, schüttelte nur den Kopf. „Unsere Chance, hier lebend herauszukommen, ist gerade drastisch gesunken“, bemerkte er noch, bevor er den Aufbruch befahl. 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-Peter Behrens).
Der Beitrag wurde von Klaus-Peter Behrens auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.03.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus-Peter Behrens als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Auch auf Leichen liegt man weich - Kurzgeschichten von Michael Mews



"Auch auf Leichen liegt man weich" ist eine Sammlung schaurig schöner und manchmal surrealer Kurzgeschichten, in denen Alltagsbegebenheiten beängstigend werden können und Schrecken auf einmal keine mehr sind - vielleicht!

Wir begegnen Lupa, der ein kleines Schlagenproblem zu haben scheint und sich auch schon einmal verläuft, stellen fest, dass Morde ungesund sind, und werden Toilettentüren in Flugzeug in Zukunft mit ganz anderen Augen betrachten.

Und immer wieder begleiten den Erzähler seine beiden guten Freunde: die Gänsehaut und das leichte Grauen ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus-Peter Behrens

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Kater und der wilde Norden, 16 von Klaus-Peter Behrens (Fantasy)
Das Abenteuer LEBEN! von Heidemarie Rottermanner (Fantasy)
Vom Glück, eine Katze zu haben von Mylène Frischknecht (Gedanken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen