Charlotte Sander

Brachial (1)

„Du wirst jetzt solange da draußen stehen bleiben, bis Du Dich entschuldigst“.
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Moment, als Thomas’ dumpfe Stimme durch die Balkontür hindurch zu mir drang. Dahinter sah ich sein irres Gesicht durch die Glasscheibe. Immer hatte er nur einen Grund gesucht, mich zu schlagen. Tagein, Tagaus machte er es sich zum Sport, mich zu demütigen. Es war nicht möglich, ihm auch nur annähernd etwas recht zu machen – egal, wie sehr ich mich auch bemühte.

Heute war mal wieder so ein Tag. Ich stand da draußen im Schlafanzug, wollte eigentlich zu Bett gehen. Ich war so müde – aber genau das war der richtige Moment für Thomas, seine Psycho-Spielchen mit mir zu treiben. Immer dann, wenn ich schon völlig fertig war… sei es, weil ich mich krank fühlte, sei es, weil ich müde war, sei es, dass es mir einfach nicht gut ging: Genau das waren die Momente, auf die er wartete, um mir noch mal so richtig weh zu tun.
Es war eisig kalt hier draußen. Meine Beine und Arme wurden schon taub; die Kälte brannte in meinem Gesicht. Tränen liefen meine Wangen hinab, da der Wind mir in die Augen blies. Geweint hatte ich schon lange nicht mehr. Nach all dem, was Thomas mir bereits angetan hatte, habe ich verlernt zu weinen. Man kann nicht weinen, wenn man geschlagen und mit dem Kopf gegen die Wand gedrückt wird. Und es kommen einem auch keine Tränen, wenn man in seiner Blutlache liegt, nachdem man gehört hatte, wie das eigene Nasenbein zerschmettert wurde mit der Wucht einer Faust. Man betet einfach, dass es vorüber geht, während man in seinem Elend und mit seinen Schmerzen daliegt, eingesperrt, ohne Essen, ohne Trinken, bis man zugibt, man hat einen Fehler gemacht, für den man sich inständig entschuldigt. Und man muss sich auch überzeugend entschuldigen, man muss wimmern und betteln, denn Dein Gegenüber sagt Dir jedes Mal auf’s Neue, dass Du lügst; immer wieder bekommst Du einen neuerlichen Schlag ins Gesicht, wirst eingesperrt und hoffst einfach, dass es vorbei ist… irgendwann… ohne Tränen.
Heute war ich allerdings im Gegensatz zu all den tausend Malen zuvor ausgesperrt statt eingesperrt. Und als ich hier draußen stand und mir klar wurde, dass ich dieser Kälte nicht mehr lang standhalten würde, da dachte ich daran, wie schön es doch war, als Thomas mich ohne Essen und Trinken zumindest nur eingesperrt hatte… da war mir wenigstens warm... Aber jetzt begann ich langsam zu spüren, dass ich gar nichts mehr fühlte. Meine Finger waren ganz blau – das konnte ich im Dämmerlicht erkennen.

Zum Glück war es dunkel, so dass mich die Nachbarn vielleicht nicht sehen konnten. Ich verhielt mich ganz still, damit sie mich nicht hören würden. Aber eigentlich waren meine Gedanken absurd. Denn so wie Thomas schrie, wenn er mich mal wieder durch die Wohnung stieß, mir den Hals zudrückte, war das nicht zu überhören. Ich glaube, die Nachbarn aber hörten mittlerweile weg, weil es für sie einfach nur noch unerträglich war. Und viele sahen mich auch verständnislos an, wenn ich den Müll raus brachte, und wieder andere trafen mich mit ihren traurigen Blicken, wenn wir uns beim Einkaufen begegneten. Sie ahnten nicht, wie viel Angst ich vor Thomas hatte.
Ich hatte es nur einmal gewagt, ihn verlassen zu wollen… seither nie wieder.

So sehr er mir auch Schmerzen zugefügt hat und weiterhin zufügen mag… ich habe Angst um meine Freunde und um meine Familie. Mir kann er so viele Schmerzen zufügen wie er will, aber die Menschen, die ich liebe, die muss ich vor ihm schützen. Nur gut, dass ich Freunde und Familie, seit ich mit Thomas zusammen lebe, nicht mehr sehen durfte. Ich denke, Thomas hat Angst, ich könne ihnen etwas erzählen; deswegen musste ich anfangs, als wir noch nicht so lange zusammen gewesen waren, immer den Lautsprecher am Telefon einschalten und durfte auch nur in seiner Gegenwart telefonieren. Das habe ich getan – ich hatte mich dagegen nur einmal gewehrt. Und irgendwann wollte niemand mehr mit mir telefonieren…

An all das dachte ich, als ich da stand… mit blauen Flecken von den Vortagen übersät, wimmernd, er möge mich doch bitte wieder in die Wohnung lassen. Er saß da im Wohnzimmer, trank genüsslich sein Bier und aß eine Pizza, die er sich in den Ofen geworfen hatte, während ich hier draußen voller Hoffnung, er würde mich irgendwann wieder hinein lassen, flehend zu ihm sah. Er blickte kurz auf und lächelte, nachdem ich ihn gebeten hatte, er möge mich doch bitte zur Toilette gehen lassen. Ich könne es nicht mehr zurückhalten.
Daraufhin meinte er, er ließe mich erst dann wieder rein, wenn ich auf den Boden gepisst und mich entschuldigt hätte.
Irgendwann fühlte ich keine Scham mehr. Ich fühlte eigentlich gar nichts mehr. Doch ich erinnere mich an den Geruch, den ich wahrnahm, als mir mein warmer Urin an den Beinen hinab lief. So stand ich da. Wartete. Setzte mich nach weiteren Minuten in die Urinlache. Wartete. Betete. Wimmerte.
Und irgendwann tat ich gar nichts mehr… bis ich merkte, wie etwas an meinen Haaren zerrte und schrie. Als ich meine Augen öffnete, sah ich Thomas über mir. Er schrie mich an, wie ich es wagen könne, auf den Balkon zu urinieren; ich solle das sofort wegmachen und mich entschuldigen. Er riss mich hoch, Haarbüschel fielen zu Boden, doch all das war mir egal. Ich hatte solche Schmerzen, wollte einfach nur, dass das irgendwann ein Ende hatte und ließ es über mich ergehen. Irgendwann würde Thomas müde werden, und dann konnte ich mich auch ausruhen… zumindest bis morgen, wenn ich wieder zur Arbeit gehen würde… wenn er mich denn gehen ließe. Ich hatte mir schon so oft Ausreden einfallen lassen müssen, warum ich nicht zur Arbeit komme… was sollte ich sonst tun?

Als ich mit dem Putzlappen, den Thomas mir hingeworfen hatte, dort am Boden lag und meinen Urin aufwusch, nahm Thomas den Lappen und drückte ihn mir ins Gesicht.
„Das macht man mit Hunden, wenn sie irgendwohin pissen. Verstehst Du das?“ Er rieb wie ein Verrückter, so fest und so lange, bis sich an meinem Kinn die Haut abrieb. Es brannte, und ich schmeckte den Urin, als er mir den Lappen in den Mund stopfte. Nie wieder würde ich woanders hin urinieren als in eine Toilette. Das schwor ich mir in diesem Moment, als Thomas mich auf die Beine riss, in die mit Wasser gefüllte Badewanne drückte, bis ich nach Luft rang, weil er meinen Kopf unter der Oberfläche festhielt. Auf einmal, mit einem Ruck, war mein Kopf wieder oben.
Thomas war schlafen gegangen.



Wem dieser Tagebuch-Eintrag bekannt vorkommt: Zum Selbstschutz veröffentliche ich diese Geschichte unter einem anderen Namen, da ich hierauf mehrere Leserbriefe bekommen habe und falsche Rückschlüsse auf meine Person gezogen werden könnten.

Es werden noch mehrere Teile dieser Geschichte (dieses Tagebuchs) folgen, und ich würde mich sehr über Eure Kommentare, Anregungen, Kritiken hierzu freuen.

Euch ganz liebe Grüße
CS

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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