Charlotte Sander

Brachial (9)

Ich bin jetzt seit 4 Jahren mit Thomas zusammen, und wenn man bedenkt, dass ich nach weniger als einem halben Jahr mit ihm Schluss machen wollte, dann muss ich schon sagen: Ich habe eine ganze Weile durch gehalten. Doch ich hoffe inständig, dass dieser Albtraum irgendwann ein Ende nehmen wird, denn ich bin mir nicht sicher, wie lange ich diese psychischen und physischen Qualen noch ertragen kann.
 
Ich erinnere mich, wie es war, als mich damals mein Chef mit ernster Miene in seinem Büro empfing. Er habe eine gute und eine schlechte Nachricht für mich, erklärte er zur Einleitung unseres Gesprächs. In einer Außenstelle in Schleswig-Holstein, um genau zu sein, in Kiel,  werde ein Mitarbeiter mit meiner Qualifikation gesucht, und er hätte sofort an mich gedacht. Etwas ungläubig sah ich ihn an. Ich saß hier in Frankfurt am Main, hatte dort eine schnuckelige Wohnung (die leider nicht mehr so schnuckelig war, seit Thomas vor ein paar Monaten eingezogen war), und mein Chef erklärte mir gerade, er hätte einen Job für mich im Norden Deutschlands. Na, das war doch mal ne richtig schlechte Nachricht, kann ich da nur sagen. „Ja, das war jetzt nur der erste Teil der schlechten Nachricht… Sie müssten für 2 Jahre dorthin.“ Er räusperte sich. „Die gute Nachricht allerdings ist, dass Sie nach diesen 2 Jahren wieder hierher zurück kämen und eine Beförderung für Sie anstehen würde.“ Er lächelte mich an und zwinkerte.
Das musste ich jetzt erstmal verarbeiten. Seit ich mit Thomas zusammen war, war ich leider nicht mehr entscheidungsbefugt, und letztendlich hatte ich auch keine große Wahl, wenn mein Chef mir eröffnete, ich solle den Job machen. Zumindest konnte ich mich in diesem Moment wenigstens ein bisschen freuen, denn eine Beförderung bedeutete mehr Geld, und ich muss schon sagen, das ist eine gute Entlohnung dafür. „Ich gebe Ihnen bis Anfang nächster Woche Zeit, damit Sie auch die Möglichkeit haben, das zu Hause zu klären, und dann setzen wir uns…“, er blickte in seinen Terminkalender, „am Montag um 10 Uhr zusammen und besprechen das weitere Procedere. Sie müssten dort am 01. Juli anfangen, das heißt, Sie haben ja jetzt noch knapp ein halbes Jahr, um das Wichtigste zu regeln, bis dass es soweit ist.“
 
Nachdem er mich per Handschlag verabschiedet hatte, ging ich nachdenklich zurück in mein Büro. Meine Arbeitskollegen waren wenig begeistert von dieser Hiobsbotschaft, hatten wir uns alle doch so aneinander gewöhnt, aber was sollte ich jetzt groß machen? Die Entscheidung war ja quasi bereits getroffen.
Tja, der erste und durchschlagende Punkt, der absolut dafür sprach, war, ich hatte die auf diese Stelle zugeschnittene Qualifikation, der zweite war, ich war kinderlos und unverheiratet, das dritte Argument könnte durchaus sein, dass ich meinen Job gut machte und mein Chef mich fördern wollte. Alles nachvollziehbar für mich – ob es für Thomas so sein sollte, das wusste ich bis dato noch nicht, aber ich stellte mich schon jetzt darauf ein, dass es unendliche Diskussionen geben und alles in einem Dilemma enden würde. Allerdings sah ich die Situation gerade als positiv an, denn so würde ich womöglich eine Möglichkeit finden, Thomas schneller als gedacht loszuwerden…
 
Mit meinen damals 28 Jahren hatte ich noch Großes vor, beruflich wie auch privat, und bereits jetzt, nach gerade mal einem halben Jahr, wusste ich, dass ich all meine Träume nicht würde verwirklichen können. Schon mehrere Male hatte Thomas mich geschlagen (wofür er sich tausendmal entschuldigt und versichert hatte, dies würde nie mehr vorkommen – kam es aber…), und ich hatte mir in der Vergangenheit immer geschworen, dass ich, sobald jemand die Hand gegen mich erheben würde, einen Schlussstrich ziehen würde. Doch ich gab Thomas immer wieder eine Chance, weil er mich so lange eingesperrt hielt und mir schreiend und weinend seine Liebe beteuerte, dass mir irgendwie nichts anderes übrig blieb, als klein beizugeben. Aber all das kam mir extrem seltsam und falsch vor… er habe Kindheitstraumen zu bewältigen… seine Eltern hatten ihn, den Armen, in eine Kinderpsychiatrie sperren lassen; nun habe er dann und wann diese Aggressionen, für die er nichts konnte. Ich müsse ihm  helfen und dürfe ihn bitte niemals verlassen, denn er liebte mich doch so sehr, und wir würden eine wundervolle Zukunft haben, gemeinsam mit einem schönen Haus, dafür würde er sorgen. Er flehte mich immer wieder an, ich müsse bei ihm bleiben – es sei doch selbst von seinen Eltern verstoßen worden, und ich dürfe nun nicht die nächste Enttäuschung sein.
Das wollte ich nun auf keinen Fall sein, denn bis dato hatte ich meinen Ex-Freunden immer eine gute Partie abgegeben, und der Schlussstrich wurde jedes Mal im gegenseitigen Einverständnis gezogen. Entweder man war zu verschieden oder man war zu gleich oder man hatte zu viele andere Interessen oder, oder, oder. Doch letztendlich waren sich immer beide Parteien einig, und so fühlten sich beide befreit und offen für etwas Neues (wie man es eben wollte). Doch so etwas wie Thomas war mir noch nie unter gekommen. Er tat mir auch irgendwie so leid, so dass ich ihm immer wieder auf’s Neue eine Chance gab. Doch wie ich damals die Dinge geregelt hatte, das kam bei Thomas überhaupt nicht mehr in Frage. Ich war gezwungen, bei ihm zu bleiben – und dass er mich schlug, war ja irgendwie auch darauf zurück zu führen, dass ich ihn immer dazu gebracht habe, wie er meinte… Vergangenheitsbewältigung eben, ich müsse doch Verständnis für ihn haben. Ja, ja, der arme Thomas, der mir noch viele Jahre mein Leben zerstören würde… dass es noch so viele Jahre werden würden, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht.
 
Heute bin ich 32. Das versprochene Haus hat er bauen lassen, wir leben nun in einem kleinen Dorf bei Frankfurt. Das Haus ist schön, aber ich wollte es nie bauen, und ich hasse es inständig, denn in diesem Gefängnis sind nun schon so viele unfassbare Dinge geschehen, dass es mich einfach nur noch anwidert, es zu betreten.
 
Ich fasse mich kurz: Als ich Thomas die Nachricht übermittelte, ich müsse in knapp 6 Monaten mit Sack und Pack für 2 Jahre nach Kiel, da war er hellauf begeistert und meinte, es wäre doch toll, wenn ich dann eine Gehaltserhöhung bekäme, vonwegen dem Hausbau, wenn wir wieder zurück kämen.
Verdammt, ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Und er setzte noch einen mit drauf. Er würde sofort beginnen, einen Job in Kiel zu suchen und würde mit mir gehen. Ich versuchte alles, ihn von dieser Idee abzubringen, meinte, es wäre doch viel zu viel Aufwand für ihn, er könne doch hier bleiben und ich käme am Wochenende zurück.
Das ging ja schon mal gar nicht. Er flippte regelrecht aus, wie ich denn überhaupt an so etwas denken könne. Er wolle doch immer bei mir sein und ließe mich auf gar keinen Fall alleine nach Kiel gehen. Das würde doch gar nicht funktionieren, wenn wir uns nur am Wochenende sehen. So sehr ich auch nach Argumenten dagegen suchte, so viele seiner Argumente sprachen dafür, und wenn Thomas es so wollte, dann wurde es so gemacht – und ja, der Arme – ihn wollte doch keiner, nun solle ich doch nicht auch so eine Böse sein, nicht wahr?...
 
Ich muss nun dazu sagen, dass ich damals ja quasi am Beginn unserer Beziehung war, zwar schon gemerkt hatte, dass mit Thomas so einiges nicht stimmte, aber irgendwie immer einen Schwamm drüber gezogen hatte… zu dieser Zeit war es auch noch so, dass ich eine eigene Meinung und keine Angst hatte, diese zu äußern. Das alles sollte sich mit den Jahren ändern… und nachdem Thomas in diesem Streit ein sehr teures Original-Bild eines mir sehr lieben Künstler-Freundes, der sehr erfolgreich war, zerstört hatte, wusste ich: Hierfür gibt es nur eine Lösung – und die war, dass Thomas seinen Willen bekam und er mit mir nach Kiel gehen würde… und so kam es dann auch.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Charlotte Sander).
Der Beitrag wurde von Charlotte Sander auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Charlotte Sander als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Zwei himmlische Gefährten von Marion Metz



Lilly Nett ist ein überaus durchschnittlicher Mensch und Lichtjahre davon entfernt, sich selbst bedingungslos zu lieben. Sie fühlt sich zu dick, ihr Mann ist nur die zweite Wahl und grundsätzlich entpuppt sich ihre Supermarktschlange als die längste. Ihr Alltag gleicht der Hölle auf Erden. Lillys Seele schickt ihr beständig Zeichen, doch ihr Ego verhindert vehement, dass Lilly Kontakt zu ihrem inneren Licht findet. Bis ein einschneidendes Erlebnis den Wandel herbeiführt und sie wie Phoenix aus der Asche neu aufersteht: Geliebt, gesehen, vom Leben umarmt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Charlotte Sander

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Brachial (15) von Charlotte Sander (Sonstige)
Omas Pflaumenkuchen von Heideli . (Sonstige)
Missbraucht - Gebraucht und Weggeworfen. von Achim Müller (Leben mit Kindern)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen