Sabine Dobbeck

Der totgeglaubte Apfelbaum

In unserem Garten steht ein alter Apfelbaum. Als wir vor einem halben Jahrhundert hierher gezogen sind, war er schon längst „erwachsen“, und seitdem hat er uns in jedem zweiten Jahr die schönsten Früchte beschert. Im Frühling war er ein einziges weiß-rosa Blütenmeer mit einem Duft, den kein Parfumeur in seinen kühnsten Träumen kreieren könnte. Die Sorte heißt „Goldparmäne“, ist eigentlich längst vergessen, und es gibt sie auch nirgends zu kaufen. Seit einigen Jahren erlebt sie allerdings eine Art Renaissance, und in manchen Baumschulen werden schon wieder kleine Bäumchen aufgezogen.

Für mich ist dieser Baum ein Freund aus Kindertagen. Ich bin mit ihm aufgewachsen, habe oft mit ihm geredet (das tue ich heute immer noch) und mich manchmal wochenlang fast ausschließlich von den köstlichen Äpfeln ernährt. Sie haben ein ganz spezielles Aroma, nicht nur süß oder säuerlich, sondern mit einer feinen Würze, die man schwer beschreiben kann – man muss sie schmecken. In seinen besten Jahren haben wir bis zu eineinhalb Zentnern Früchte geerntet und damit nicht nur die Familie, sondern auch die Nachbarn versorgt.

In den letzten Jahren hat er allerdings zu kränkeln begonnen. Nun sind ungefähr achtzig Jahre für einen Obstbaum schon ein stolzes Alter; trotzdem war ich sehr betrübt. Ich habe mehrere Fachleute befragt, aber alle zuckten nur bedauernd die Schultern und meinten, da könne man nichts mehr tun außer fällen. Der Gedanke tat mir in der Seele weh. Ich bin lange um meinen Liebling herum gestrichen und habe jeden einzelnen Ast eingehend begutachtet: Eigentlich sieht er ja tot aus, aber guck mal, da sind zwei Knospen; hier sind auch welche und hier ebenfalls. Kurz und gut: Wir haben ein paar Äste abgesägt, die wirklich nicht mehr zu retten waren, und einige wilde Triebe entfernt. Flechten und Flugrost wurden mit der Wurzelbürste abgeschrubbt, Pilze sorgfältig entfernt und die Baumrinde mit einem speziellen Schutzmittel bestrichen. Dann haben wir ihn ausgiebig gewässert. Er dankt es uns, indem er fleißig treibt: Blatt- und auch Blütenknospen. Das heißt, wir dürfen uns im Herbst auf Früchte freuen, und wenn es vielleicht nur ein oder zwei Dutzend sind.

Es erfüllt mich mit Freude, dass in dem alten Holz noch so viel Kraft und Lebenswillen stecken.
Auch das ist für mich jeden Tag ein bisschen Glück. 
 

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