Renate Harig

Ein ganz besonderer Tag

Möwen umkreisen ein Fischerboot, das am Strand angelegt hat. Das Meer ist ruhig und ab und zu gleitet ein einsamer Surfer an mir vorbei. Ich sitze in einer Bucht und genieße die Stille.
 
Ebbe hat eingesetzt und langsam geht das Meer, irgendwohin. Ebbe und Flut ist für mich immer wieder ein Schauspiel und ich genieße die Gezeiten, weil sie das Meer so abwechslungsreich machen. Es ist einfach nicht immer da und hinterlässt einen Meeresboden, den zu erkunden, für mich immer wieder mit einem kleinen Abenteuer verbunden ist. Immer wieder kehrt das große Wasser zurück mit der Genauigkeit einer Uhr und der Herr der Gezeiten, unser guter, alter Mond, hat dafür die ganze Verantwortung. Immer wieder das gleiche Spiel und niemals wird sich daran etwas ändern, wie unfassbar schön!
 
Ein Muschelmännchen liegt vor mir auf der Strandmatte, es ist hübsch geworden. Die grünen Haare aus Meerestang machen sich gut und eigentlich sieht das Männchen eher wie eine Meerjungfrau aus, eben dem Meer entstiegen.
 

Ich freue mich über mein Kunstwerk und das Kind in mir hat wieder einmal etwas zu tun gehabt und ist nun für eine kleine Weile froh und zu zufrieden. Schön ist es, wenn man sich so richtig fallen lassen kann und einfach das tut, wozu man gerade Lust verspürt.
 
Nach Stunden sitze ich immer noch am Strand und versuche, das Meer, das gerade wieder kommt, langsam, und dennoch voll Schwung die Wellen an meine Füße peitscht, aufzuhalten, indem ich meinen Wall aus Sand immer höher und höher baue. Anfangs läuft das Wasser noch um meinen aufgeschichteten Sandhaufen herum, aber schon bald habe ich verloren. Das Meer breitet sich aus, mehr und mehr, es wird tiefer und tiefer und die Muschelbänke verschwinden vor meinen Augen. Ich bin immer wieder fassungslos vor so viel Macht und komme mir klein und unscheinbar vor.
 
Ich lege mich entspannt neben mein Muschelmännchen und lausche dem Gesang, den der Wind, die Wellen und die Möwen für mich anstimmen. Ich wünschte mir, hier eine kleine Ewigkeit verweilen zu können. 
 
Ein Liebespärchen watet eng umschlungen im seichten Wasser und die Silhouette der beiden Menschen, die einen Umriss ergibt, zeichnet sich dunkel, schemenhaft vor der untergehenden Sonne märchenhaft schön ab, wie ein beweglicher Scherenschnitt, umrahmt von einem rotgoldenen Licht.
 
Ein Drache schraubt sich hoch in die Luft, um gleich darauf im Sturzflug herabzusausen und knapp über dem Boden dahin zu gleiten. Wieder geht es hoch in die Luft und dasselbe Spiel wiederholt sich unzählige Male, auf alle Fälle so lange, wie der Besitzer des Drachens, ein kleiner Junge, Lust verspürt, ihn fliegen zu lassen. Im Licht der Abendsonne leuchtet das Gebilde aus buntem, dünnem Plastik und ich sehe dem frohen Spiel des riesengroßen Schmetterlings gerne zu.
 
Es wird nach und nach dunkler und die Sonne steht wie ein roter Feuerball am Horizont und tut bald das, was in unzähligen Lieder und Gedichten tausendmal beschrieben wurde, sie sinkt ins Meer, das Meer löscht die Sonne aus. So empfindet man dieses Geschehen, denn ganz langsam, für das Auge aber nach-vollziehbar, verschwindet sie im großen Wasser und der funkelnde, golden glänzende breite Streifen überzieht noch einmal Strand und Meer, wird weniger und weniger und wie eine Schleppe zieht die Sonne diesen hinter sich her und nimmt ihn schließlich mit. Die glitzernden Wellen verlieren den Glanz und die Nacht umgibt Land und Meer.
 
Fern am Horizont blinkt in kleinen Abständen ein Licht auf, wie ein Stern. Es ist das Licht vom Leuchtturm, der auf der nahe gelegenen Insel steht.
 
Es ist ruhig und still und ich genieße es, allein zu sein. Allein mit mir selbst und mit der Einsamkeit am leeren Strand.
 
Ruhe, Stille und Einsamkeit habe ich heute erlebt wie einen tiefen Brunnen, aus dem man für die Seele viel Wohltuendes schöpfen kann. Man muss lernen einsam, still und ruhig zu sein. Es ist nicht leicht, aber wenn man diesen Zustand zu ertragen gelernt hat, mit ihm umgehen kann, dann ist man unendlich reich, reich an der Erfahrung, dass man für ganz wenig ganz viel erhalten kann, nämlich Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Kraft für vieles, das dann irgendwann kommen mag.
Ich spüre Dankbarkeit für diesen ganz besonderen Tag.
 
(c) Renate Harig  2000 

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