Charlotte Sander

Brachial (14)

Wenn man halbtot geprügelt eingesperrt in einem Raum liegt, dann hat man viel Zeit, um nachzudenken… man denkt an das Gestern, man denkt an das Jetzt, man denkt an das Morgen.
 
Wimmernd lag ich dort in der Ecke des Büros, hatte weder zu trinken, noch zu essen, konnte mich kaum mehr bewegen, nachdem mich Thomas so zugerichtet hatte. Alles um mich herum war zerstört. Kein Regal mehr hing an der Wand, kein Aktenordner stand mehr an seinem Platz, alle Bücher waren wild verstreut. Thomas hatte alle meine Lieblingsbücher genommen und grinsend die Seiten einzeln heraus gerissen. Es waren teure gebundene Ausgaben, manche waren noch aus meiner Kindheit, die meine Mutter mir abends am Bett vorgelesen hatte. Das war so ein Moment, in dem ich wieder weinen konnte, denn ich sah vor meinem inneren Auge meine Mama, wie sie uns Kinder liebevoll umsorgt hatte. Schon immer bin ich eine echte Leseratte gewesen, und von daher hatte Mama mir immer genug Lesestoff gegeben. Sie fand es toll, dass ich so viel lese… und das mag auch daher kommen, dass sie mir immer so tolle Geschichten vorgelesen hatte.
 
Und nun musste ich mit ansehen, wie all meine Kindheitserinnerungen mit einem Mal zerstört wurden, und ich konnte nichts dagegen tun. Und weil es eben zu weit ging, war ich auf Thomas zugerannt und hatte verzweifelt versucht, ihm die Bücher wegzunehmen. Er konnte alles zerstören – er konnte mich zerstören – doch nicht die Dinge, die ich liebte und die ich nicht verlieren wollte.
Er stieß mich zu Boden und trat unter wildem Geschrei immer wieder in meinen Magen, riss mich nach oben, schlug mit der Faust in mein Gesicht, immer und immer wieder. Stieß mich wieder zu Boden, trat auf meinen Bauch ein, ich bekam kaum noch Luft und jappste nur noch vor mich hin. Während ich noch dabei war, um Luft zu ringen, spürte ich schon einen Tritt in mein Gesicht, gegen meine Schläfe, knapp unter mein Auge, auf den Mund, und immer und immer wieder gegen meinen Kopf. Die Schmerzen waren unbeschreiblich und die Geräusche des Aufpralls seines Schuhs gegen meinen Körper sind nicht zu beschreiben. Ich weiß nur, dass er wie am Spieß schrie und es so schien, als würde er niemals aufhören.
 
Dann musste ich irgendwann mein Bewusstsein verloren haben, denn nun lag ich dort inmitten des zerstörten Mobiliars, in diesem von Thomas angerichteten Chaos, das ich würde wieder beseitigen müssen.
Alles bis auf den verdammten Computer war in diesem Raum zerstört, und hätte ich mich bewegen können, so hätte ich diesen scheiß Rechner dem Erdboden gleich gemacht, nur um Thomas auch einmal wehtun zu können. Doch ich lag dort und konnte mich nicht regen. Ich konnte auch nur schemenhaft erkennen, wie alles um mich herum wild verstreut lag.
Ich berührte langsam mein Gesicht, denn es fiel mir schwer, den verdrehten Arm nach oben zu heben.  Alles war zugeschwollen, meine Nase schien diesmal mehrmals gebrochen zu sein; das konnte ich teilweise ertasten und auch spüren. Das Blut an meinen Kleidern, das von meiner Nase zu stammen schien, nahm ich erst später wahr, aber es war ein Hinweis darauf, dass meine Nase abermals gebrochen war. Und wie ich hier sitze kann ich nur sagen, dass ich diese Brüche in meiner Nase immer wieder spüre. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht Schmerzen habe.
 
Nach einer gewissen Zeit musste es dunkel geworden sein, denn ich konnte nun um mich herum gar nichts mehr erkennen. Aufzustehen und das Licht einzuschalten, kam nicht in Frage. Mir tat jeder Millimeter meines Körpers weh, und ich konnte mich nicht regen.
 
Mama, es tut mir so leid, dass nun all Deine schönen Bücher zerstört und unwiederbringbar sind. Genau wie Du habe ich diese Bücher geliebt. Ab morgen gehören sie nur noch der Vergangenheit an, wenn sie im Müll gelandet sind, denn dadurch, dass sie nun mit dem Boden in Berührung gekommen waren, waren sie nun kontaminiert, und ich würde noch nicht einmal eine Chance haben, jede Seite einzeln wieder einzukleben, denn ich würde die Bücher eh nicht behalten dürfen.
 
Ich kann meine Traurigkeit und meinen Hass, die ich in diesem Moment fühlte, nicht in Worte fassen, aber ich kann sagen, dass diese beiden Arten von Gefühlen einen unendlichen Schmerz in einem selbst auslösen, begleitet von Ausweglosigkeit.
Mir war es egal, was Thomas alles zerstörte. Es gab ja schon so vieles, was dran glauben musste, wenn Thomas mal wieder seine Wutausbrüche hatte. Da wurden Türen eingetreten, der Fernseher zerschlagen, Geschirr zertrümmert. Doch all das waren Dinge, die man irgendwann wieder kaufen konnte. Wertvolle Bilder, welches Einzelstücke sind, Bücher aus der Kindheit, selbst gebastetelte Unikate, eine geschundene Seele und ein zerstörter Körper sind Dinge, die nicht mehr hergestellt werden können – es bleibt nur die Erinnerung, wie es einmal gewesen ist… und auch die verschwimmt dann irgendwann.
 
Sandra, könntest Du doch bei mir sein, mir einfach beistehen, mir zuhören… ich vermisse Deine blauen Augen, die mich immer verständnisvoll angeblickt haben, Deinen Mund, der mir so schöne Worte sagte, Deine Stimme und die Zeit, die wir miteinander verbracht haben. Es gab so wundervolle Momente, die wir zusammen im Freundeskreis erlebt hatten… und auch alleine war es immer toll. Wie viele Abende hatten wir zusammen verbracht, mit Popcorn und Wein auf der Couch? Wie oft hatten wir uns „The Rocky Horror Picture Show“ angesehen, den Text mitgequatscht und uns halbtot gelacht über Brad, Rocky, Janet? Ich vermisse alles, was mit Dir zu tun hat, Sandra, und ich wünschte, Du könntest mich hören. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Dich denke….
 
Ich dachte an noch so viele, meinen Vater, meinen Bruder, Freunde, Arbeitskollegen… alle, die nicht ahnen konnten, wie ich hier lag, alle, die mich noch aus meinen guten Zeiten kannten, alle, die mir den Rücken gekehrt hatten… wegen Thomas.
 
Und so lächerlich sich das anhört, ich dachte auch an den kleinen Dackel meiner Eltern, erinnerte mich daran, wie es war, wenn ich damals traurig gewesen bin. Dann nahm ich mir immer den kleinen Timmy auf den Schoß und knuddelte ihn ganz lieb. Meist war es aber so, dass er von selbst zu mir kam, um mich zu trösten, denn oftmals kam es mir so vor, als würde er merken, wenn ich traurig bin… auch ihn wünschte ich mir jetzt hierher… einfach, um mein Gesicht an sein warmes Fell zu drücken, ihn sanft zu streicheln und seine Nähe zu spüren.
 
Wie gut, dass ich am nächsten Tag nicht arbeiten musste, denn bis dass meine Wunden verheilt sein würden, würde es viele Tage dauern. Und als ob Thomas dies einkalkuliert hätte, hat er mir all das genau vor meinem 2-wöchigen Urlaub angetan… wieder ein Grund mehr, das Haus nicht verlassen zu dürfen, wo doch die Welt da draußen so schmutzig ist…
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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