Hans Werner

Ein Abend


Studie von
Hans Werner

Eines Abends erhob er sich vom Fernsehsessel, sich mit dem Oberkörper leicht nach vorne schwingend, um seine müden Beine, die nahe am Einschlafen waren, wieder in Gang zu bringen. Er überdachte seine Lebensführung und spürte, wie sich seine Seele mit einem Grauschleier von Melancholie überzog, als würde sich Mehltau auf der dünnwandigen Haut seiner Psyche ablagern. Er blickte auf die Uhr, deren drei Goldkugeln unter der Glaskuppel im Sekundentakt hin- und hergingen, und fühlte, dass er unwiederbringliche Lebenszeit vertrödelte. Als ein schweres Verbrechen an seinem Lebensglück durchzuckte ihn diese schreckartige Erkenntnis über die vielen verlorenen Stunden. Wie viel hätte er in diesen verlorenen Stunden an schöpferischer Leistung vollbringen können, wie viele Gedichte hätte er schreiben und wie vielen Gedanken hätte er im sorgfältigen Formulieren auf die Sprünge helfen können!

Warum hatte er es sich in den letzten Jahren angewöhnt, in den Abendstunden regelmäßig vor dem Fernsehapparat zu sitzen? Was waren die Gründe dafür? Wenn er es sich recht überlegte, bestand der eigentliche Grund, allabendlich fernzusehen darin, dass er beim Fernsehen das Gefühl hatte, seiner Lebenspartnerin Zeit zu schenken. In beiden Sesseln saßen sie nebeneinander, manchmal fasste er nach ihr und zuweilen fanden sich ihre Hände, die Hände der Ehepartner, und mit einem leichten Drücken oder behutsamen Streicheln vergewisserten sie sich ihrer Körpernähe. Das war es, das Schenken der Zeit, das Beisammensein, welches ihm diese Zeitverschwendung rechtfertigte. Oft ertappte er sich dabei, dass er die Inhalte, die aus der Flimmerkiste rieselten, gar nicht mit dem eigenen Bewusstsein verfolgte. Meistens hätte er nach dem Fernsehabend nicht genau sagen können, wovon die Filme gehandelt hatten. Wohl hatte er noch einen groben Begriff von ihrer Handlung, aber sie nacherzählen, in allen Einzelheiten, das hätte er nicht vermocht.
Dann ging er meistens noch an den Computer und öffnete die Mailbox. Zuweilen fand sich eine Nachricht darin, die ihn persönlich berührte und auf die er dann auch sofort antwortete. Aber in der Regel gab es nichts, was ihn direkt angesprochen hätte. Seit er sich aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen hatte, fühlte er immer mehr, wie sich sein Leben mit solchen leeren Zeiten ausfüllte. Und die leeren Zeiten drückten auf ihn wie ein schweres Gewicht. Wenn ihn jemand ansprach und fragte, womit er seinen Ruhestand ausfülle, dann beeilte er zu sagen, dass er viele Hobbies habe und ihm daher überhaupt nicht langweilig werden könne. Dann zählte er die vielen Beschäftigungen auf, mit denen er tatsächlich, Tag für Tag, so etwas wie einen Arbeitsplan aufstellte: Lesen, Musizieren, Spazierengehen, Radfahren, Einkaufen, im Garten Arbeiten, Zeichnen und regelmäßiges Lernen an einer Fremdsprache. Ja, eigentlich machte er sehr viel, und dennoch war ihm bewusst, dass nichts, aber auch gar nichts von dem, was er tat, in irgendeiner Weise notwendig gewesen wäre. Und oft kam ihm das Zimmer, in dem er sich bei solchen Tätigkeiten stundenlang aufhielt, vor wie ein Gefängnis, eine Aufbewahrungsstätte. Oft lag er auf der Liege, mit einem geöffneten Buch auf der wärmenden Decke, oder saß am Schreibtisch oder vor dem Bildschirm des Computers, und verweilte in diesen Stellungen Tag für Tag sehr lange, bis ihn seine gute Frau zum Essen hinunter rief.
Manchmal schaute er auf das Kruzifix, das klein und unauffällig in der Zimmerecke des Esszimmers hing, betrachtete den Leidensmann und empfand eine gewisse Wehmut, weil er sich so weit von dem alles beherrschenden Glauben seiner Kindheit entfernt hatte. Immer noch konnte er beten, und das Gespräch mit Gott, den er nicht sah und nicht spürte, war nie in ihm abgerissen. Aber er betrachtete viele Gepflogenheiten des religiösen Lebens aus einer kritischen Distanz und war durchaus nicht mehr davon überzeugt, bestimmte Gebote erfüllen oder Sünden vermeiden zu müssen, um später, nach dem Tode, in jenem anderen Leben, wenn es ein solches überhaupt gab, erlöst und glücklich zu sein. Wohl spürte er, dass das Böse existierte und auch das Gute, und dann schlug in ihm das schlechte Gewissen wie eine große Glocke, die den säumigen Jungen zur Sonntagsmesse rief. Und wenn er betete, dann formte sich in ihm immer wieder jenes Stoßgebet: lieber Gott, mach einen guten Menschen aus mir. Und bei diesem Stoßgebet wurde ihm wohler und er konnte etwas leichter atmen. Denn er wusste ganz genau, dass dieses sein irdisches Leben endlich war und aufhören würde, sei es früher oder später. Und dann fiel sein Blick wieder auf die Uhr mit den Goldkugeln unter der Glasglocke und er prüfte die durchlebten Zeiträume des gegenwärtigen Tages, oder manchmal auch vieler Tage und Wochen, und wurde sich schmerzlich bewusst, dass er viel Zeit unnütz hatte verstreichen lassen. Und dann empfand er Reue, eine brennende Reue, die auf ihn einschlug mit Geißelhieben.
Danach ging er durch die Wohnung, vom Wohnzimmer ins Bad, und bereitete sich auf die Nacht vor. Alles waren gewohnheitsmäßige Handgriffe, und ihm war, als ob ihm sein eigener Körper fremd wäre, und er sich, indem er sich wusch und betastete, selbst wie einen Patienten behandelte, so wie ein Arzt seinen Patienten behandelt und prüfend und heilend seinen Körper betastet. Er berührte die fülligen Glieder seines Körpers, horchte in sich hinein, ob sich da nicht etwa Anzeichen einer fernen Krankheit anmeldeten. Und plötzlich durchströmte ihn ein Gefühl der Dankbarkeit darüber, dass er im Augenblick schmerzfrei war. Ja, er hatte keine Schmerzen, wenn man von Unpässlichkeiten absah, die ihn Tag für Tag befallen konnten. Aber durch viele Lebensjahre voller Selbstbeherrschung gestählt, hatte er sich angewöhnt, solche kleinen Schmerzen mit großer Disziplin geduldig auszuhalten. Vielleicht war er nämlich gar nicht schmerzfrei, sondern bildete sich diese Schmerzfreiheit nur ein. Nur wenn ein Zahn plötzlich ins Zahnfleisch stach, dann wurde ihm unwohl. Aber selbst dann klagte er nicht, sondern verbiss sich den Schmerz in der stillen Überzeugung, dass er bald vorbei gehen würde. Und so fühlte er sich auch nicht krank, obwohl er, objektiv betrachtet, alles andere als gesund war und dreimal am Tage, sozusagen als chemisches Zubrot zu den Mahlzeiten, vier Tabletten einnehmen musste. Aber er war, wie die Mediziner sagen, gut eingestellt und konnte störungsfrei leben.
Andere Menschen seines Alters entwarfen Pläne über die Gestaltung ihrer letzten Lebensjahre, machten sich Gedanken, wie sie sich finanziell in eine Anlage des betreuten Wohnens einkaufen könnten. Er tat solche Gedanken immer als Unsinn ab, wies sie entrüstet von sich und lebte im sicheren Gefühl, dass er die eigene Wohnung, das eigene Haus, die eigene Einrichtung, bei der einige tausend Bücher einen wesentlichen Teil davon ausmachten, nie verlassen oder aufgeben würde. Gewiss würde er sterben, man würde ihn hinaustragen zu einer Begräbnisfeier, die die Hinterbliebenen in große Verlegenheit bringen würde. Einmal hatte seine Frau ihm die Frage gestellt, welche Form der Bestattung er sich denn wünsche. Eigentlich war er immer davon ausgegangen, wie die meisten Menschen früher, in einem hölzernen Sarg begraben zu werden. Aber dann würde man den Kindern, die in alle Winde verstreut in deutschen Landen lebten, die Pflicht aufbürden, sich um die Grabpflege kümmern zu müssen. Und obwohl er nicht mehr davon sprach, auch seine Frau diese Frage nicht mehr berührte, setzte sich langsam in ihm der Gedanke fest, dass es eigentlich, wie in östlichen Religionen, eine sehr würdige Art sei, von der Welt zu scheiden, indem man den eigenen toten Körper in verzehrenden Flammen aufgehen ließe. Aber er schob die letzte Entscheidung immer vor sich her. Vielleicht wäre es das Beste, dachte er, über diese Dinge überhaupt nicht zu sprechen und sie dann, wenn es einmal soweit ist, dem Zufall zu überlassen.
Schließlich betrat er sein Schlafzimmer, das eigentlich, seit sie getrennt schliefen, das Arbeitszimmer seiner Frau war, legte sich in sein Bett und schloss das Atemgerät an, das er seit einigen Jahren benutzte, um Atemaussetzer zu vermeiden, die in seinem Alter immer wieder kamen, während das eigene Bewusstsein im Schlaf ausgeschaltet war und allenfalls schwere Träume das Gemüt belasteten. Sein Schlaf war unruhig. Und oft dauerte es lange, bis er in den Schlaf finden konnte. Wenn er Glück hatte, brachte er einige Stunden zusammenhängenden Schlafes zusammen. Aber in der Regel wachte er auf, zwei- oder dreimal in der Nacht, ging ins Bad und legte sich dann wieder zu Bett. Manchmal griff er auch zu einem der Bücher, die sich auf seinem Nachttisch türmten, und las einige Seiten, bis seine Augen wieder vor Anstrengung müde zufielen.
Dann war alles ruhig.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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