Dagmar Herrmann

Ein Kind, das schielte ...

Folgendes Zitat inspirierte zu der Geschichte:
 
Liebesroman II. im engeren Sinne die häufigste Gattung der
Trivialliteratur für weibliche Leser, die meist aus der Sicht einer
klischeehaften Heldin in typisierten Figuren und Geschehnissen, mit einer
kitschigen falschen Innerlichkeit und einer preziös gespreizten, dem Banalen
poetischen Anstrich verleihenden Sprache die Geschichte einer Liebe bis zum
stereotypen, unvermeidlichen und unrealistischen happy end erzählt
 
„Sachwörterbuch der Literatur“ von Gero von Wilpert

 
 
Ein Kind, das schielte …
 
 
Eleonore blickt durch das Hotelfenster hinunter auf die Piazza vor dem Hotel. Gemäß
italienischem Lebensgefühl herrscht dort trotz der einsetzenden Dunkelheit noch munteres
Treiben. In der blanken Fensterscheibe spiegelt sich ihre vollkommene
Erscheinung wieder, eine überschlanke, hochgewachsene Frau in eleganter
Abendrobe, das goldblonde, glänzende Haar zu einer Hochfrisur aufgetürmt. Sie
hätte es sich vor nicht allzu langer Zeit nicht träumen lassen, in der Suite
des Nobel-Hotels Hyatt zu stehen, um einer aufsehenerregenden Neuinszenierung
von Mozarts Oper „Don Giovanni“ in dem Opernhaus aller Opernhäuser, der
Mailänder Scala, beizuwohnen. So sehr hat sie sich noch nicht an das Leben
zwischen den sogenannten Reichen und Schönen gewöhnt, dass ihr dabei nicht das
Herz höher schlagen würde.
 
„Ein Bild der Grazie und Schönheit, perfekte Harmonie, wie aus einem Gemälde alter Meister“,
flüstert ihr Dante di Monteleone schmeichelnd ins Ohr. Der Marchese war auf
Zehenspitzen von hinten an sie herangetreten. Zärtlich streift er ihren
Rubinohrring und eine Locke beiseite, umfasst behutsam ihre Schultern und
presst sie an sich. Aus der rechten Hand gleitet kühl ein Collier ebenfalls aus
edlen Rubinen über ihre nackte Haut in den Ausschnitt. „Passt zusammen. Nur das
Beste für die Schönste, um das Bild zu vollenden!“ In Artigkeiten ist der Graf
ein Meister, Kavalier der alten Schule, obwohl noch sehr jung. Seine Haut ist
eben, makellos, leicht gebräunt, mit der dezenten Bräune des Südländers aus dem
mittelmeerischen Raum.
 
„Dante, das ist überwältigend schön! Doch ich muss dich trotzdem tadeln. Wie oft habe
ich dir schon gesagt …!“ sagt sie etwas atemlos vor Entzücken. „Schscht“, macht er und
legt ihr den Finger auf den Mund. „Keine Einwände! Komm, wir wollen uns beeilen. Eine
Primadonna wartet nicht, auch nicht auf meine First Lady!“
 
Als sie durch die Hotelhalle gehen, folgen dem schönen Paar etliche Blicke der Bewunderung. Vor
dem Hoteleingang lüftet der livrierte Portier die Mütze und öffnet devot den Wagenschlag.
Eleonore sieht aus den Augenwinkeln wie Dante diskret ein großzügiges Trinkgeld in die Hand
des Mannes gleiten läßt. Sie hat große Hochachtung vor seiner Art, bei all seinem Tun stets mit der selbstverständlichsten vornehmen Zurückhaltung zu handeln. So etwas ist nicht angeboren.
An ihm  bewahrheitet sich erneut der berühmte Satz von Karl Marx: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Eleonore lächelt, ausgerechnet Marx, als sie sich in die teuren glatten Polster auf den Hintersitz des Wagens
gleiten läßt.  Im Rückspiegel blicken sie ihre kühlen, türkisfarbenen Augen mit ihrem ihr eigenen,
prüfenden Ausdruck an. Augen, wie Kristalle, unergründlich wie ein tiefer Bergsee, wie ihr Vater immer
sagte, und meist hinzufügte, sie lassen mich erschauern.
 
Niemand hätte es für möglich gehalten, dass sie es mit diesem körperlicher Makel, mit dem
sie schon auf die Welt kam, eines Tages so weit bringen würde. Eleonore war ein Kind, das
von Geburt an schielte. Alles an ihr war fehlerlos, nur die das rechte Auge wollte partout
nicht geradeaus blicken. Die Ärzte meinten, es sei heutzutage eine Bagatelle, ein fast risikoloser
Eingriff, das Auge richten zu lassen. Ihre fromme Mutter entschied: Gott hat es so gewollt und
wir sollten ihm nicht ins Handwerk pfuschen. Und so geschah es.
 
Sicher blieb diese nicht unerhebliche Entscheidung nicht ohne Folgen für Eleonore, hatte sie doch
so manche Hänselei und manche kränkenden und abschätzigen Blicke zu ertragen.
Doch irgendwann stellte sie fest, dass ihr dieser von ihrer Mutter beschworene Gott als Ausgleich
eine außergewöhnliche Fähigkeit verliehen hatte, eine erweiterte Sichtweise auf die Welt und
ihre nähere Umgebung. Sie sagte von sich selbst oft, ich kann mit dem rechten Auge um die Ecke gucken.
Diese ausgeweitete Wahrnehmungsfähigkeit erstreckte sich auch auf Unausgesprochenes, nur
Gedachtes, das sie sozusagen zu Mitwisserin innerer Vorgänge anderer werden ließ. Das verlieh
ihr eine ungeheure Macht, war jedoch meist eine schwerwiegende Beeinträchtigung, da es einherging
mit einem ausgeprägten Mitempfinden für das Leiden anderer, ob Mensch, ob Tier.
Dieses seismographische Gespür war ein Segen und ein Fluch.
 
Ihre Augen, die für alle anderen als Makel empfunden worden wären, entpuppten sich zudem als eine
wirksame Waffe gegen Spötteleien oder Anfeindungen. Als sie die wildgewordene Hauskatze der
Nachbarin durch einen eindringlichen Blick ihrer ungleichen eiskühlen Augen zur Räson brachte,
als der kläffende Hund den Schwanz einkniff und das Weite suchte, wurde sie sich erstmals dieser
Energie bewusst. Von nun begann es, dass sie eine Aura der Stärke, auch des Mysteriösen, Fremdartigen
umgab, die ihr Respekt verschaffte, sie jedoch noch einsamer werden ließ.

Ihre Eltern hatten sich von Anfang an nicht viel um sie gekümmert, das
Versorgen und Aufziehen Angestellten überlassen. Sie waren beide engagierte
Weltverbesserer, die Mutter auf dem Gebiet der Biologie, der Vater Ökonom, die
beide in der Weltgeschichte herumreisten, um den Planeten ein wenig besser,
gerechter und friedvoller zu gestalten. Eleonore sah sich veranlasst, das ihre
dazu beizutragen, indem sie sehr früh auf eigenen Beinen stand und ihnen so
wenig wie möglich zur Last fiel. An ihre Mutter erinnert sie sich als eine
Verkörperung des Klischees des zerstreuten Professors, ständig war sie auf der
Suche nach irgendetwas, war es nicht die berühmte Brille, die auf der Nase
sitzt, waren es ihre Notizen, ihr Telefonbüchlein, ihr Handy und sofort.
Eleonore dachte manchmal, sie habe sogar vergessen, dass sie eine Tochter hat.
 
Von einer dieser Weltverbesserungsreisen kamen sie eines Tage nie mehr zurück.
Sie waren Opfer eines Lawinenunglücks in den Anden geworden. Eleonore hat niemals
herausgefunden, was sie empfunden hat, als sie die Nachricht von ihrem Tode erreichte.
Sie war froh, dass sie frühzeitig gelernt hatte, selbstständig zu sein. Entschlossen und
zielstrebig nahm sie ihr Leben in die Hand. Alles, was sie begann, führte sie zum Erfolg,
die Schule, das Studium der Soziologie, den Beruf der Sozialpädagogin, den sie gewählt
hatte, um die Mission ihrer Eltern fortzusetzen. Sie hatte bereits zwei viel
beachtete, kritische Bücher zur praktizierten Umwelt- und Entwicklungspolitik
geschrieben, war gern gesehener Gast in Talkshows, bei der ihre zurückhaltende,
sachbezogene, emotionslose Art, ihren Widersachern entgegenzutreten, geschätzt
wurde. Ihren durchdringenden, das Gegenüber in seine Einzelteile zerlegenden
Blick nutzte sie nur noch selten,  oder nur, wenn es nicht anders möglich war, einen
notorischen Klugschwätzer zum Verstummen zu bringen.
 
Männer hielt sie ebenso auf Distanz wie Diskussionspartner oder Teamarbeiter, hatte auf
begrenzte Zeit ihren Spaß mit ihnen, wie ihre Biologie, wie sie sagte, es für
notwendig erachtete. So manch ein Möchtegern-Casanova, den ihre abgrenzende
Kühle herausforderte, und der meinte, auch diese harte Nuss noch knacken zu müssen,
hatte sich seine Zähne an ihr ausgebissen. Doch sie war zweifellos begehrt, da sie ob
ihrer außergewöhnlichen Schönheit und extravaganten Ausstrahlung begehrenswert
war.  
 
„Der Marchese gehört nicht zu dieser Sorte Mann“, seufzt sie leise in einer ungewohnten
Gefühlsaufwallung und schenkt ihm einen zärtlichen Augenaufschlag aus zwei ganz
und gar geradeaus gerichteten Augen. Dante hatte das Kunststück fertiggebracht,
sie davon zu überzeugen, sich die Augen richten zu lassen. Sie schmunzelt,
findet, wie es ihre Art ist, noch ein eventuelles Haar in der Suppe, als sie
denkt: Vielleicht aus seinem Hang zum Perfektionismus. Aber nein. Er liebt sie
aufrichtig. Sie spürt das glatte Schulterpolster seines Smoking an ihrer
nackten Schulter, lehnt sich an ihn und fühlt sich geborgen und vertraut. Sie spürt
wie sich eine angenehme Wärme in der Brust ausbreitet, den Hals hoch in die
Augen steigt, aus denen nun sanfte dicke Tränen tropfen. Eleonore kann sich
nicht erinnern, wann sie zuletzt geweint hat.
 
Beim Verlassen des Wagens schmiegt sie ihre Hand in die seine, zärtlich antwortet er mit einem liebevollen
Druck seiner Hand. Gemeinsam steigen sie die Stufen zum Opernhaus empor. Sie
denkt: „Ist das Glück?“ und: „Er frisst mir aus der Hand. Zusammen werden wir
noch viel zustande bringen!“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.05.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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