Alexander Bachmann

Die Münze des Schicksals

Eine kleine Begebenheit aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.
 
Ich möchte gern eine kleine Geschichte niederschreiben, die in unserer Familie bisher nur mündlich überliefert wurde. Sie handelt von meinem Urgroßvater, der am Ersten Weltkrieg als Soldat teilgenommen hat. Er war damals 25 Jahre jung und musste schon viele Kameraden sterben sehen. Er sah sowohl die Kameraden auf seiner Seite fallen als auch die Kameraden auf der sogenannten feindlichen Seite. Mein Urgroßvater musste sich durch Schützengräben kämpfen, Gasangriffe überstehen, Kanonenbeschüsse überleben und sich im Nahkampf gegen die feindlichen Männer behaupten. Da er schon oft ausweglose Situationen überleben konnte und sich selbst auch schon aus der Gefangenschaft befreien konnte, wurde er rasch zum Feldwebel ernannt. Zugleich war er der Adjutant seines Einheitenführers. Seine Aufgabe bestand darin, den Kontakt zwischen den Befehlshabern und den Truppen aufrechtzuerhalten. Zudem durfte er an strategischen Beratungen teilnehmen.
 
Seine Einheit war 1916 vor Verdun stationiert. Hier tobte der Krieg wie nirgendwo anders. Die Franzosen kämpften erbittert gegen den deutschen Vorstoß und die Deutschen stritten mit allen Mitteln gegen den „Welscher“. Mein Urgroßvater war mit seiner Einheit von den größeren Heereskontingenten des Deutschen Reiches abgeschnitten. Er lag mit seinen Kameraden irgendwo unter dem Fort Vaux. Dort hielt sich die kleine Einheit versteckt. Sie waren in dieser Gegend stationiert worden, um feindliche Bewegungen auszumachen. Ein Missverständnis in der Kommunikation hat jedoch dazu geführt, dass die Einheit dort liegen bleiben musste. Eigentlich sollten die Soldaten abgeholt werden, aber kein Transporter kam so nah heran, da man alle Einsatzwagen an anderen Frontabschnitten benötigte. Daher beschloss der Truppenführer in Stellung zu bleiben und sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Nachdem einige Tage vergangen waren, der Kontakt zum Hauptquartier erfolglos war und Späher feindliche Truppen in Anmarsch bemerkten, beschloss der Zugführer ins Gefecht zu ziehen.
 
Zunächst weihte er niemanden in seinen Plan ein, da er wusste, dass die Männer sich weigern würden, in so kleiner Zahl an einem offenen Kampf teilzunehmen. Daher war es die Aufgabe meines Urgroßvaters, den Soldaten diese Botschaft zu überbringen. Er sollte es so leicht wie möglich erklären und vor allem für Verständnis bei den Männern sorgen. Diese reagierten mit Entsetzen, Angst und Panik. Es waren viele junge Männer dabei, Familienväter, Söhne, Brüder, die ihre Familie wiedersehen wollten. Mein Urgroßvater teilte dem Zugführer das Unbehagen der Soldaten mit. Den Zugführer wunderte es nicht, dass seine Männer boykottierten, denn auch ihm war der Gedanke unwohl, mit circa 30 Mann gegen einen viel größeren feindlichen Verband zu ziehen, doch die Lage machte es notwendig. Der Zug saß mitten im feindlichen Gebiet, ringsherum tummelten sich die französischen Soldaten auf der Suche nach zurückgebliebenen deutschen Soldaten und Panzer bezogen Stellung. Der deutsche Zugführer wusste um den Ernst der Lage: Wenn nicht innerhalb der nächsten 24 Stunden ein Ausbruch gewagt werden würde, würde jeder einzelne Deutsche entweder erschossen oder in Kriegsgefangenschaft geführt werden. Nachdenklich blickte er immer wieder auf seine strategische Karte, um doch noch einen einfachen und vor allem sicheren Ausweg zu finden. Auch mein Urgroßvater sah auf die Karte. Er durfte dem Zugführer schon öfters beratend zur Seite stehen. Auch dieses Mal wurde mein Urgroßvater vom Zugführer um Rat gefragt, aber auch dieser sah keine andere Möglichkeit, als einen schnellstmöglichen Ausbruch, um wieder zu den eigenen Truppen stoßen zu können.
 
Der Zugführer war verzweifelt, denn er wusste, dass dieser Rettungsversuch nur gelingen könnte, wenn alle Männer dafür bereit waren, doch im Moment seiner Verzweiflung waren alle Soldaten ängstlich und hilflos. Da der Zugführer großes Verständnis für seine Soldaten hatte, wollte er sie auch nicht in den Kampf befehlen. Er wollte, dass sie freiwillig den Kampf aufnehmen würden. Er sah in die Augen jedes Einzelnen, er sah ihre traurigen, unsicheren Blicke, ihre Panik, ihre Todesangst. Der Zugführer wusste, dass es nur Sinn machen würde, zu kämpfen, wenn die Soldaten ihre Angst vergessen würden. Da alle Männer seines Zuges gläubige Christen waren, beschloss er, den Glauben als stärkste Waffe zu nutzen.
 
In aller Hektik bastelte der Zugführer ein großes Holzkreuz, er legte seine kleine Taschenbibel darunter und befestigte das Eiserne Kreuz, welches er sich in einer anderen Schlacht verdient hatte, am Stamm des Kreuzes. Er rief alle Soldaten, einschließlich der Späher und meines Urgroßvaters, an den notdürftig hergerichteten Altar. Der Zugführer erklärte mit selbstbewusster Stimme: „Männer, ich weiß um eure Sorgen, um eure Ängste und um eure Familien. Ich weiß um euren tiefen Glauben und um eure Hoffnung, dieses Schlachtfeld lebend zu verlassen. Ich bin für euer Leben genauso verantwortlich, wie ihr für das meinige. Doch Gott ist für unser aller Leben verantwortlich. Ihn werde ich um Hilfe bitten. Der Allmächtige soll uns seinen Beistand schenken, uns erretten aus dieser Lage und uns hinführen in ein friedliches Leben. Ich werde Jesus Christus um Hilfe anrufen, dann werde ich eine Münze werfen. Fällt die Münze mit der Kopfseite nach oben, so werden wir siegen, fällt jedoch die Zahl nach oben, werden wir verlieren. Wir vertrauen der Allmacht unseres Schöpfers, wir geben uns dem Schicksal hin.“ Der Zugführer nahm eine Münze und warf sie in die Luft. Alle Männer hielten in jenem Moment den Atem an. Die Münze drehte sich in der Luft und fiel schnell zu Boden. Sie landete mit der Kopfseite nach oben, mitten unter dem hölzernen Kreuz. Alle Männer fassten Mut. Von ihrem Sieg und Gottes Hilfe überzeugt, kämpfte sich der kleine deutsche Zug zurück in den deutschen Frontabschnitt. Sie kämpften mit einer solchen Tapferkeit und Härte, dass die Schlacht bald gewonnen war.
 
Zurück im eigenen Stützpunkt trat mein Urgroßvater an den Zugführer heran. Er sagte zu ihm: „Niemand kann das Schicksal beeinflussen. Dieser großartige Sieg ist ein Beweis dafür.“ Der Zugführer schmunzelte, zog meinen Urgroßvater an sich heran und sagte: „Wer weiß!“ In diesem Moment übergab er meinem Urgroßvater eine Münze. Es war eine falsche Münze, die auf beiden Seiten einen Kopf zeigte. Mein Urgroßvater konnte es kaum glauben. Er nahm das falsche Geldstück und steckte es ein. Er behielt die Münze sein ganzes Leben. Erst kurz vor seinem Tod hat er die Münze an seinen Sohn verschenkt. Er war sich damals sicher, dass dieser die Münze brauchen würde – es war 1943.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.05.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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