Georg Boettcher

Als Amor mal betrunken war



Kinder sind von Natur aus neugierig und gehen mit offenen Augen durch die Welt. Das war schon immer so und daran hat sich auch im Zeitalter der Aufklärung und des Internets nichts geändert. Genauso lang ist dementsprechend auch die Liste der sogenannten ‚peinlichen Fragen‘, deren Beantwortung von Mami und Papi am liebsten mit dem Standardsatz begegnet wird: „Dafür bist du noch zu jung.“ Als sogenannte Erwachsene vergessen wir dabei nur zu gerne, dass wir früher auch einmal Kinder waren. Und mal ehrlich … haben wir unsere lieben Eltern nicht auch mit solchen Fragen gelöchert? Haben wir uns nicht irgendwann alle geschworen, es anders zu machen, wenn wir groß sind?


Dennoch gibt es immer noch Fragen, bei denen wir einbrechen und genauso reagieren, wie unsere Eltern damals. Ein besonders peinliches Thema ist hierbei immer noch Homosexualität und eine möglichst kindgerechte Antwort auf genau diese Frage, versuche ich mit dieser kleinen Geschichte zu geben …


„Mutti, warum küssen sich die beiden Jungs?“

Der jungen Frau fiel vor Schreck das Gurkenglas aus der Hand, als ihr Sohn, der fünfjährige Axel Nippelhorn, genau jene Frage stellte, der sie sich nun mitten im Supermarkt völlig fassungslos gegenüberstehen sah. Eigentlich waren sie und ihr Mann ja nach Klein Ilsede gezogen, um ihren Stammhalter vor genau solchen Situationen, die natürlich Fragen hervorriefen, möglichst lange zu bewahren. Und jetzt standen da diese beiden, höchstens fünfzehnjährigen Bengels, aus dem Nachbarblock eng umschlungen, mitten im Gang und versuchten mit wild kreisenden Zungen einen neuen Weltrekord im Wettrudern aufzustellen.

Das Gurkenglas interessierte diese besondere Sachlage natürlich überhaupt nicht, sondern es gehorchte, wie alle seine Artgenossen, den Gesetzen der Schwerkraft, zerschellte laut klirrend auf dem gefliesten Boden und hinterließ dort eine der Situation angemessene Sauerei.

„Mutti, Mutti … warum stecken die Jungs sich denn jetzt auch noch gegenseitig die Zungen in den Mund?“, feuerte Klein Axel aufgeregt die nächste und präzisere Frage ab.

Frau Nippelhorn stand immer noch sichtlich unter Schock, wodurch auch das nächste Gurkenglas, welches sie panisch ergriff, kurz darauf das Schicksal seines Vorgängers teilte.

„D … d … dafür bist du noch zu jung“, stotterte die völlig konsterniert wirkende junge Frau, hielt sich krampfhaft mit beiden Händen am Einkaufswagen fest, versuchte diesen hektisch im Gang zu wenden, riss dabei eine Kiste Tomaten aus dem gegenüberliegenden Gemüseregal, deren Inhalt sofort quer über den Boden rollte und melancholisch den Tomatenketchup-Blues anstimmte …


Dass sich der routinemäßige Wocheneinkauf zu einem dermaßen nervenzerreißenden Horrorszenario entwickeln würde, der am Ende statt der geplanten 75 mit 125,85 € zu Buche schlug, damit hatte die junge Frau nicht im Traum gerechnet, als um 7:30 Uhr in der Früh das Telefon klingelte und man ihr völlig überraschend mitteilte, das der Kindergarten wegen Masern die nächsten 14 Tage geschlossen bleiben müsste.


Mal ehrlich, wer rechnet auch damit, dass sich ausgerechnet an einem solchen Tag, zwei pubertierende Knaben verhalten, als wären sie von den Pfeilen des betrunkenen Liebesgottes Amor getroffen worden. Aber darauf komme ich später noch zurück.

Denn als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, bemerkte die junge Mutter erst, dass sie ihren Sohn im Kofferraum der Familienkutsche verstaut hatte, als sie vergeblich versuchte, die Einkäufe im Kindersitz auf der Rückbank festzuschnallen. Der kleine Axel Nippelhorn trommelte derweil schon seit Minuten beleidigt gegen die Kofferraumklappe und heulte wie ein Schlosshund, als seine Mutter diese endlich öffnete, um ihren Sohn aus seiner misslichen Lage zu befreien …


Ungefähr 200.000 Entschuldigungen später, die Frau Nippelhorn unter ständigem Streicheln des Kopfes ihres Sohnes, unkontrolliert artikulierend von sich gab, hatten sich Mutter und Sohn endlich wieder soweit im Griff, dass sie den Heimweg antreten konnten, der allerdings seltsamerweise Seitens des Fünfjährigen recht schweigsam verlief, was eigentlich so gar nicht seinem sonst eher aufgeweckten Naturell entsprechen wollte …


An dieser Stelle zwei hilfreiche Tipps:


Für Kinder: Wartet mit euren Fragen lieber den richtigen Zeitpunkt ab, wenn ihr nicht wollt, dass es euch so ergeht, wie dem kleinen Axel Nippelhorn aus unserer Geschichte!


Für (künftige) Eltern: Bereiten Sie sich am besten bereits parallel zur Schwangerschaftsgymnastik, auf eventuell später aufkommende Fragen, ihres erfolgreich gezeugten Nachwuchses, durch den Besuch eines Rhetorikkurses für kindgerechte Aufklärung, vor. Wichtig: Selbst wenn Ihre Kinder bereits geboren sind, ist es noch nicht zu spät, diesen Kurs zu belegen, solange die lieben Kleinen noch nicht sprechen können. Ist das Kind allerdings bereits in den Brunnen gefallen und kann sich in ganzen Sätzen verständlich machen, so verfallen Sie jetzt bitte nicht in Panik wie die Frau Nippelhorn aus unserer Geschichte. Denn und dies ist BESONDERS WICHTIG, für wirklich jede Frage gibt es eine passende Lösung außerhalb der Standardantwort: „Dafür bist du noch zu jung!“


Kaum daheim angekommen flüchtete der Fünfjährige direkt in sein Zimmer und verließ es in den nächsten Stunden nur, wenn seine Mutti ihn zum Essen rief. Er verstand immer noch nicht, was denn an seinen Fragen im Supermarkt so schlimm gewesen war und warum seine Mutti so seltsam darauf reagiert hatte. Deshalb nahm Klein Axel sich ganz fest vor, seinen Papi danach zu fragen, wenn der endlich von seiner Arbeit daheim sein würde. Doch solange wollte er lieber leise sein, so besorgt war der kleine Mann um seine Mami.

Eine Sorge, die durchaus begründet war, wie sich später noch herausstellen sollte. Denn Frau Nippelhorn hatte sich immer noch nicht ganz von ihrem Schock erholt und weil sie die Mütter der beiden Jungs kannte, die da vorhin so schamlos im Einkaufsmarkt rumgeknutscht hatten, griff sie direkt zum Telefon um den Frauen mal zu stecken, was sie doch für ungeratene Söhne haben. Doch egal welche Argumente sie auch auf den Tisch legte, die beiden Frauen waren nicht bereit, ihren offensichtlich schwulen Söhnen, das küssen in der Öffentlichkeit zu verbieten.

Erbost legte die junge Mutter den Hörer auf, nachdem sie sich mehrfach als intolerante, homophobe Ziege beschimpfen lassen musste; und stürzte sich lieber in die Hausarbeit. Blumen Putzen, Fenster gießen, Wäsche kochen und Essen waschen (der ganz normale Hausfrauenaltag eben). Sie bemerkte noch nicht einmal, wie durcheinander sie war, als sie bereits zum fünften Mal versuchte, eine Bügelfalte in eine Sandwichscheibe zu bekommen. Auch die Eier wollten heute einfach nicht weich werden, dabei kochten sie nun schon seit zwei Stunden fröhlich vor sich hin.

Doch irgendwann hatte auch Frau Nippelhorn sich endlich beruhigt und ihren Schock vom Vormittag verdaut, jedenfalls dachte sie das, als sie entspannt auf der Couch saß und in einer Frauenzeitschrift blätterte, bis … ja bis Herr Nippelhorn endlich Feierabend hatte und in die Wohnung trat …


„Papi, Papi stell dir vor, was Mutti und ich heute im Supermarkt gesehen haben. Da haben sich zwei Jungs richtig mit Zunge geküsst. Aber Mutti wusste nich‘ warum die das machen“, brabbelte der Fünfjährige aufgeregt los und klammerte sich am Bein seines Vaters fest.

Frau Nippelhorn hatte plötzlich so seltsamen Schaum vorm Mund und begann aufgeregt zu toben, bis irgendwann ein Notarzt eintraf und die arme Frau des Hauses vorläufig in die Psychiatrische einwies …


Der Papi war übrigens viel klüger als Axels Mami, der hatte sogar extra Mal einen *Kursus besucht, wo er gelernt hatte, wie man die vielen Fragen des Lebens kindergerecht beantworten kann.

„Wozu braucht man so was schon“, hatte die junge Frau ihren Mann damals müde belächelt und während der Schwangerschaft lieber weiter an den Tupperpartys ihrer Freundinnen teilgenommen.

Eine äußerst unkluge Entscheidung damals, wie sich ja jetzt deutlich herausstellte!

*An dieser Stelle möchte ich nochmals eindringlich auf den an früherer Stelle gegebenen Elterntipp verweisen. (Der Verfasser)


Nun war es nach all der Aufregung irgendwann an der Zeit, dass Axel in’s Bettchen musste. Und als sein Papi in’s Kinderzimmer kam, um seinen Sohn richtig zuzudecken und ihm einen ‚Gute Nacht-Kuss‘ zu geben, da hatte er ein dickes, dickes Buch dabei, aus dem er dem Fünfjährigen die folgende kleine Geschichte vorlas:


Es war einmal zu einer Zeit, als die Sommer noch sonnig und warm und die Winter noch klirrend kalt waren. Zu dieser Zeit, nennen wir sie einfach die ‚Gute Alte‘, flog der nackige Gott Amor mit Pfeil und Bogen bewaffnet durch die Lande und half Liebe in die Welt zu tragen. Denn egal wen, ob Buben oder Mädchen, wer von Amors Pfeilen mitten ins Herz getroffen wurde, der verliebte sich fortan unsterblich in die jeweils andere Person. Hierbei achtete der kleine Liebesgott aber besonders darauf, dass er stets auf einen Jungen und ein Mädchen zielte.

Doch eines Tages passierte es im Rausche, dass er zwei Knaben mitten ins Herz traf und das kam so:


Der Sommer war vorbei und der Winter hatte längst wieder Einzug gehalten. Es war besonders kalt und überall lag hoch der Schnee, als Amor kurz vor Weihnachten an einem Glühweinstand auf einem Weihnachtsmarkt vorbeiflog. Solche Märkte waren in den letzten Jahren zu einem dankbaren Arbeitsort für den nackigen Liebesgott geworden, weil sich dort immer besonders viele Buben und Mädchen tummelten. Doch leider hatten diese winterlichen Sammelstätten auch immer einen großen Nachteil für den Liebesboten. Er fror immer ganz schrecklich, weil er ja nichts zum Anziehen hatte. Irgendwann einmal beobachtete er dann, dass sich immer ganz besonders viele Buben und Mädchen an diesem einen Stand versammelt hatten, von dem es verführerisch nach einem besonderen dampfenden Getränk duftete.

„Oh, wie herrlich doch der Glühwein wärmt.“

So tönte es immer wieder zu ihm herüber. ‚Wenn dieses göttlich duftende Getränk wirklich wärmt, so kann es wohl nicht falsch sein, wenn ich mir auch davon hole‘, dachte Amor und landete direkt vor dem Glühweinstand um ebenfalls in den Genuss, dieser inneren Wärme zu kommen, welche jenes Getränk versprach.

Dieser Glühwein mundete dem kleinen nackigen Gott so gut, dass er gleich mehrere Becherchen davon genoss. Doch je mehr er davon trank, desto beduselter fühlte er sich auch; und als er dann später endlich wieder weiterflog, verspürte er den unbändigen Drang zwei Knaben, die miteinander stritten, helfen zu wollen. In diesem Rausch gefangen nahm er seinen kleinen Bogen hervor, zog Pfeile aus seinem Köcher und zielte beiden Jünglingen direkt in’s Herz. Im Rausch war er sich der Wirkung dieser Treffer nicht mehr bewusst. Und als er sah, wie sich die beiden Knaben hinterher in den Armen lagen und sich verliebt küssten, da kicherte er über seinen gelungenen Schelmenstreich und flog davon.


Seit jenem Abend im Dezember kommt es immer häufiger vor, dass man auch Jungs sieht, die ineinander verliebt sind und sich küssen.


„So ist das also“, sagte Axel Nippelhorn zufrieden, weil er jetzt endlich wusste, warum sich die beiden Jungs im Supermarkt geküsst hatten.

„Genau und daran ist überhaupt nicht’s Schlimmes, solange man dabei glücklich ist“, antwortete der Vater mit sanfter Stimme, bevor er das dicke, dicke Buch zuklappte und sich zu seinem Sohn herunterbeugte um diesem seinen ‚Gute Nacht-Kuss‘ zu geben.


„Du Papi, wann kommt die Mami denn wieder nach Hause?“, fragte der Kleine, bevor sein Vater das Licht auslöschte.

„Sehr bald Axel, sie muss sich jetzt nur mal für ein paar Tage ausruhn“, antwortete Herr Nippelhorn leise und wartete geduldig, bis sein Sohn endlich eingeschlafen war.

Auf die Idee zu dieser kleinen Geschichte kam ich 2010, als mein Ex-Freund und ich uns in der Öffentlichkeit küssten und wirklich ein Fünfjähriger seine Mama mit solchen Fragen löcherte und eben diese Standartantwort bekam: Dafür bist du noch zu jung!

Allerdings dauerte es danach noch zwei Jahre, bis ich jetzt endlich die Idee mit dem kleinen Märchen vom betrunkenen Amor hatte, um die Liebe unter Jungs, möglichst kindgerecht zu erklären. :D
Georg Boettcher, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.05.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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