Savah M. Webber

Eine helfende Hand

Eine helfende Hand
©2003 Savah M. Webber
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Samara wusste nicht, wie lange sie schon hier auf der Brücke stand und in das dunkle, gurgelnde Wasser unter ihr starrte. Die Welt hatte für sie keinen Sinn mehr. Neunzehn Jahre jung und am Ende ihres Lebensweges.
Was soll ich noch hier?, dachte sie bitter und zog die Nase hoch.
Der kalte Wind blies ihr ins Gesicht, doch sie bemerkte es nicht mehr. Die Tränen versiegt, nur noch Verzweiflung war geblieben. Und Einsamkeit.
Und sie hatte ihn so sehr geliebt, so sehr vertraut. Nur um feststellen zu müssen, dass er sie all die Monate belogen hatte, sie zu einer Ehebrecherin machte.
Sie fühlte sich beschmutzt und ausgenutzt.
Er hatte sich als Freund ihres verstorbenen Vaters vorgestellt. Das war nun sieben Monate her. Damals… als ihre Eltern tödlich, bei einem Verkehrsunfall, ums Leben kamen.
Sie glaubte ihm. Vertraute ihm, als er seine Hilfe anbot, den Nachlass zu regeln. War froh, jemand gefunden zu haben. Und nun stellte sie fest, dass er sie um ihr gesamtes Erde betrogen hatte. Er hatte sich verspekuliert an der Börse. Nichts war mehr übrig, nein das stimmte nicht ganz…
Nun hatte sie mehr als fünfzigtausend Dollar Schulden. Kein Geld, um auf die Universität zu gehen, ein Studium zu beginnen in Rechtswissenschaften. Wie stolz war sie gewesen, als ‚Yale’ sie akzeptiert hatte.
Und nun wollte die Universität den Beitrag für das erste Zwischenjahr, das sie im Januar beginnen wollte. Nur sie hatte das Geld dazu nicht mehr.
So hatte sich Samara das neue Jahr nicht vorgestellt, das in ein paar Minuten beginnen würde.
Doch nicht mit ihr.
Wieder sah sie hinunter in das kalte, rauschende Wasser. Der Winterwind zerrte an ihrem Mantel, schlug ihn mehrfach zur Seite, liess eine wohlgewachsene Figur zum Vorschein kommen. Lange, bis tief in den Rücken reichende, dunkelblonde Haare flatterten im aufkommenden Sturm und ein tiefes Schluchzen wurde mit dem Windstoss davongetragen.
Langsam beugte sie sich über das Geländer, stellte sich auf die Zehenspitzen, atmete nochmals tief durch, als sie plötzlich eine männliche Stimme neben sich hörte.
„Ich würde nicht so viel Sauerstoff in meine Lungen pumpen, wenn ich vor hätte, mich zu töten.“
Erschrocken fuhr sie zurück und starrte den Fremden an, der nur ein paar Schritte entfernt von ihr, über dem Geländer lehnte.
„Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe“, knurrte Samara ihn an.
„Wollte dir ja nur einen Tipp geben, wie du dich schneller töten kannst. Damit es schneller geht und du nicht so lange leidest“, sagte er unberührt und sah weiter in das Wasser.
„Lasse mich alleine.“
„Könnte ich tun, aber will ich nicht. Gebe mir fünfzehn Minuten von deinem Leben, das du wegwerfen willst.“
„Für was? Willst du deine Hormone an mir loswerden?“
„Nein“, schmunzelte er. „Ich will dir eine Geschichte erzählen. Nur fünfzehn Minuten, mehr verlange ich nicht. Dann lasse ich dich alleine und du kannst dich anschliessend töten. Ist das ein faires Angebot?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Gut, ich höre.“
„Dort drüben steht eine Bank, da ist es etwas geschützter als hier, wenn du nichts dagegen hast.“
Ohne auf ihre Antwort zu warten, drehte er sich um, ging auf die Bank zu, entfernte den Schnee, der darauflag und setzte sich. Dabei machte er eine einladende Handbewegung zu Samara hinüber.
Die folgte zögernd, setzte sich und sah kritisch den Fremden an. Im Schein der Parklampe konnte sie sein Gesicht besser sehen, als auf der Brücke. Auch war es hier windstill und somit nicht so kalt. Sofort fielen ihr seine blauen, klaren Augen auf, die umringt waren von langen dunkeln Wimpern, an denen sich gelegentlich kleine Schneeflocken verfingen und zu kleinen Regentropfen wurden, die herunterfielen, wenn er zwinkerte. Seine dunklen Haare waren halblang und reichten bis über die Schultern, die sich muskulös durch den Lebermantel abzeichneten, den er trug.
Nun wandte er sich ab, sah hinaus auf den dunklen Fluss und hinüber zu der Stadt, deren Lichter zu ihnen herüberblinzelten.
Es war still um sie herum. Fast beschaulich. Leise fielen kleine Schneeflocken, die er mit einer Hand auffing und zusah, wie sie schmolzen.
Dann begann er mit dunkler, weicher Stimme zu erzählen:
„Es war einmal, genau einhundertsechsunddreissig Jahre ist das nun her, ein junger Mann. Er hatte alles verloren. Seine Freunde, seine Frau, der er vertraute und die er nie im Stich gelassen hätte. Doch sie hatte es getan. Ist mit seinem besten Freund auf und davon. Er selbst war Musiker. Hatte nie viel Geld. Doch er glaubte an sich und an seine Begabung. Er konnte mit seiner Geige die Menschen zum Lachen, oder zum Weinen bringen. Seine Geige, war sein Mittel zu kommunizieren. Wie oft hatte er nur für sie gespielt, nur für sie komponiert. Ihr mit Musik gesagt, dass er sie liebte. Doch sie stiess seine Liebe davon, für Geld und ein gesichertes Leben.
Bevor sie ihn verliess, hatten sie einen fürchterlichen Streit, sie bezeichnete ihn als Versager, als Schwächling und zerbrach seine Geige.
Traurig wanderte er durch diese Stadt, die du dort drüben siehst. Wie sehr hat sie sich mittlerweile verändert, dennoch ist viel von ihrem Flair geblieben. Das Kopfsteinpflaster, die alten Häuser, das verzierte Rathaus am Marktplatz und natürlich die alte Kirche. Dann kam er zu der Brücke. Es ist immer noch die gleiche, sie sieht immer noch aus, wie damals. In der Hand hielt er seine zerbrochene Geige, streichelte sie immer wieder. Es war der letzte Tag des Jahres, wie heute. Eigentlich hätte er einen Auftritt gehabt, doch er hatte den Termin nicht eingehalten. Wie könnte er auch, er hatte ja keine Geige mehr. Was für ihn eine mehr als willkommene Ausrede gewesen war.
Traurig stand er dort oben, auf der Brücke und starrte in das dunkle Wasser unter ihm, fragte sich, was wohl auf ihn warten würde, wenn er hineinspringen würde. Ein kurzer Kampf, doch dann sollte doch Frieden auf ihn warten. Kein Leid mehr, kein Schmerz, keine Sorgen, wie er die Miete für sein Apartment zusammenbekommen sollte, ohne seine Geige.
Er war ein armer Musiker und konnte sich nur diese eine Geige leisten und die zerbrach, wie sein Herz, als seine Frau ihn im Stich liess. Ihn auslachte, als sie den Hals der Geige abbrach. Fast war es ihm, als hätte sie ein Messer durch sein Herz gejagt, so schmerzte es ihn, dies zu sehen.
Lange stand er da, alles war ruhig um ihn herum. Er begann sich immer weiter nach vorn zu beugen, stand schon auf den Zehenspitzen, als ihn eine Hand zurückriss. Sie gehörte einer Frau. Sie war wunderschön. Hatte langes dunkelblondes Haar, so wie du, die gleichen grünen Augen, auf ihrer kleinen Nase tanzten einige Sommersprossen.
Und sie fragte den Musiker: „Wer hat dir das Recht gegeben, dein Leben zu beenden.“
Er antwortete voller Schmerz und Trotz: „Was schert dich mein Leben? Es gehört mir alleine und ich kann damit machen, was ich will.“
„Nein“, sagte sie zu ihm und nahm ihn bei beiden Schultern. „Dieses Leben gehört nicht dir allein. Hast du einmal daran gedacht, wie vielen Menschen du begegnen wirst, wie vielen Menschen du helfen kannst, wenn du weiterlebst? Hast du einmal daran gedacht? Ich sehe, dass du ein Musiker bist, denn nur ein Musiker weint um sein Instrument. Ich bin in zehn Minuten wieder hier. Zehn Minuten ist alles, wonach ich frage. Dann bringe ich dir eine Geige und du spielst für mich.“
Damit liess sie ihn allein und er starrte weiter in das Wasser, überlegte sich, ob er nun springen sollte, oder nicht. Doch wäre das nicht ein Verrat an ihrem Vertrauen, das diese Frau in ihn setzte?
Und was ist, wenn sie mir wirklich eine Geige bringen würde?
Eine Geige, die seinen Schmerz erzählen könnte, die mit ihm weint und mit ihm lachte, so wie es das alte Musikinstrument getan hatte.
Tief in Gedanken versunken hörte er sie nicht näher kommen und erschrak, als er ihre Hand auf seinem Oberarm spürte. Er fuhr herum, sah sie aus rotgeränderten Augen an und sie hielt ihm wortlos eine Geige entgegen. Es war ein wunderschönes Musikinstrument, eine Stradivari, wundervoll gepflegt. Das glatte Holz schmiegte sich warm in seine Hände.
„Wer bist du?“, fragte der junge Musiker. „Ein Engel?“
Doch sie lächelte nur und meinte leise:
„Spiel, spiel für die, heute Nacht, deren Herz weint, wie deines.“
Dann trat sie einige Schritte zurück und der junge Musiker hob die Geige an sein Kinn, nahm den Bogen, setzte ihn vorsichtig an und die ersten Töne klangen über den Fluss.
Traurig, weinend… anklagend.
Der Musiker wurde davongetragen in einer Musik, die aus seiner Seele kam.
Alle versteckte Wut, alle Enttäuschung, alle Bitterkeit schwang in jedem Ton, den er spielte.
Und die fremde Frau sass hier auf dieser Bank und hörte ihm zu. Wusste, dass sein Herz heilte, mit jedem weinenden Klang, der zu ihr herüber drang. Nach einer Weile stoppte er, wandte sich um und sah die Frau lange an.
„Danke“, sagte er nur schlicht und wollte ihr die Geige zurückgeben.
„Nein, behalte sie. Du bist ein grosses Genie. Und du wolltest die Welt um deine Kunst betrügen? Wie eigennützig du doch bist, Sterblicher.
„Ich? Eigennützig?“
Und sie erwiderte: „Ja.“
„Wer bist du?“, fragte er erneut. „Ein Engel?“
„Wäre es nicht vermessen anzunehmen, dass dir ein Engel erscheinen wird, wo du doch dein Leben einfach wegschmeissen willst? Nein, ich bin kein Engel. Oder doch, ein Engel der Nacht“, sagte sie leise.
„Ein Engel der Nacht?“
Noch immer verstand der junge Musiker nicht.
„Ja, ein Engel der Nacht.“
Nun sah sie ihn mit ihren grünen wundervollen Augen an, öffnete leicht ihre Lippen und er konnte zwei spitze Eckzähne sehen. Erschrocken wich er ein wenig zurück.
„Was ist Musiker? Hast du nun Angst um dein Leben, welches du doch vor einer Stunde wegschmeissen wolltest? Antworte mir. Somit hängst du doch mehr daran, als du gedacht hattest.“
Beschämt senkte der Musiker den Kopf und als er wieder aufsah, stand sie dicht vor ihm. Er konnte ihr Parfum riechen, das sie umschmeichelte und wie für sie geschaffen war.
„Ich schlage dir einen Handel vor, Musiker. Du spielst morgen, so wie vorgesehen und ich werde anwesend sein. Jedes Mal, wenn du irgendwo auftrittst, werde ich anwesend sein. Gleich, wo dich dein Weg hinführen wird, ich werde dir zuhören. Und nach Ablauf von einem Jahr kommst du wieder hierher zurück, zu dieser Brücke. Und wenn du dann willst, werde ich dir die Unsterblichkeit geben, aber nicht den Tod bringen, den du dir so sehr herbeisehnst.“
Nun sah der Fremde Samara wieder an und sie fragte leise:
„Und, ist er zurückgekommen? Hat sie ihn zu einem Vampir gemacht?“
Er stand auf, sah auf die junge Frau hinunter, öffnete leicht seine Lippen und sie konnte seine spitzen, imposanten Eckzähne sehen.
„Ja“, sagte er schlicht. „Und wenn du willst, dann treffen wir uns ein Jahr später und ich werde dich in meine Welt führen.“
Damit ging er seines Weges und Samara sah ihm nach, ohne ihn aufzuhalten. Nun hatte sie einen Grund, in das neue Jahr zu gehen, um ihn wiederzutreffen.
Ein Jahr später…
Samara rannte den letzten Weg zur Brücke. Sie war spät. Noch drei Minuten bis Mitternacht. Doch alle Strassen waren vereist und es war nur ein sehr schwieriges Fortkommen gewesen. Als sie in den Park kam, hörte sie Geigenmusik und sie wusste, er ist hier. Schnell rannte sie den Weg zu der Brücke hoch.
Dann sah sie ihn.
Und er spielte so wunderschön auf seiner Stradivari. Die Töne drangen in ihr Herz, sagten ihr, dass er sie liebte. Sagten ihr, dass auch er diesen Tag herbeigesehnt hatte. Den letzten Tag des Jahres.
Sie blieb vor ihn stehen, sah zu ihm auf und seine Augen liebkosten ihr Gesicht. Erhaschten jede Kleinigkeit.
Dann hörte er zu spielen auf, reichte ihr seine Hand, die sie vertrauensvoll ergriff.
„Und die andere Frau?“, fragte sie ängstlich.
„Wünscht uns alles Glück der Welt.“
Und ein einsames Paar, ein hochgewachsener Mann, der in einer Hand eine Geige hielt und eine zierliche Frau, verschwanden im Dunkel der Nacht. Der letzten Nacht des Jahres.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Adrian-Hass Und Liebe Sind Fuer Die Ewigkeit von Savah M. Webber



Die Welt des Vampirs Adrian – eingebunden in Regeln und Vorschriften einer höheren Macht, der auch er sich unterwerfen muss – ist bestimmt durch ein Gefühl, welches diesen Vampir die ganzen Jahrhunderte existieren liess: Hass. Durch die junge Journalistin Liz Whiteman, lernte dieser unbeugsame Clanführer nun auch ein anderes Gefühl kennen, dem er sich bis dahin erfolgreich verschlossen hatte: Liebe. Doch durch widrige Umstände trennten sich ihre Wege wieder, bis ein Mord sie erneut zusammenführte. Aber Adrian, Earl of Shendwood, musste sich auf ein grösseres Problem konzentrieren: Die Vernichtung seines Meisters und Vampir Damian, der ihn vor fast 1.000 Jahren gegen seinen eigenen Willen zum Vampir machte. Zögerlich begann sich Adrian mit diesem Gedanken anzufreunden, wurde aber durch Damian immer weiter dazu getrieben, dass es zu einer letztendlichen Konfrontation zwischen beiden hinauslaufen würde, wo selbst in dieser Nacht eine Vampyress, namens Shana, bittere Tränen weinte…

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