Andreas Baum

Shakira

„Maya, wie findest du…“ – sagte Lily. Sie drehte sich um. Nur fremde Gesichter. „Verdammt, wo seid ihr? Lasst mich nicht allein.“ Doch sie war verlassen worden von jeglicher Zivilisation des Westens: ihrer Touristengruppe.

Nur mit ihnen hatte sie es gewagt, Ägypten zu besuchen. Eigentlich nur, um einen Roman zu schreiben. Ihren Ersten – und der sollte authentisch wirken. Also hatte sich Lily aufgemacht, es Agatha Christie gleich zu tun.
„Tot auf dem Bazar“ – schoss es ihr durch den Kopf. „Ich werde fusselig, diese fremden Menschen hier. Verdammt, wo seid ihr, Gruppe?“ Lily wurde nervös. Große Menschenansammlungen machten sie schon immer verrückt.
Ihre Mutter war früh gestorben, ihr Vater ihr ein und alles. Er war Kapitän auf den großen Luxusdampfern und sie sah ihn nur selten. Lily, das Einzelkind, erhielt ein Kindermädchen. Nun war sie 34 Jahre alt. Sie hatte großes Allgemeinwissen erlangt, doch allein fand sie sich immer noch nicht zurecht. Sie brauchte Führung – und hatte sich so einer Gruppe angeschlossen.

Als sie sich umsah, fiel ihr Blick auf einen Mann mit einer schwarzen Augenklappe. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Dieser Mensch sah genauso aus wie Lily ihn sich in Christies Roman „Der Mann im Nebel“ vorgestellt hatte. Und der kam jetzt mit schnellen Schritten auf sie zu.
Sie rang nach Luft, irgendetwas schnürte ihr die Kehle ab. „Ich muss hier weg.“ Sie rannte in eine Seitenstraße. Der Lärm versiegte, keine Menschenseele war mehr zu sehen. Jeder Schritt bedeutete mehr Ruhe. Die Augenklappe verfolgte sie auch nicht mehr. Lily war allein. Schlagartig ging es ihr besser. Kühler war es hier, aber auch dunkler. „Autoren sterben einsam. Aber – ich muss meine Gruppe finden. Also, was hätte Agatha in dieser Situation getan. Ich muss irgendwie Ruhe bewahren. Ich bin die Tochter eines Kapitäns, stamme aus einer feinen Gegend und bin nicht auf den Kopf gefallen. Also, was würde Agatha tun?“ Lily analysierte ihr Umfeld. Nichts kam ihr bekannt vor. Dreck überall, keine Straßenschilder und sie hatte absolut keinen Plan, wie sie aus dieser misslichen Lage heraus kommen sollte.

Plötzlich stand ein kleines arabisches Mädchen vor ihr. Es war verdreckt, hatte ein orangefarbenes Kleidchen an und eine Puppe bei sich. Mit beiden Armen hielt sie sie fest. Die Puppe bestand nur noch aus Rumpf und Kopf.
Lily schöpfte Hoffnung. Konnte die Kleine sie überhaupt verstehen? Könnte sie ihr überhaupt helfen? „Wie heißt du? Kannst du mir helfen? Kannst du mich verstehen? “ Das Mädchen starrte sie mit großen runden Augen an. „Hey, Kleine, komm´ doch näher. Ich beiße nicht.“ Sie streckte ihren Arm aus. „Komm schon, hab keine Angst.“

Das Mädchen blieb wie angewurzelt stehen. Lily sah die Kleine an. Krause schwarze Haare hatte sie. Solche hatte sie sich auch immer gewünscht. Genauso auszusehen wie diese blonde kolumbianische Sängerin. Barfuß war die Kleine auch, machte aber einen aufgeweckten Eindruck. „Kennst du den Eingang vom „Khan al Khalili-Platz“ – „Khaaan – aaaal – Khaaaa – li –li.“ Jetzt sah Lily vor ihrem geistigen Auge auch die Straßenecke vorm Eingang – und das Namensschild an der Häuserwand: „Gohar al Kaed – Gohar al Kaed.“

Plötzlich nahm das Mädchen sie bei der Hand und sauste mit ihr in die nächste Straße hinein. Es wimmelte hier nur so von Menschen. Lily hatte Schwierigkeiten, die kleine Hand fest zu halten. In dem Mädchen steckte Kraft und Entschlossenheit. Sie durfte die Kleine nicht aus den Augen verlieren. Sie war ihr letzter Strohhalm, um hier heraus zu kommen.
Es ging vorbei an aufgehäuften Kegeln voller duftender Gewürze; an bunten Kleidern, zahnlosen Männern und goldglitzerndem Handwerk. Fleisch lag auf dreckigen Holztischen, daneben wehten bunte Tücher. Männer rauchten Shishas. Der süße Duft des fruchtigen Tabaks schoss ihr in die Nase.
Der Weg bestand aus Sand, von den Häusern blätterte die Farbe ab. An diese Gegend erinnerte Lily sich überhaupt nicht. Immer schneller wurde das Mädchen. Lily verlor plötzlich den Halt, wankte, fiel hin - und verlor die Kleine aus den Augen.

Lily raffte sich schnell auf, sah nach vorn - und als sie das arabische Mädchen nicht gleich erblicken konnte, nahm sie allen Mut zusammen und schrie aus vollem Hals: „Shakira - Gohar al Kaed – Gohar al Kaed.“ Nichts geschah. Lily schrie: „Shakiraaaaa.“ Sofort war sie umringt von Männern, die sie mit Blicken auszogen, an ihrer Bluse zupften und ihr antworteten: „Shakira.“ Lily hatte den Eindruck, dass ein Meer von Händen sie berühren wollte. Schweiß ran ihr über die Stirn. Ihre Hände zitterten. Dann sah sie ihn wieder, den Mann mit der Augenklappe. In einiger Entfernung stand er da und fixierte sie mit dem Auge. Doch plötzlich stand das kleine Mädchen vor ihr und zog sie aus der Menge heraus in eine Nebengasse. Lily rang nach Luft. „SHOKRAN“ – „Danke.“ Wie war das Wort für „langsam?“ Es dauerte einige Sekunde, ehe Lily es fand. Sie ging vor der Kleinen in die Hocke, sah in ihr verdrecktes Gesicht und sagte: „BATÎ.“

Das Mädchen lächelte, drehte sich um und deutete mit einer Handbewegung an, das sie ihr folgen sollte. Immer enger wurde es, immer einsamer und dunkler die Straßen. Lily hatte das Gefühl, die Gebäude wollten sie erdrücken. War das hier wirklich ein Ausweg? Dann stand er plötzlich wieder da: Der Mann mit der Augenklappe. Ein Zittern erfasste ihren Körper. Das kleine Mädchen stand neben ihm.
„Machen Sie gemeinsame Sache?“ Ja, sie arbeiten zusammen. Anders kann es nicht sein. Ich wurde in eine Falle gelockt. Jetzt ist es aus mit mir. Aber würde meine Romanschreiberin jetzt noch einen Ausweg finden? Sie erinnerte sich an das „indische Halstuch.“ Also nahm Lily ihr Tuch vom Hals. Mit dem Mut der Verzweiflung wedelte sie es vor sich her. „Ich bin in der Lage, mich zu verteidigen. Ich kann sie damit erwürgen. Ja, ich bin kein einfaches Opfer. Ich werde mich bis aufs Blut verteidigen, hören sie!“

„Mit dem Tuch können sie verletzen sich. Kommen sie, ich bringen sie heraus hier, “ sagte er im gebrochenem Deutsch. „Das neben mir ist Tochter. Sie heißt, wie sie sagten richtig, Shakira. Allen Arabern sie haben, Frau Halstuch, das schon geschrien richtig. Aber - nun kommen Sie, ich ihnen zeigen Ausgang.“
Nach einer Weile kamen sie dann auf dem Vorplatz des Marktplatzes an. Lily war erleichtert. An der Ecke, wo der Straßenname „Gohar al Kaed“ angebracht war, blieben sie stehen.
Lily ging in ein Geschäft. Heraus kam sie mit einer Puppe mit blonden Haaren. Sie kramte in ihrer Tasche, entfernte den Kopf der Puppe vom Rumpf und steckte einhundert ägyptische Pfund hinein. Dann setzte sie die Puppe wieder zusammen. Mit den Worten „SHUKRAN SHAKIRA“ übergab sie der Kleinen die Puppe. Ihr Vater zog seine Tochter mit sich. Zu Lily sagte er noch: „Sie aufpassen, dass nicht noch einmal verirren sich. Sonst sie wieder wedeln müssen mit Halstuch. Araber große Angst haben vor Halstuch wedelnder Frau.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.06.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Andreas Vierk schreibt seit seinem zehnten Lebensjahr Prosa und Lyrik. Er verfasste die meisten der Gedichte des „Septemberstrands“ in den Jahren 2013 und 2014.

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