Jürgen Berndt-Lüders

Schokolade für die Ohren

Meine von elektrischem Licht verdorbenen Augen gewöhnten sich nur schwer an die Dämmerung, die ein paar Fackeln in der Klosterkirche verbreiteten. Eben hatte der Organist sein sonntägliches Konzert beendet, aber niemand erhob sich um zu gehen. Gespannt wartete man auf das, was nun noch kommen sollte.
 
Ich saß in der dritten Reihe zum Gang hinaus, und so konnte ich beobachten, wie ein kleiner Junge an mir vorbei huschte und auf der Orgelbank Platz nahm. Vereinzeltes Klatschen drang aus den Reihen, aber noch war die Unsicherheit über das Gelingen der erwarteten Vorstellung größer als die Begeisterung.
 
Der etwa Achtjährige sah sich in der Gegend des gewaltigen Spieltisches um und griff sich ein Kissen, das ihm erst die nötige Höhe für sein Orgelspiel verschaffte. Wie er mit den Füßen an die Pedalen kommen wollte war mir ein Rätsel.
 
Der Junge blickte keck zu den Hororatioren der Gemeinde hinüber und hatte auch schon mich entdeckt. Er grinste und streckte mir kurz die Zungen heraus. Und schon begann er zu spielen. Großer Gott wir loben dich klang durch das Kirchenschiff. Die gelungene Akustik verstärkte den Wohlklang der Orgel, und mir liefen vor Begeisterung und Ergriffenheit die kalten Schauer über den Rücken.
 
Jetzt die Toccata und Fuge in d-Moll von Bach, und ich würde sicherlich vor Glück in Tränen ausbrechen und in Trance fallen.
 
Variationen zu bekannten Kirchenliedern gingen in Eigenkompositionen über, die immer flotter und schneller wurden und manch kritischen Blick auf die Gesichter der älteren Gemeindemitglieder malten.
 
Plötzlich stutzte ich. Das, was  dieser Bursche, an dessen Namen ich mich momentan nicht erinnern konnte, obwohl er mir bekannt vorkam, da als Eigenkomposition ausgab und in seine Finger zauberte, hatte ich schon gehört. Aber wo?
 
Aber natürlich. Der kleine Organist war Johann Sebastian Bach himself, Deutschlands größter Komponist für Orgel- und Kirchenmusik. Er spielte ein flottes Lied, an das ich erst kürzlich erinnert worden war. Ein alter Schlager, gesungen von Theo Lingen.
 
Längst hatte er begonnen, das Thema zu variieren, aber immer noch hörte ich deutlich den Theodor im Fußballtor heraus.
 
Hatte ich nicht gestern ein Fußballspiel im Public Viewing gesehen? Und hatte der Torwart der hiesigen Kreisklasse-Mannschaft nicht behauptet, dass sogar er das Tor hätte verhindern können, was eben gefallen war?
 
Und hieß der Mann nicht Theo? Und war mir nicht genau in dem Moment der alte Schlager wieder eingefallen?
 
Fragen über Fragen. Woher kannte Johann Sebastian Bach den Schlager? Er hatte mir die Zunge herausgestreckt. Kannte er die Melodie von mir? Hatte ich ihm die tolle Komposition etwa vorgepfiffen?
 
Der Wecker klingelte nervend in einer ganz anderen Tonfolge und ich schreckte hoch.

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