Manuela Schneider

Eins bedeutet "Zu wenig"

Wasser und Seife reinigen meine Hände. So unsauber bin ich, nur waschen hilft.

 

Vor etwa 10 Minuten erinnerte ich mich an ein Ritual, welches ich mir in der Grundschule angewöhnt hatte: Ich bin von meinem Stuhl aufgestanden, zum Waschbecken gelaufen und habe die Schritte gezählt. Gerade erst hatten wir gelernt, was eine gerade und eine ungerade Zahl ist, deshalb war ich bedacht darauf, bei einer geraden Zahl meine Schritte zu beenden.

An diesem Tag bin ich mit meinem Cousin nach Hause gegangen, weil wir zur gleichen Zeit Schulschluss hatten. Wir redeten nicht, weil ich die Anzahl der Grasbüschel am Straßenrand gezählt habe. Auch sie endeten mir einer geraden Zahl, und ich fragte mich damals, ob das wohl eine Bedeutung habe.

 

Am Abend dieses Tages beobachtete ich meine Brüder wie sie gemeinsam Karten spielten. Die Karten flogen hin und her, und ich konnte nur wie in Trance die einzelnen Blätter zählen. Ein Stapel von 4, ein Stapel von 8, ein Stapel von 3 - "Halt! Ihr müsst da noch eine hinpacken!"

Zu diesem Moment habe ich nicht verstanden, warum sie nur sagten: "Nein, das ist genau so wie es sein soll."

 

Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser.

Der Mensch, der diese Zeilen von sich gegeben hat, muss ein Genie gewesen sein. Oder ein kompletter Freak.

Sagen wir es so: Mich hat es bisher nicht weit gebracht. Nummern kontrollieren. Bestände kontrollieren. Anzahlen kontrollieren. Einen Brief nochmal aufzureißen, um zu schauen, ob sich nicht doch irgendwo zwanzig Fehler eingeschlichen haben. Das Einkaufscenter ohne etwas in der Hand zu verlassen, weil ich nochmal kontrollieren muss, ob ich nicht das Licht angelassen habe. Einfach aus einer intuitiven Laune heraus zur Bank zu gehen, um zu kontrollieren, ob der Geheimcode noch stimmt.

 

Autos sind besonders schlimm. Sehe ich Autos an mir vorbei fahren, dränge ich mich automatisch so weit entfernt wie es die Zäune und Wände der Stadt erlauben. Höre ich das Geräusch brummender Motoren, schlägt mein Herz so laut, dass ich meine, das Echo müsste hörbar sein.

Im Auto schaue ich immer, ob jeder Insasse angeschnallt ist. Teste noch einmal nach, drücke nochmal fester zu.

 

Niemals könnte ich einen Führerschein machen, damit habe ich mich abgefunden. Die Angst ist zu groß, der Zwang zu mächtig - die Erinnerung, an die ich mich nicht erinnere, zu stetig.

Ja, ich weiß, dass es sich bescheuert anhört. Ist es auch.

Vor Jahren war ich - mehr oder weniger - in einem Verkehrsunfall verwickelt. Ein Junge, mit dem ich mich sehr gut verstand und oft spielte, ist dabei ums Leben gekommen. Man könnte denken, dass ist der Grund, was mich an Autos abschreckt, aber ich kann mich an dieses Erlebnis nicht erinnern.

Es ist weg. Es ist passiert, aber nicht mehr da.

 

Genau wie viele Geschehnisse meines Lebens. Ausgefiltert, von meinem Kopf in den Sondermüll degradiert.

Es ist ungerade: Eins gibt es nicht, zwei schon, drei hat die Kurve nicht bekommen, vier winkt mir gerade zu, fünf ist mit sieben einen Saufen und 6 macht nur gerade Ferien.

 

Noch eine rituale Gedächtnis-Reinkarnation:

Meine Familie und ich waren frisch in ein kleines Häuschen gezogen. Es muss kurz nach Weihnachten gewesen sein, denn ich war wie verhext von meinem Game Boy Color und dem dazugehörigen Pokémon-Spiel.

Mein Bruder rief nach oben, dass das Essen gleich fertig ist und ich den Tische decken solle. Und ich konnte nicht, literarisch, ich konnte nicht. In meinem Pokédex war angezeigt, dass ich 15 Pokémon gefangen hatte. Das ist zu ungerade. Bevor ich dieses Spiel beenden könnte, muss ich noch eins fangen.

Irgendwann begab ich mich die Treppe herunter: Versicherte mich aber, dass ich nur jede zweite Stufe nahm.

Mein Vater hatte uns Rühreier gemacht. Und ich saß am Tisch und konnte nicht essen. Verührte Eier konnte man keiner Anzahl mehr nachweisen.

"Iss jetzt dein Abendbrot!", meinte er zu mir. Er hatte einen harten Tag, man konnte es in seinem Gesicht sehen. War es ja auch alleine mit der ganzen Familie, mit den Ämtern und der Verantwortung. Sein Gesicht war rund, aber zusammengefallen. Müde, einfach fertig.

Doch ich wollte nicht essen. Nannte jedoch keinen Grund. Mein Vater wurde wütend, meine Brüder verdrehten nur die Augen. Sicher hätte jemand noch eine zweite Portion gegessen, aber Papa war wütend. Meist fragte in solchen Situationen keiner mehr etwas.

Sicher hätte ich mich für mein Verhalten entschuldigt, doch dein flog der eine Teller mit den nicht-zu-zählenden Eiern an der Wand.

 

 

"Jeder braucht eine Struktur", sagte mein Geschichtslehrer zu einem Schüler, der mit diesem Fach nicht besonders viel anfangen konnte.

Eine Struktur ist zu wenig, zwei wären viel ansprechender. Zwei Strukturen sind gerade, festigen mehr als eine.

Wir waren 27 Schüler, wenn jeder eine Struktur hat, hat jeder automatisch eine ungerade Struktur. Es muss also immer ein Lehrer im Raum sein, damit das Gleichgewicht stimmt.

 

Jetzt werde ich ein Glas Wasser trinken gehen. Und werde darauf achten, dass der letzte Schluck eine gerade Zahl ist. Das ist das Ritual.

 

Noch einmal gehe ich mir die Hände waschen, weil ich mich dreckig fühle.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.07.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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