Johannes Schlögl

Titus Goldfish oder Service Pack 412

Commander Goldfish liebte es, wenn wichtige Systeme ausfielen, und er gezwungen war, das 1 Million Tonnen schwere Mülltransportschiff „Xylene Pox“ manuell zu fliegen. Er verspürte jedes Mal ein leichtes Kribbeln in der Magengegend, wenn aus dem unteren Teil der Computerkonsole ein Joystick herauskam und sich unter seiner rechten Hand justierte. Dann fühlte er sich zu etwas Höherem berufen. Und da war das unbeschreibliche Gefühl der Macht die man mit Hilfe dieses kleinen Steuerknüppels ausüben konnte. In dieser Situation spielte es für Titus keine Rolle, dass er als „Ein-Mann“ Besatzung einen Raumtransporter für radioaktiven Schrott zur erdabgewandten Seite des Mondes flog, um den kontaminierten Müll des 20. und 21. Jahrhunderts dort kostengünstig zu entsorgen. Im Prinzip war er ein ganz gewöhnlicher Müllkutscher. Nur mit dem Unterschied, dass er einen längeren Weg zur Müllkippe hatte, als seine Kollegen auf der Erde und sein „Fahrzeug“ mit zwei Turbotronik Triebwerken bestückt war, die bei Volllast locker auf 25% der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnten. Leider riegelten die internen Raumschiffsysteme die Geschwindigkeit soweit ab, dass er bis zum Mond über drei Stunden benötigte. Goldfish verfluchte den Tag, an dem die Geschwindigkeitsbegrenzung zwischen Mond und Erde in Kraft trat. Schuld für diese Maßnahme war sein Kollege Yakuso gewesen. Hatte er doch seinen Mülltransporter auf dem Weg vom Mond zur Erde zu Schrott geflogen. Genauer gesagt war er zu schnell unterwegs gewesen und hatte den schon Stunden vorher von der Orbitwetterstation angekündigten Sonnensturm unterschätzt. Jedenfalls knallte er in den Pazifischen Ozean – zumindest die Reste seines Schiffes. Und das hatte einen leichten Tsunamie zur Folge. Den Schaden musste natürlich die Müllfirma begleichen. Immerhin betrug dieser den Gegenwert von 2 Tonnen marsianischer Rohdiamanten. Leider war dieses Missgeschick nur zu 25% durch eine englische Versicherungsgesellschaft gedeckt.

*

Goldfish blickte vergnügt auf das Display der Steuereinheit des Schiffes. Wieder einmal hatte sich der Computer selbst ausgehobelt indem er wichtige Systemupdates vom amerikanischen LordServer automatisch übernommen hatte, ohne die Echtheit der Zertifikate zu überprüfen. Diese 50000 Tonnen schwere Datenbank, die hunderte Kilometer über dem Äquator hing war eine Art moderner Tante Emma Laden von dem man eigentlich alle möglichen Daten und Programme bekommen konnte, sofern man auf einer Schweizer Lizenzdatenbank einen gültigen Update- oder Installationscode erworben hatte und ein prall gefülltes millionenschweres Konto vorweisen konnte. Und gerade dies war auch der Hauptgrund für die Abschaltung der schiffsinternen Überprüfungssoftware des Müllraumers gewesen. Der Konzern konnte oder wollte nicht mehr die Monatsmiete von 33874 Euro und 32 Cent pro Schiff für die Lizenz eines Programms bezahlen, das nur dazu diente, ein paar hundert Tribyte große Zertifikate auf ihre Echtheit zu überprüfen. Seit dem Yakuso Unglück war das Diamantendepot auf der Lizenzdatenbank in der Schweiz beinahe leer. Der Konzern vertraute deshalb einfach auf die Schutzschilde des Lordservers. Die letzte Hackermine, welche auf diesen Datenbanksatelliten vor 3 Monaten knallte, stammte noch aus der Zeit der europäischen Open Source Revolution im Jahre 2151 und richtete, da hoffnungslos veraltet, nur geringen Schaden an.
Goldfish wusste um dieses Problem wegen des stillgelegten Überprüfungsprogramms, behielt aber dieses Geheimnis für sich. Deshalb trat auch dieser schwere Ausnahmefehler nach dem Update seit 2 Wochen immer wieder auf. Seit der Bordcomputer, im blinden Vertrauen auf die Echtheit der Zertifikate in den Dateien, das Service Pack 412 sich selbst installiert hatte. Zur Freude von Goldfish. Jedes Mal, wenn das System dadurch ein Blackout hatte, konnte er den 1 Million Tonnen schweren Vogel per Joystick selbst fliegen. Und das ohne lästige Geschwindigkeitsbeschränkung! Was ihm jedes Mal mächtig Spaß machte.
Und diesmal war es wieder soweit. Teile des Steuerprogramms hatten sich mit einem BlueScreen verabschiedet, sodass der Hauptrechner sich auf die Flugfähigkeit von Titus Goldfish verlassen musste. Drei Viertel der Strecke waren noch zu bewältigen. Wenn Goldfish den Luftwiderstand der Erdatmosphäre und die Einstellung der turbotronischen Bremskraftverstärker richtig berechnete, konnte er theoretisch seinen alten Geschwindigkeitsrekord unterbieten. Aber vorher musste er noch die beiden Turbolader der Triebwerke hochfahren. Erst bei einem Betriebsdruck von 4000 Atmosphären konnten sie die Kraft der Turbotronik Triebwerke in erheblichem Maße ausreizen. Dadurch war es dem Müllraumer erst möglich, das Endziel, also die blaue Weltkugel, in 3,75 Sekunden zu erreichen. Inzwischen rechnete Goldfish die Zielkoordinaten mit einer akzeptablen Fehlertoleranz von 375 Kilometern im Kopf aus und gab die „X“, „Y“ und „Z“ –Werte in den Bordrechner ein. So wie er es jedes Mal gemacht hatte.
Dann drückte er den Joystick ganz nach vorne. Das Schiff beschleunigte und die Trägheitsdämpfer gaben sich alle Mühe, damit der Körper des Commanders nicht wie eine reife Tomate in seinem Sitz zerquetscht wurde.
Doch diesmal hatten sich Goldfish und der Bordcomputer verrechnet. Gewaltig verrechnet! In diesem Sinne war eine Ähnlichkeit zwischen dem Commander und der Steuerungssoftware nicht von der Hand zu weisen. Scheinbar hat der Hauptrechner mit dem Service Pack 412 mehr Löcher in seinem Betriebssystem zu stopfen versucht, als da waren. Das ließ sein Rechentalent auf die digitale Analogintelligenz von Goldfish sinken – und für interplanetarische Müllfahrer war nur ein analoger IQ – Wert von 135 erforderlich.
*

Als Goldfish aus der Bewusstlosigkeit erwachte und auf den Geschwindigkeitsmesser blickte, traute er seinen Augen nicht. Dieser hatte bei 23,4% der Lichtgeschwindigkeit seinen quantenmechanischen Geist aufgegeben.
Was war geschehen? Der Commander konnte sich keinen Reim darauf machen. Er blickte durch das Panoramafenster der 35 Quadratmeter großen Brücke und sah, dass ein gewaltiger Planet immer näher kam. Pro Sekunde 70200 Kilometer näher. Seine Ausmaße waren furchteinflößend. Vor allem bereitete Titus Goldfish der riesige rote Fleck auf dem Monsterplaneten große Angst. Er hatte das Gefühl, als wäre dieser Klecks ein riesiges Auge, das ihn wütend anstarrte. Trotz aller Ängstlichkeit musste sich Goldfish um den Treibstoffvorrat kümmern. Die Skala an der Konsole zeigte an, dass er nur noch 10% Reserven hatte. Dann war das Ende der Fahnenstange erreicht. Glücklicherweise hatte der Müllbeseitigungskonzern für solche Umstände vorgesorgt. Als die Firma vor Jahren den Auftrag erhielt, Reaktoren alter amerikanischer Flugzeugträger zu entsorgen, hat der Konzern diese schlichtweg ausbauen lassen und sie als Notaggregate in den Mülltransportern installiert. Diese kleinen Kernkraftwerke hatten noch soviel Power in ihren Brennstäben, dass sie auf Jahre hinaus die Ionentriebwerke mit Energie versorgen konnten, welche für den Notfall in den Schiffen installiert worden waren.
Bei seiner momentanen Geschwindigkeit musste der Commander rasch handeln, wollte er nicht den Riesenplaneten frontal abschießen. Und da die beiden Haupttriebwerke mit ultraschwerem synthetischen Karbonium 3000 betrieben wurden, würden die katalysatorischen Eigenschaften des restlichen Treibstoffs in den Tanks bei einer Kollision zu einer Kettenreaktion auf dem Jupiter führen, deren nicht absehbare Folgen bis zur Erde reichen konnten. Für ein eigenständiges Bremsmanöver reichten die 10000 gravitonfreien Tonnen Treibstoff jedoch nicht mehr aus. Um den gigantischen Müllraumer abbremsen und wenden zu können, musste Goldfish das Schiff sehr nahe an den Planeten heranbringen und dessen Schwerkraft und Atmosphäre ausnutzen. Er ließ deshalb alle notwendigen Berechnungen vom Computer ausführen und überließ nichts mehr seiner subjektiven Einschätzung.
Glücklicherweise hatten sich die Steuersysteme soweit erholt, dass sie alles selbstständig machen konnten.
Wenn das alles hier vorbei war, das wusste Goldfish, konnte er sich nach einem neuen Job umsehen. Das war ihm in dem Moment klar geworden, als er auf das Display seines Quantenhandys blickte und die Flut an eingetroffenen Nachrichten sah. Sie wiesen alle nur einen einzigen Absender auf. Das Hauptquartier der Müllfirma in Sibirien. Titus Goldfish überlegte.
Vielleicht würde er sich als Wachmann im ISS- Weltraummuseum bewerben. Der Job war vor 3 Tagen im Hypernet zum Kauf angeboten worden. Zu einem gerade noch erschwinglichen Preis. Dafür waren die Versicherungspakete gratis und man hatte im Krankheitsfall und bei Pensionsantritt für die Zukunft ausgesorgt. Titus Goldfish war 83 Jahre alt und konnte theoretisch in 2 Jahren in den Ruhestand treten. Dann wollte er seine Freundin heiraten und sich 2 Kinder klonen lassen. Aber zunächst musste er das Schiff in der Jupiteratmosphäre abbremsen und wenn möglich, heil nach Hause zur Erde bringen.
Und dazu war noch ein wenig Arbeit notwendig. Aber wozu noch arbeiten, wenn er seinen Job durch seine missglückte Hochgeschwindigkeitsrallye sowieso los war. Also schaltete er alle Systeme auf Sicherheitsstufe 2 und ging in die kleine Bordküche des Raumschiffs. Dort bereitete er sich eine schmackhafte Currywurst zu und trank ein gut gekühltes Schwarzbier – anschließend ging zu Bett. Auf Sicherheitsstufe 2 flog das Schiff nur mit der Antriebskraft aus den 12 Ionentriebwerken. Dadurch würde es eine lange Reise nach Hause werden.
Bald war er eingeschlafen und träumte von einem Urlaub auf den marsianischen Mallorca – Kolonien. Dadurch bemerkte er auch nicht mehr, dass sich der Computer erneut aushebelte und so fürchterlich verrechnete, dass ein schwerer Ausnahmefehler den anderen jagte. Wie ein wahnwitzig großer Dartpfeil flog die 1 Million Tonnen schwere „Xylene Pox“ dem Riesenplaneten entgegen. Genau ins Zentrum von Jupiters rotem Fleck.
Noch dazu mit 10% Rest des ultraschweren synthetischen Karboniums 3000 in seinen Tanks.
*

Noch zwei Wochen nach dem tragischen Unglück mit Goldfishs Mülltransporter blickten täglich über 12 Milliarden Menschen in den Himmel und erfreuten sich an der Jupitersonne.
Über tausend Wissenschafter erstaunten sich an der katalysatorischen Wirkung vom synthetischen Karbonium 3000. Durch dieses Planetendesaster stieg der Preis für echtes ultraschweres organisches Karbonium 3000, das unter den Polkappen in den arabischen Kolonien des Mars lagerte in schwindelerregende Höhen. Vielleicht steckte im echten, äußerst sicheren und nicht katalysatorischem organischen Karbonium 3000 noch mehr Möglichkeiten und Geheimnisse, als es im Synthetischen der Fall war, das seit diesem Unglück als Treibstoff für interplanetare Flüge verboten wurde.
Das Problem mit dem Service Pack 412 löste sich in den verbliebenen Müllraumern von selbst. Ein AIV (Artificial Intelligence Virus) drang 3 Wochen nach dem Unglück in die Systeme der Schiffe ein und öffnete alle von diesem Service Pack verschlossenen Sicherheitslöcher. Dadurch waren die Programme zwar nicht mehr so geschützt – aber funktionierten wieder – bis zum nächsten Update.
*
Epilog:
„Ultraschweres organisches Karbonium 3000 wurde am 23. April 2112 in drei Kilometer Tiefe unter den Polkappen des Mars entdeckt. Den wahren Wert dieses Kohlenstoff ähnlichen Metalls erkannte man erst Jahre später. Als es nämlich Wissenschaftern gelang, mit sogenannten raumkrümmenden CERN – Zentrifugen, diesem Stoff seine Masse zu entziehen (streng nach den Regeln des Higgs – Boson Extrahierungsgesetzes von Charles Gold –2103 a.D.). Das führte natürlich dazu, dass Karbonium 3000 als Raumschifftreibstoff, nicht zuletzt wegen seiner hervorragenden Reaktions- und Komprimierungsfähigkeit, verwendet werden konnte. Man stelle sich vor: Das Potential von 100000 Tonnen Treibstoff reduziert auf ein Gewicht von ein paar Gramm. Bereits 2152 war es als Treibstoff sowohl für den privaten interplanetaren Verkehr, als auch für den industriellen Raumtransport nicht mehr weg zu denken. Leider wusste man schon damals um die Begrenztheit der Karbonium 3000 Ressourcen auf dem Mars. Deshalb bemühte man sich erfolgreich, diesen Stoff auch Synthetisch her zu stellen. Doch hatte dieses Material fatale Nebeneffekte. Das größte Unglück ereignete sich am 25. Juni 2182, als das Mülltransportschiff „Xylene Pox“, geflogen von Titus Goldfish, auf dem Jupiter abstürzte und Karbonium 3000 den Riesenplaneten in eine Sonne verwandelte. Seitdem vermuteten die Wissenschafter, dass Karbonium 3000, die Higgs – Teilchen – auch bekannt als „Teilchen Gottes“ - und die dunkle Materie ein Triumvirat bildeten, das es zu erkunden und erforschen galt.
Als dann ab 2263 neue preisgünstigere und bessere Antriebe für den interplanetaren Verkehr auf den Markt kamen, geriet Karbonium 3000 wieder in Vergessenheit. Heute zeugt nur mehr ein 30 Kubikmeter großer schwarzer Quader aus Karbonium 3000 vor dem Museum für interplanetare Zeitgeschichte nahe Neu Alexandria auf dem Mars von der goldenen Zeit des „ultraschweren organischen Karboniums 3000“.
Diogenes Lux, Zeitreisender, 1. April 356 n.Chr.“ Zitat Ende......

(Anm. d. Autors: Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen, Werkstoffen, bekannten Produkten oder Druckwerken wären rein zufällig, unbeabsichtigt und nicht im Sinne des Autors. Des weiteren wünscht der Autor allen Wissenschaftern viel Erfolg bei der Erforschung des Higgs -Teilchens!)

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Johannes Schlögl).
Der Beitrag wurde von Johannes Schlögl auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Johannes Schlögl als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Emerichs Nachlass von Axel Kuhn



„Emerichs Nachlass“ ist ein Krimi, der im Jahre 1985 in Stuttgart spielt, vor dem Hintergrund des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak, und in einer Zeit, in der sich auch noch die Stasi von der fernen DDR aus einmischen kann.

Emerich war ein Freund Hölderlins, und in seinem Nachlass könnten Briefe liegen, die den Dichter in einem neuen politischen Licht erscheinen lassen. Doch kaum sind Stücke aus diesem Nachlass aufgetaucht, liegt ihr Besitzer in seinem Schlafzimmer tot auf dem Boden. ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Science-Fiction" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Johannes Schlögl

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

„Olé!" Torero von Johannes Schlögl (Satire)
"Strg+Alt+Entf" von Johannes Schlögl (Science-Fiction)
Der Ort am Rand von Heinz Säring (Erinnerungen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen