Sylvia Knitel

Der letzte Schrei

William saß in seinem Sessel und starrte auf das flimmernde Bild seines Fernsehers. Es lief das Übliche um diese Uhrzeit - Talkshows. Um ihn herum stapelten sich Zeitschriften und verdorbenes Essen. Er konnte nicht aufstehen, nichts tun – nichts machen. Das kleine Haus war in einem katastrophalen Zustand. Sein Briefkasten quoll über und Zeitungen stapelten sich.
Wann er sich das letzte Mal umgezogen oder geduscht hatte, wusste er nicht. William war wie gefesselt, starrte weiter auf das Bild, was in stetiger Abfolge wechselte. Der Geruch war bestimmt unerträglich, zumindest  für jemanden, der ihn nicht gewohnt war. Nicht so wie William, der hier schon eine Ewigkeit lebte. Um ihn herum war es still, bis auf das Summen der Fliegen und das kratzende Geräusch des Fernsehers. Es war auch schon lange kein Besuch erschienen, kein Telefonanruf, keine Sms. Er wusste es nicht, vielleicht hatte er das Telefon nur einfach überhört. Der Computer lief auch noch, selbst ihn hatte er nicht ausgeschaltet. Sein Genick war sowieso steif und William konnte in diese Richtung nicht sehen. Ob ihn jemand angeschrieben hatte in dem Internetportal?
William war erst sechsunddreißig. Nach dem Tod seines Vaters und des geliebten Hundes ist ihm einfach alles entglitten. Er ließ sich hängen. Die Lethargie hielt ihn fest umschlungen, drückte ihn nieder. Alles schien im Zeitraffer zu laufen und durch das stetige  Ankämpfen wurde er  nur noch müder. Nein, hier in seinem Sessel ging es ihm gut. Es war seine Welt, sein Reich. Er dachte oft und viel nach, über viele Dinge. Beinahe hätte er sich sogar bewegt, um das Rollo herabzulassen, da die Sonne ihn blendete. Er wägte aber sorgfältig das Für und Wider ab, bis er zu einem Entschluss kam, aber war da die Sonne schon hinter dem Horizont untergegangen.  Eigentlich war es da schon fast Nacht. Leise hörte er, wie eine Gruppe an seinem Haus vorbei ging und eine Frau fröhlich lachte. Es war schon lange her, als William mal so herzhaft gelacht hatte. Er konnte sich genau erinnern an den Moment. Es war ein  lauer Sommertag. Sein Vater saß im Garten und rauchte gemütlich seine Pfeife und Sammy, sein Hund, tobte herum. Bis plötzlich durch ein Krachen der Stuhl unter seinem Vater zerbrach. Natürlich lief er schnell hin und halft seinem Vater, aber das Bild war einfach herrlich wie der Vater mit Pfeife und Zeitung nach hinten kippte und Sammy erschrocken wegsprang. Wehmütig dachte er an diese Szene. Es war kurz vor dem...dem Unfall.
Wie er die Beiden vermisste. Sein Herz schmerzte und in ihm ballte sich ein bitteres Gefühl von Wut und Trauer. Es bäumte sich in ihm auf, er wollte schreien, aber kein Ton drang über seine Lippen. Ein stummes Schreien verhallte in seinem inneren, so wie immer. Er wollte, doch er tat es nicht. Vielleicht hätte es ihm einmal ganz gut getan einfach zu schreien, doch er war nicht so. Was würden andere von ihm denken, wenn er plötzlich einfach schrie ohne einen wichtigen Grund dafür zu haben. Eigentlich war es doch ein Grund, aber auch ein wichtiger? Er starrte weiter auf seinen Fernseher. Es liefen gerade die Nachrichten, wieder ein Amoklauf und wieder interviewten die Reporter die Nachbarn. Wieder hieß es: „ Och, der war eigentlich – nett.“
Weiter ging es mit den üblichen Naturkatastrophen und dem kommenden Wetter für die nächsten Tage. William war gespannt, was wohl danach für ein Film lief. So verging eigentlich jeder seiner Tage. Er saß und starrte auf den Fernseher, sein bester und teuerster Freund. Er zeigte ihm die Außenwelt, ungeschönt, unverschleiert, aber auch Märchen, die ihn zum träumen brachten. Er ließ ihn die unerfüllte Liebe spüren, die Sehnsucht nach einer Partnerin, nach Nähe – dem Gehalten werden. Manchmal auch einfach nach den Worten : „Keine Angst, das wird schon wieder, wir bekommen das schon hin.“ Sie hätten ja nicht einmal von einer Frau stammen brauchen, einfach von einem Freund, aber da war nur das Ich. Das Ich hallte von seinen vier Wänden auf ihn zurück, machte ihn traurig. William hatte Freunde, aber sie meldeten sich nicht. Warum meldeten sie sich nicht? Die Gedanken schweiften ab, weitab von dem Film, der gerade lief. Sie glitten aus dem Fenster, hinein in die Nacht und erträumten sich ein anderes, ein ''normales'' Leben mit allen Sehnsüchten, die er hatte. William wurde gestört von einem Flimmern, nein, es kam von seinem Fernseher. Nein, das durfte jetzt nicht sein, dass er kaputt ging. Die Bilder verschwammen und bogen sich. Ein Entsetzen raunte in ihm. William war starr. Es pulsierte in ihm, aber sein Freund fing sich noch einmal. Vielleicht lag es ja an dem Anschluss oder an dem Wetter. Wie spät war es eigentlich und welches Datum war heute, welcher Wochentag? William war alles entglitten. Warum störte es ihn gerade jetzt in dem Moment, dass er sich nicht erinnern konnte, was gerade war. Er verwarf diese Eingebung wieder und wenn er gekonnt hätte, dann hätte er womöglich darüber den Kopf geschüttelt. Wie lange saß er jetzt eigentlich schon so? Hatte er etwas gegessen, getrunken? Bestimmt, denn er fühlte weder Hunger noch Durst, also wird er sich verpflegt haben. Er konnte sich nur nicht mehr genau daran erinnern, so wie an viele Dinge, die er tagsüber tat. Nur die Vergangenheit war lebendig und erstrahlte in tausend Farben - seltsam eigentlich. Er konnte sich an schöne Momente und an die dunklen erinnern, aber nicht an das, was er heute oder gestern getan hatte. William schaute weiter auf  die Bilder, die sein Freund ihm zeigte. Er erhellte auch das Zimmer, minimal, genau richtig. In diesen Momenten wurde es ihm noch klarer, dass es nur sie beide gab. Man sah nichts von dem Zimmer, nur das Programm und ihn.
Wieder wurde es morgen. Die Kinder, die zur Schule gingen machten den üblichen Lärm. Die Vögel waren emsig dabei zu zwitschern und Nester für ihren Nachwuchs zu bauen. Die üblichen Hupen erklangen von Händlern, die hier manchmal hielten, um Waren an den Mann zu bringen. Die Nachbarn hörte man, die in alter Gewohnheit die Straße fegten und plauderten. Mal wieder sich das Maul zerrissen über William und seinen Vorgarten, den verfallen Zaun, den Dreck vor seiner Haustüre. William störte sich  nicht daran, warum auch. Wann sollte er das auch alles machen? Er drehte sich ein-, zweimal und schon war es wieder Nacht. Eine nie enden wollende Schleife aus Zeitlupe und Zeitraffer wirkten auf ihn. Er konnte es sich selbst nicht erklären, aber er hatte sich vor einiger Zeit damit abgefunden. Nein, er blieb lieber hier, hier in seinem Sessel mit seinem Freund – seinem schwarzen Kasten. Aus heiterem Himmel fiel der Fernseher aus. Das Bild war schwarz – tot. Sein Freund war tot. Was war geschehen? Hatte er vergessen die Rechnungen zu begleichen? Nein, er hatte doch einen Dauerauftrag oder nicht? Er starrte in das schwarze Loch. Sein Universum war erloschen, nicht mehr existent. Er wusste nicht mehr wie lange er sein Unglück anstarrte. In das hässliche Gesicht, dass er schon so lange nicht mehr sah. Alles war, wie sein Freund, auf einmal erloschen – tot, wie seine Gedanken. Die Sonne zog ihre Bahn und schien bald hinter ihm in das Fenster hinein. Doch was er dann auf dem schwarzen, verstaubten Bildschirm sah, entzog sich seinem Fassungsvermögen. Sein Freund zeigte ihm die kalte Realität – sein Spiegelbild!
Nicht richtig, wie ein Spiegel, eher schemenhaft, aber genug um dem Wahnsinn zu verfallen.
In dem Sessel saß ein mumifizierter Leichnam. NEIN! Nein, das konnte nicht stimmen. Er dachte doch noch. Er blickte hinein und sah Augen, die ihn aus leeren Höhlen anstarrten. Verknöcherte Finger, die sich um die Fernbedienung klammerten. Haut, die in Fetzen herunter hing. Langsam blickte er an sich hinunter. William wollte nicht, konnte nicht, aber er musste. Er musste es wissen, ob sein Freund die 'Wahrheit sagte. Auf seinem Arm liefen Maden, fühlten sich wohl, fraßen ihn auf. Der Brustkorb platze auf und ein Schwall von ihnen überfluteten den Rest von ihm, klatschten auf den Boden – krochen weiter über den vermüllten Boden. Das konnte nicht sein, durfte nicht sein. Das war unmöglich. Er steckte in einem verwesenden Körper.
 
 
Und der Wind trug einen Schrei in die Welt, der von keinem gehört wurde. Doch in der Welt, in der die Alpträume zu Hause waren, entstand eine neue Geschichte. Eine Legende von einem Schrei der nur von den Toten vernommen werden kann.
 
©SylviaKnitel

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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