Emil Sommer

Dunkel


Ihr müder Blick schweift gelangweilt aus dem Fenster. Schneeflocken tanzen wie Derwische vom tiefgrauen Himmel, Kirche und Konditorei verschwommen auf einem unscharfen Fernsehbild.
 
Ein Seufzer. Nicht weit vom Pflegeheim entfernt wohnte Klara in den glücklichen Tagen in ihrem kleinen Haus gleich am Ortsanfang von Neumarkt an der Raab. Heute ein Künstlerdorf. Die strohgedeckten Häuser hat der Kulturverein gerettet. Zwei Kilometer vor der Grenze das Gasthaus. Jedes Jahr am Kirtag Schnitzel und Schweinsbraten und Tanz. Belangloses Plappern über banale Dinge. Damals redete jeder mit jedem, heute niemand mit niemandem. Für immer und ewig verstummt. Hört noch jemand zu?
 
Angenehm kühl war es im Sommer unter den riesigen Pappeln und Buchen, deren Kronen wie fürsorgende Hände ineinandergriffen. Die Straße führt nach Jennersdorf, schon damals ein böses Omen. Ihre Besucher mussten sich bücken, wenn sie die Küche betraten! Selbst der Bürgermeister, wenn er sie vor einer Gemeinderatswahl besuchte. Und an ihrem 80. Geburtstag mit einem riesigen Geschenkkorb.
 
Selbst das Haus ist eine Belastung für die Kinder. Werden sie es abreißen, wird die Mauer einstürzen?
 
Wie lange Klara starr aus dem Fenster schaut, weiß sie nicht. Eine Stunde, länger? Die Zeit spielt einen Streich, wenn sie aus Langeweile stillsteht. Ein Hundeleben! Wirklich? Frauchen und Herrchen kraulen ihnen den Nacken.
 
Klara lächelt. Wie immer an trostlosen, finsteren Tagen flieht sie in die Vergangenheit. Sie sitzt hinter dem Haus gut versteckt vor den neugierigen Blicken und dem boshaften Geschwätz der Nachbarn. Ein beschaulicher Vormittag, nur eine schwarze Katze schleicht mit zitternden Barthaaren an ihr vorbei. Eine Schwalbe zieht wie ein flüchtiger Gedanke in der angenehmen Brise über ihr dahin. Dröhnende Stimmen des Nachbarstreites stören die Ruhe. Hammerschläge auf glühend Eisen. Klaras Tochter Margit kommt vom Einkauf zurück, bald ist Mittag. Bevor sie das Mittagessen zubereitet, blättert Klara in der mitgebrachten neuen Illustrierten. Die Katze trägt einen toten Vogel im Maul.
 
Die Schwester bringt Wurstsalat und schaltet mechanisch den Fernseher an. Klaras Erinnerung zerplatzt in der trostlosen Gegenwart. Jeden Tag wird sie um sechs Uhr geweckt, isst das Frühstück. Vor dem Mittagessen döst sie ein. Der Aufenthalt im Gemeinschaftsraum bietet etwas Ablenkung, bevor der Tag mit dem Abendmahl und der seichten Unterhaltung des Fernsehprogrammes endet. Heute hat sie mit den anderen Alten gesungen! Die alten Lieder waren ihr vertraut, Tränen flossen. „Leise sinkt der Abend nieder und das Tagwerk ist vollbracht!“ Das singen sie bei den Totenwachen in der Leichenhalle. Lauter ernste Lieder.
 
Was nötig ist, kommt zu ihr. Die Krankenschwester, der Teller. Auch der Rollstuhl wird einem geschoben. Einmal im Monat kommen die Kinder auf Besuch, der Herr Pfarrer einmal in der Woche. Sind doch alle nett hier. Im Notfall ist nicken immer gut. Sie ist zu müde, um zu weinen.
 
„Hast du Angst vor dem Altwerden?“, fragte vor Ewigkeiten eine Freundin. „Nein!“, antwortete Klara überzeugt. Wie hätte sie damals den künftigen Albtraum ahnen können?
 
Der frische Schnee beschwört Erinnerungen herauf. Dar war doch was? Früher! „Ach ja! Weihnachten und die um den Festtagstisch versammelte Familie und deren leere Versprechungen.
 
Ihr Abendessen steht unberührt auf dem kleinen Tisch. Klara hat keinen Hunger, man füttert die Pfleglinge mit allen möglichen Medikamenten voll. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ Der Spruch aus dem Paulusbrief. Korinther glaubt Klara. Jemand der ihr zuhört, danach begehrt Klara.
 
Am Ende des Jahres wird es früh dunkel. Es wäre schön, wenn die Flocken auch ihre Einsamkeit begraben könnten.
 
Laute Stimmen auf dem Gang. Das Pflegepersonal schreit immer, wenn der Stress unerträglich wird. Die Schwestern tun ihr leid. „Sie haben es nicht leicht mit uns.“ Hoffnungslosigkeit verführt zum Nörgeln. Die Anstaltsleitung spart beim Personal, sie denken gewinnorientiert, der Mensch Mittel zum Zweck.
 
Vor der Kirche läuft ein Mann mit hochgestelltem Mantelkragen vorüber. Klara beneidet ihn, er kann hingehen, wo er will. Niemand hindert ihn daran. Sie, eingesperrt in einer 4 x 3 Meter großen Zelle, fällt in Depression.
 
Klara lenkt den Rollstuhl ans Bett. Schlaf wird ihr guttun. Eine einsame Träne kullert über ihre runzelige Wange, während draußen der Schnee das Land unter einer weißen Leichendecke verhüllt.
 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.08.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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