Anna Jansen

Keynya- Die Träume des Nebelberges (3)


Gjerelo, Serois Sohn

 
Eine warme Wolldecke war das erste, was Keynya wirklich bewusst wieder wahrnehmen konnte. Kurz darauf hörte sie das vertraute Klappern von Töpfen und kleinen Schälchen, das Knistern von Feuer und sachte Schritte, die ihren Schlaf nicht stören wollten.
War alles nur ein Traum gewesen?
Vorsichtig reckte sie ihre Arme und Beine, die äußerst angespannt waren.
Das ist bloß Zufall, dachte sie, ich habe einfach schlecht geschlafen, das ist alles.
Trotzdem wollte sie ihre Augen noch nicht wieder öffnen, aus Angst, immer noch in einem Albtraum zu sein. Stattdessen versuchte sie zu riechen, ob sie zu Hause war.
Holz, leicht feuchte Erde, Schnee und der unverkennbare Geruch von verschiedenen Heilkräutern. Innerlich beruhigte sich Keynya wieder und wollte erneut einschlafen, doch ein Geruch kam ihr plötzlich seltsam vor: das Essen. Sie kannte jedes Rezept ihrer Mutter und dieses roch definitiv anders. Es war eine Suppe mit äußerst seltsamen Zutaten. Saldra kochte zwar manchmal Suppen, aber wenn überhaupt nur süße Suppen, doch diese roch würzig, beinahe scharf.
Ohne den geringsten Laut zu verursachen wandte sie ihr Gesicht dem Feuerschein zu und öffnete langsam und vorsichtig die Augen.
Am Feuer saß ein junger Mann, der in einer Schale Kräuter zerrieb und mit anderen Zutaten zu einer Salbe verarbeitete. Ab und zu rührte er die Suppe um und gab noch verschiedene Pflanzen hinein.
Keynya spannte sich wieder an, um, wenn nötig, so schnell sie konnte wegzurennen. Andererseits jedoch hatte anscheinend dieser Fremde sie hierher gebracht und sie versorgt, während sie vor Kälte und Erschöpfung geschlafen hatte.
Schließlich beließ sie es dabei, einfach so zu tun, als ob sie schlafen würde. Sie schloss die Augen, atmete sehr langsam und ruhig und hörte aufmerksam auf alles, was passierte.
Nach einiger Zeit, in welcher der Fremde bloß weiter im Topf rührte und in der Schale verschiedene Sachen zerkleinerte, hörte sie das Verrücken eines Stuhles und Schritte, die auf sie zu kamen. Ungewollt fing Keynya an schneller zu atmen und blinzelte vorsichtig zum Feuer, dessen Schein nun durch einen großen Schatten verdeckt war. Es war hoffnungslos, etwas erkennen zu wollen, weil das Licht viel zu schwach war.
Etwas weiches und leicht feuchtes berührte ihr Gesicht.
Trotz der Befürchtungen, die sie hatte, schlug sie die Augen auf und sah direkt in das Gesicht des Fremden. Ohne direkt in ihre Augen zu blicken tupfte er weiter ihr Gesicht mit einem feuchten Tuch ab, verteilte Blätter darauf und drückte sie behutsam fest.
„Ich dachte schon fast, du wachst gar nicht mehr auf...“, sprach er leise und wirkte dabei sichtlich erleichtert. Ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Er war jünger als Keynya vorerst angenommen hatte, vielleicht siebzehn, aber keinesfalls schon älter als zwanzig Jahre. Sein Charakter war gutmütig, das spürte Keynya intuitiv, und auch seine Stimme war freundlich und zeigte keinerlei schattige, unklare Hintergründe, wie sie es bei Tenda hatte fühlen können. Seine klaren, braungrauen Augen verrieten Sorge, Angst und Unsicherheit, doch keine Spur von Bosheit, Hinterlist oder anderen üblen Absichten.
Eine wohltuende Ruhe breitete sich in ihr aus.
„Wer bist du?“, fragte sie. Ihre Stimme war beinahe nicht zu hören und ihr Hals fühlte sich immer noch so an, als würden Kristalle in ihm festsitzen.
Während der junge Mann ihr eine mit seltsamer Flüssigkeit gefüllte Schale gab und ihr half aus dieser zu trinken, antwortete er: „Das ist jetzt nicht so wichtig. Du musst erst wieder gesund werden, dann werde ich dir alles erklären, Keynya.“
Sie fing an zu husten. „Woher kennst du meinen Namen...?! Wo sind wir hier...?!“
„Du bist in Sicherheit. Schlaf noch etwas und erhole dich. Wir reden später.“ Er reichte ihr erneut die Schale, die sie nun von selbst völlig leer trank. Das Kratzen im Hals wich einem warmen, weichen Gefühl mit einem süßen Nachgeschmack. Die Eiskristalle wurden scheinbar durch diese Flüssigkeit aufgelöst, während eine sanfte Wärme sich in ihr ausbreitete und ohne sich gegen die wiederkommende Müdigkeit zu wehren, ließ sie sich ins Bett fallen, zog die Decke bis ans Kinn und war augenblicklich eingeschlafen.
Sie war in Sicherheit.
 
Eine wohltuende Wärme umfing Keynya während sie schlief und kein Traum lenkte ihren stark überstrapazierten Körper von seiner Selbstheilung ab.
Als sie erwachte, war der Raum leer. Die Suppe kochte noch etwas über der fast verglimmten Glut und verbreitete ein würziges Aroma im Raum. Überrascht erkannte sie neben dem Bett einige bunte Kissen und Decken, wie die, die sie auch auf den Wagen von fahrenden Händlern gesehen hatte, doch noch mehr als diese überraschte sie ein riesiges Regal voller dicker Bücher, das fast eine ganze Zimmerwand für sich einräumte. Vorsichtig krabbelte sie aus dem Bett, stolperte über das für sie viel zu große Nachthemd und landete sanft auf den wohl extra dafür ausgebreiteten, weich gepolsterten Kissen.
Ihr konnte hier wirklich nichts geschehen.
Die vielen Bücher behandelten hauptsächlich Pflanzen und ihre Wirkung, alte Geschichten und Legenden, manche waren sogar in anderen Sprachen geschrieben, sodass Keynya sich nur über die seltsamen Zeichen wundern konnte.
Einige Bücher jedoch waren eindeutig nicht normal. Ihre Einbände waren warm, schuppig, als würden sie leben. Ein warmer Hauch wehte ihr entgegen, als sie ein Buch öffnete. Das Papier war faserig und mit feinen Linien durchzogen, während die Schrift scheinbar aus dem Nichts erschien, sich veränderte und von innen heraus pulsierte. Es waren magische Bücher, die Zaubersprüche enthielten, erklärten woran man denken musste, welche Gefühle man empfinden musste, um einen bestimmten Zauber auszuführen. Keynya starrte wie gebannt in das Buch, streichelte die Seiten, unter denen sie das sachte Pochen fühlen konnte, und den rauen Einband, der anfing, sich in ihrer Hand zu bewegen.
Die Tür ging auf und mit einem erschrockenen Keuchen schlug das Buch von alleine seinen Einband zusammen. Keynya schaffte es noch sachte ihre Hand zwischen den weichen Seiten hervorzuziehen, dann verschmolz der Einband mit den Seiten zu einem warmen, doch nun festen, sich nicht mehr bewegenden Klotz.
Unter der Kapuze des dicken Fellmantels erkannte Keynya das überraschte Gesicht des jungen Mannes, der sie hergebracht hatte. Während er den Mantel auszog und aufhing, ließ er das Buch nicht aus den Augen.
„Ich wollte es mir nur ansehen...“, flüsterte Keynya und reichte es ihm. Vorsichtig drehte er es in den Händen und besah sich alle Seiten ganz genau.
„Man merkt, dass du eine Elfe bist.“ Er lachte sie freundlich an. „Bei normalen Menschen, öffnen sich diese Bücher nicht.“ Ein seltsames Geräusch, wie das gedämpfte Knurren eines Hundes, war plötzlich zu hören. „Ach ja… sie hassen es, wenn man sie Bücher nennt.“
Nahezu liebevoll sah er dieses Ding an, das nicht Buch genannt werden wollte, strich sanft über die rauen Oberfläche und fragte flüsternd: „Verzeihst du mir?“, währenddessen das erst beleidigte Knurren in ein zufriedenes Raunen überging.
Er stellte das schnurrende Ding wieder ins Regal. Für eine kurze Zeit erfüllte ein leises Gemurmel den Raum, da die anderen ‚Bücher’ scheinbar ins Raunen einstimmten und sich unterhielten.
„Ich glaub, sie reden über dich, Keynya.“
„Sie reden wirklich... Woher kennst du denn nun meinen Namen? Ich weiß, dass ich im Schlaf nicht rede. Das hat mir meine Mutter... gesa...“
Ihr Blick trübte sich unter den aufkommenden Tränen. Langsam, jeden Schritt bedenklich wackelig nach dem anderen setzend, ging Keynya zum Bett zurück und ließ sich darauf fallen.
„Mama ist tot.“ Das leise Piepsen ihrer Stimme war ihr vollkommen fremd. Noch nie war jemand, der ihr nahe stand aus ihrem Leben gerissen worden. Es war, als ob das Band, das ihr Leben zusammenhielt, an einer entscheidenden Stelle gerissen war, als würde sie am seidenen Faden über bodenlosen Tiefen hängen. Auch das Raunen der seltsamen Bücher verstummte.
Sie war so sehr in ihr Innerstes vertieft, dass sie nicht mal mehr merkte, wie ihr unbekannter Retter sich neben sie auf das Bett setzte. Ohne Überraschung oder überhaupt irgendetwas außer Verwirrung zu empfinden ließ sie sich gegen ihn fallen. Alles war still. Sie fühlte sich haltlos, einsam, verlassen.
Als sie wieder einigermaßen zu sich kam, fand sie sich in der Umarmung ihres Retters wieder, sich ihrerseits an ihn klammernd. Sie sah ihn direkt an.
„Ich mag Fremde nicht... die meisten zumindest...“ In seinen Augen lag etwas wie Mitleid und Trauer. „Wer bist du?“
„Ich habe Saldra sehr gemocht... Ich habe euch früher öfter besucht, als du noch kleiner warst, aber wahrscheinlich erinnerst du dich kaum noch daran...“ Seine Nähe kam ihr immer vertrauter vor. Seine Stimme und sein Aussehen erinnerten sie an jemanden... jemanden, den sie sehr mochte.
„Deine Augen kenne ich von irgendwoher...“
„Ich habe die Augen meines Vaters... die Augen deines Vaters...“ In ihrem Kopf sah Keynya einen Mann mit langen braunen Haaren, klaren grauen Augen und einem gütigen, immer leicht schelmischen Lächeln. Sie sah, wie er ihre Mutter in den Arm nahm und sie küsste. Ihr Vater? Eine Feuerkugel in seiner Hand, die nicht brannte. Ein Zauberer!
„Ich bin Gjerelo, Serois Sohn... und dein Halbbruder, Keynya.“
Jetzt erinnerte sie sich. Auch an den Jungen, der zusammen mit ihrem Vater immer zu Besuch kam. Ihren Bruder...
„Ich war immer in der Nähe und habe euch beobachtet. Als ich erfahren habe, was im Dorf passiert war, hab ich dich gesucht...“
„Aber du warst nicht im Dorf… woher wusstest du es dann?“
„Ich habe viel von unserm Vater geerbt. Auch ich bin ein Zauberer. Einer der Zauber, die ich benutze, sagte mir, dass ihr in Gefahr seid… aber als ich im Dorf ankam, war es schon zu spät…“ Er drückte sie sanft an sich, strich beruhigend über ihre Haare. „Es tut mir so leid, Keynya. Alles… es tut mir so unendlich leid.“ Nun fing auch Gjerelo an zu schluchzen. „Aber ich bin froh, dass ich dich gefunden habe. Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Verzeih mir… bitte, verzeih mir… dass ich mich freue, dich endlich wieder im Arm halten zu können.“
Keynya konnte nicht anders. All diese Gefühle, der ganze Tag hatte ihre Nerven völlig überlastet. Und nicht nur ihre. Sich gegenseitig festhaltend weinten die Geschwister, bis sie keine Tränen mehr hatten und erschöpft, aber friedlich einschliefen. Verbunden, Hand in Hand. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.08.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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