Patrick Rabe

Die dunkelste Stunde

Der Mörder erwachte vor Sonnenaufgang. Er erwachte jäh aus einem schrecklichen Albdruck. Er schoss kerzengerade im Bett auf, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der jedoch nicht über seine Lippen kam. Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es war schweißnass. Seine Hände verweilten bei seiner Stirn, hinter der beißende Kopfschmerzen pochten. Er konnte nicht fliehen, weder bei Tag, noch bei Nacht; weder im Wachen, noch im Schlaf. Immer sah er sie vor sich. Leichen. Zerrissene, zerfetzte, im Blutrausch hingemetzelte Leichen. Und wenn er sie vor sich sah, spürte er die Wonne, die Lust, zerstört zu haben, Leben vernichtet zu haben und zugleich spürte er den Ekel vor sich selbst, besonders vor der Tatsache, dass er diese Lust am Genital spürte, dort, wo man für gewöhnlich sexuelle Empfindungen hat. Erregte ihn das Morden, als wäre es Sex? Sex, der ihm fehlte, den er entbehrte? Denn er war immer noch Jungfrau. Eine männliche Jungfrau von fünfunddreißig Jahren.
 
Der Mörder wälzte sich aus dem Bett, einem etwas schäbigen Hotelbett und zog die Nachttischschublade auf. Er nahm eine Packung Diazepam heraus und wog sie in seiner Hand. Sollte er eine Tablette nehmen, die seinen Kopf mit süßlichem Nebel füllen und ihn vielleicht von diesen schrecklichen Bildern befreien würde? Nein, keine Tablette. Heute Nacht musste er einen kühlen, wachen Kopf behalten. Denn heute war die Nacht, in der er sich endgültig von diesem Albtraum befreien würde.
 
Der Mörder stand auf. Er ging zum Fenster und zog die Gardine beiseite. Das Fenster wies auf eine Gasse mit Kopfsteinpflaster und eine Neonreklame vom gegenüberliegenden Gebäude fiel violett auf-und abblendend in sein Gesicht. Das gegenüberliegende Gebäude war ein Bordell. Als sein Vater das gesehen hatte, hatte er gesagt: „Sohn, Sohn, in welcher Gegend hast du uns denn hier untergebracht!“ Ja, ja, sein Vater war ein ehrbarer Bürger, oder besser Kleinbürger. Dem war die Halbwelt suspekt. Aber der Mörder hatte gewusst, was er tat, als er für sich und seinen Vater hier zwei Zimmer bestellte. Er wollte sich jeden Zoll seines Scheiterns hier noch einmal vergegenwärtigen, damit ihm das, was zu tun war, leichter fiel.
 
Seine Mutter. Seine Mutter war eine ehrbare Frau gewesen. Immer bedacht, ihren Haushalt und das Ansehen ihrer kleinen Familie rein zu erhalten. Porentief rein. Seine Freunde hatten bei Besuchen immer gesagt: „Hier sieht’s ja aus wie im Möbelhaus!“ Ihm war das peinlich gewesen. Ständig war seine Mutter mit dem Staubtuch zur Stelle und putzte hinter ihm und seinem Vater her, wischte Tische und Schränke mit Desinfektionsmittel ab, nahm jedes Buch, und jeden Gegenstand, der herumlag, sofort auf und stellte ihn an seinen Platz. Außerdem musste immer alles streng symmetrisch angeordnet sein. Veränderte man die Symmetrie, bekam seine Mutter einen Schreikrampf. Und eben so sauber, wie sie ihre Wohnung hielt, hielt sie auch die bürgerliche Fassade ihrer Familie. Den alkoholkranken Onkel, die schizophrene Cousine gab es nicht. Es wurde einfach nicht über sie gesprochen. Sie verheimlichte auch vor ihren Verwandten und Bekannten, dass ihr Sohn ein Chaot, ein Mensch mit ausgeprägtem Hang zur Unordnung war und zudem noch manchmal die Schule schwänzte. Als der Mörder einmal ein Mädchen mit nach Hause gebracht hatte, war sie immer wieder in sein Zimmer gekommen, unter dem Vorwand, etwas zu suchen. Irgendwann war das Mädchen entnervt gegangen. Seine Mutter hatte den Mörder an ihren Busen gedrückt und gesagt: „Nicht wahr, für die Sache mit den Mädchen ist es bei dir noch viel zu früh!“
 
Aber all das spielte nun keine Rolle mehr, denn er hatte sich seiner Mutter entledigt. Sauber, und ohne Blut zu vergießen.
 
Blieb sein Vater.
 
Sein Vater war stets zu weich gewesen, um seiner Frau Stand zu halten. Er war ein guter Mensch, der gerne Konflikten aus dem Weg ging. Er ordnete sich und seine Träume komplett den bürgerlichen Vorstellungen seiner Frau unter. Dem Mörder hatte er in einer stillen Stunde erzählt, dass er als junger Mann in einer Laientheatergruppe gewesen war, und wie gerne er diesen Weg weiter verfolgt hätte. „Aber deine Mutter hatte schon ganz recht. Schauspiel ist brotlose Kunst!“ Dachdecker war sein Vater geworden, denn Proletarier sind unverdächtig. Unverdächtig, brodelnde Gefühle und große Leidenschaften in ihrer Brust zu hegen. Im Keller hatte sein Vater eine Modelleisenbahn gehabt, die er immer nach Feierabend aufsuchte. Sie fuhr durch eine Berglandschaft, auf die er die Buchstaben HOLLYWOOD montiert hatte. Der Mörder hatte eine stille Bewunderung für die Modelleisenbahn seines Vaters gehabt, denn sie gab ihm etwas Autonomes. Irgendwann wurde es Mutter aber zu bunt, dass Vater jeden Abend stundenlang in den Keller verschwand, und sie legte seine ‚Spielzeit‘ auf eine halbe Stunde pro Abend fest. Vater folgte ohne Murren. Eines Abends gab es wegen der Anlage einen handfesten Streit. Mutter hatte den Schriftzug ‚HOLLYWOOD‘ entfernt und weggeschmissen. Vater protestierte. Der Mörder hörte, wie Mutter den Vater im Keller in Grund und Boden schrie. Dann kam sie alleine wieder nach oben, ging ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Unbemerkt schlich sich der Mörder in den Keller. Sein Vater saß über der Modelleisenbahnanlage und schluchzte. Kurz hatte der Mörder den Impuls, zu ihm zu gehen und den Arm um ihn zu legen, aber dann war eine namenlose Verachtung wie ein brennendes Gift in ihm aufgestiegen, ein Ekel vor der Schwachheit seines Vaters, und er war leise wieder die Treppe hochgeschlichen.
 
Die Modelleisenbahn verschwand aus dem Keller und Vater saß nun jeden Abend bei Mutter auf dem Sofa, schaute sich mit ihr irgendeine Volksmusiksendung an und schwieg. Sein Schweigen wurde von Jahr zu Jahr mehr, man konnte sagen, er verstummte. Und in dem Mörder wuchs die Verachtung für seinen Vater. Zumal er merkte, dass sich dessen Schwachheit wie ein tückischer Virus auf ihn vererbt hatte. Aber er hatte zu dieser Schwachheit noch etwas anderes. Eine ungezügelte Leidenschaft und den brennenden Wunsch, Künstler zu werden.
 
Mutter münzte die Wünsche ihres Sohnes natürlich gleich ins bürgerliche um. Als er ihr kundtat, Schriftsteller werden zu wollen, sah sie ihn prüfend über den Rand ihrer Brille an und sagte: „Aha, du interessierst dich für Bücher? Du wirst Buchhändler!“ Der Mörder maulte innerlich, fing aber dennoch eine Buchhändlerlehre an. In der Buchhandlung stellte er sich denkbar ungeschickt an, es erwies sich, dass er keinerlei Geschäftssinn hatte und zudem die Kunden durch sein mürrisches Aussehen und gereiztes Auftreten vergraulte. Als er einmal versehentlich einen Ständer mit Postkarten umstieß, hatte der Buchhändler dies zum Anlass genommen, ihm zwanzig Euro in die Hand zu drücken und seine Lehre für beendet zu erklären. Der Mörder verließ stoisch das Geschäft. Es war ihm schleierhaft, warum er gescheitert war.
 
In der darauffolgenden Nacht war der erste Mord zu ihm gekommen. Er ging wie gewohnt zur Arbeit, grüßte seinen Chef und seine Mitangestellten und begann die Arbeit. Dankenswerter Weise bestellte ihn der Chef bald in sein Büro. Der Mörder setzte sich ihm gegenüber. „Sehen sie, Herr M.“, begann sein Chef, „Einige Kunden haben sich über die Dali – Bildbände beschwert, die hätten so scharfe Seiten, dass man sich daran die Finger blutig schneidet.“ „Ach ja“, fragte der Mörder interessiert. „Geben sie mir doch einmal so ein Buch!“ Der Buchhändler griff hinter sich und holte einen prachtvollen, großformatigen Dali-Band hinter seinem Rücken hervor. Der Mörder nahm ihn zur Hand und blätterte darin. Plötzlich merkte er einen stechenden Schmerz an seinem Daumen. Er hatte sich tatsächlich geschnitten. Vor sich hin sinnend ließ er das Blut auf die Seiten des Buches tropfen, die sich langsam rot einfärbten. Der Anblick des Blutes berauschte den Mörder. Er empfand ein lustvolles Brennen in seiner Brust, das in den Bauch wanderte und schließlich zwischen seinen Lenden anlangte. Er spürte, wie sich sein Genital aufrichtete. Und da wusste er endlich, was seine Bestimmung war. „Was machen sie da?“, rief der Buchhändler mit spitzer, pikierter Stimme: „Sie ruinieren eines unserer teuersten Bücher!“  Der Mörder grinste: „Chef, dieses Buch ist für den Verkauf völlig ungeeignet. Dieses Buch ist lebensgefährlich.“ „Reden sie keinen Unsinn, M.“, fiepste der Chef. „Das ist kein Unsinn“, sagte der Mörder ruhig, riss eine Seite aus dem Dali-Band und schnitt mit der scharfen Kante den Hals seines Chefs durch, bis zur Wirbelsäule. Der Kopf des Buchhändlers klappte zur Seite und Blut sprudelte aus seinem Hals auf den Schreibtisch. „Nun ja“, grinste der Mörder. „Dann wollen wir mal nicht so sein.“ Mit einer erstaunlich geübten Handbewegung riss er den Kopf des Buchhändlers ab und warf ihn in einen Papierkorb. Dann packte er den zusammensackenden Körper bei den Beinen und verteilte das aus dem Hals laufende Blut im ganzen Büro. Der Mörder befühlte seine Hose. Sie war feucht. Dies war sein erster Mord gewesen.
 
Der Mörder wischte sich über die Augen, in die immer noch die violette Neonreklame des Bordells fiel. Jetzt war keine Zeit, in Erinnerungen zu schwelgen, denn es waren mit den Jahren viele Morde geworden. Und er ekelte sich vor sich selbst. Er hatte alle Menschen umgebracht, die ihm irgendwie in den Weg gekommen waren. Chefs, Nachbarn, Lehrer, sogenannte Freunde, die ihn hintergangen hatten, und man war ihm nie auf die Schliche gekommen. Er widerte sich selber an. Er war pervers, verrückt. Und er war genau so ein Versager wie sein Vater. Denn er wusste mit dem Brennen in seiner Brust, mit dem Wunsch, Künstler zu sein, nichts anzufangen, als ein kunst-und phantasievoller Mörder zu sein. Er musste es diese Nacht tun. Die Ursache seines Versagens endgültig ausradieren. Seinen Vater. Er spürte ein Würgen im Hals und eine plötzliche Übelkeit im Magen. Woher kam das? Er war doch ein routinierter Mörder. Aber dieser eine Mord, der an seinem Erzeuger, war schwieriger zu bewerkstelligen als alle anderen. Es war Sympathie, die er für seinen Vater plötzlich spürte. Mitleid. Vielleicht sogar Liebe? Nein! Er musste diese Emotionen niederkämpfen! Er musste es heute Nacht tun, seinen letzten, den endgültigen Mord begehen. Er musste irgendeine Erinnerung finden, die diesen Mord rechtfertigen würde.
 
Svetlana. Dieses schöne Mädchen mit den nussbraunen Haaren und dem samtweichen russischen Akzent. Er hatte sie nicht töten wollen. Er hatte sie geliebt. Sie war Straßenhure gewesen, und sie stand immer in der Nähe des Krankenhauses, wo er damals arbeitete, als Hilfskrankenpfleger, als könne er sich mit seiner weißen Arbeitskleidung und mit der Tatsache, dass er hier Menschen half, von seiner Perversion reinwaschen. Stets hatte er sie auf dem Nachhauseweg an der Straßenecke stehen sehen. In ihren Augen leuchtete ein trauriges Feuer. Eine ähnliche Leidenschaft, die auch er teilte, musste in ihr wohnen. Wann immer er in ihre Augen sah, sah er auf den Grund ihrer Seele. Er verliebte sich Hals über Kopf in dieses schöne Mädchen, sie rührte ihn tief, und er beschloss, ihr zu helfen, sie zu befreien aus dem Milieu, in dem sie steckte.
 
Und so war er eines Tages mit ihr mitgegangen auf ein schäbiges Zimmer, wo ein Bett unter einer roten Glühbirne stand. Sie stand ihm gegenüber, zog ihren Overall und ihre Stiefel aus. Der Mörder starrte auf ihre schwarzen Strumpfbänder. „Ich heiße Svetlana.“, sagte das Mädchen forsch. Sie mochte neunzehn oder zwanzig sein. ‚Svetlana‘ – das war also der Name seiner Angebeteten! „Du hast wohl noch nie `ne nackte Frau gesehen!“, stellte Svetlana autoritär fest. „Und bei einer von uns auf dem Zimmer warst du wohl auch noch nie!“  Der Mörder schaute verschämt zu Boden. Der ruppige Ton seines wunderbaren Mädchens wurmte ihn. „Also!“, sagte Svetlana, „Was willst du machen?“ Eigentlich hatte der Mörder rufen wollen: ‚Dich aus diesem Sumpf befreien, mit dir fliehen bis ans Ende der Welt und für immer mit dir glücklich sein!‘ Aber er stockte und würgte ein „Mit dir schlafen!“, hervor. Svetlana sah ihm unverwandt in die Augen. „Ficken heißt das bei uns! Also du willst ficken! Das ist teuer. Kostet zweihundert Euro. Blasen ist billiger – hundert Euro. Und das billigste ist wichsen, das kostet dich nur fünfzig Euro.“ „Na dann…wi…wichsen!“, stammelte der Mörder. Dieses Wort auszusprechen, machte ihm zu schaffen, seine Erziehung verbot ihm eine solche Sprache streng. Svetlana hielt fordernd die Hand hin. Der Mörder kramte in seiner Manteltasche und holte sein Portemonnaie hervor. Umständlich entnahm er ihm fünfzig Euro und gab sie Svetlana. Diese steckte sie in ihre Matratze. „Okay, leg dich aufs Bett!“, sagte sie mit einem unwillkürlichen Gähnen. Zögernd warf der Mörder seinen Mantel in die Ecke und tat, wie ihm geheißen. Svetlana kniete sich breitbeinig vor ihn und knöpfte seine Hose auf. Langsam begann sie, sein Genital zu massieren. Der Mörder zitterte. Was tat er hier? „Musst doch nicht zittern!“, grummelte Svetlana, „Ich fress dich ja nicht auf!“ Der Mörder schloss die Augen und ergab sich in sein Schicksal. Ein toller Retter war er! Nach dieser Nummer würde er bei seinem Mädchen für immer unten durch sein. Aber er beschloss seufzend, die Tatsache, dass sie ihn befriedigte, wenigstens zu genießen. Sie massierte unaufhörlich sein Genital, aber es wollte ihrer Hand nicht zu Willen sein, es blieb schlaff und kraftlos. „Ach was?“, grunzte Svetlana gereizt, „Auch noch impotent, was? Da schrubb ich und schrubb ich und was macht dein kleiner Willi? Nüscht! Garnüscht! Bleibt klein und schrumpelig!“ „Ja“, murmelte der Mörder kleinlaut, „Es hat wohl keinen Sinn!“ Svetlana sprang vom Bett, stellte sich am Kopfende auf und keifte: „Dann verschwinde, du Milchbubi! Geh doch zu Mami!“ Der Mörder zog sich wortlos an und verließ Svetlanas Etablissement. Tief im Innern fühlte er das Scheitern, fühlte er, dass er seines Vaters Sohn war.
 
In der darauffolgenden Nacht kam abermals ein Mord zu ihm. Er ging wieder nach dem Dienst zu der Straße, wo Svetlana stand und überredete sie, es noch einmal mit ihm zu versuchen. Als sie wieder in Svetlanas Zimmer unter der roten Lampe standen, sagte er zu ihr: „Weißt du, warum das gestern nicht geklappt hat, das ist weil…ich steh auf Fesselspiele!“ „Du willst, dass ich dich fessel?“, fragte Svetlana. „Nein!“, antwortete der Mörder auftrumpfend, „Ich will dich fesseln!“ „Okay!“, raunzte Svetlana, „Aber das kostet extra. Dreihundert Euro mindestens.“ „Kein Problem“. Mit einer souveränen Geste holte der Mörder das Portemonnaie hervor und drückte Svetlana das geforderte Geld in die Hand. Sie ging zum Bett und steckte es in die Matratze. Dann holte sie Handschellen hervor. „Hier ist der Schlüssel. Merk dir bloß, wo du ihn hintust!“ Der Mörder fesselte Svetlana mit den Handschellen an einen Bettpfosten. Dann zog er ihr ihr Strumpfband aus und leckte über ihr Bein. „Naaa?“ lachte Svetlana, „Bist ja ein ganz Böser, mh?“  „Ja“; sagte der Mörder mit genüsslicher Stimme, „Ich bin ein ganz Böser.“ Langsam schlang er Svetlana das Strumpfband um den Hals und zog es zu. „He, was machst du da!?“, krächzte die Hure, „Du erwürgst mich ja!“ „Ja, exakt das tue ich!“, entgegnete der Mörder mit einem sardonischen Grinsen. „Neeiin!“, krächzte Svetlana. „Ach ich weiß, kostet extra! Okay, sollst noch zwanzig Euro fürs Erwürgen kriegen!“ Mit diesen Worten zog der Mörder das Strumpfband unbarmherzig zu und wartete ab, bis Svetlanas Körper aufgehört hatte zu zucken. Steif aufgerichtet spürte er sein Genital in der Hose. Mit einer nachlässigen Handbewegung warf er Svetlanas Körper auf das Bett, holte noch einmal sein Portemonnaie hervor und steckte zwanzig Euro in die Matratze. „Geschäft ist Geschäft!“, rief er unter hysterischem Lachen und verließ Svetlanas Zimmer.
 
Der Mörder sah hinüber auf die Neonreklame. Nicht umsonst hatte er sich und seinen Vater neben einem Bordell einquartiert. Die Erinnerung an sein Versagen bei Svetlana würde ihm helfen, den Mord an seinem Vater durchzustehen. Es war ihre erste gemeinsame Reise, nachdem er seinen Job im Krankenhaus verloren hatte, und seitdem, ja, seitdem Mutter verschwunden war. Die Beseitigung seiner Mutter war seine bisher perfideste Tat gewesen. Eines Tages hatte der Mörder herausgefunden, dass sein Vater manchmal, anstatt zur Arbeit zu gehen, sich mit Fräulein Sonntag traf, einer entfernten Bekannten der Familie. Zwischen ihnen war wohl nichts ernstes, aber der Mörder kannte ja die hysterische Art seiner Mutter. Es würde genügen, wenn sie die beiden zusammen sah. Und so arrangierte der Mörder es, dass seine Mutter ihn von der Arbeit abholen kam. Sie schlenderten durch die Stadt und kamen wie zufällig bei dem Eiscafe vorbei, in dem sein Vater und Fräulein Sonntag immer um diese Zeit saßen. Und richtig, auch heute waren sie dort. Und der Plan des Mörders ging auf. Seine Mutter schimpfte und fluchte, haute seinen Vater mit ihrem Regenschirm und schlug Fräulein Sonntag in die Flucht. Zu Hause rannte Mutter ins Schlafzimmer, knallte die Tür hinter sich zu und schloss von innen ab. Vater schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer. Über Mutters Verhalten verlor er wie üblich kein Wort. Am nächsten Morgen verließ Mutter mit zwei Koffern das Haus und verschwand auf Nimmerwiedersehen aus ihrer beider Leben. Warum tauchte sie nie wieder auf?
 
Der Mörder zuckte die Achseln. Er wusste es nicht. Er hatte nicht nachgeholfen. Nicht diesmal und nie. Seine Morde waren in der Nacht zu ihm gekommen, als Albdruck. In Wahrheit erfreuten sich alle seine Opfer bester Gesundheit. Der Einzige, der hier Stück für Stück starb, war er selber. Jede Nacht Visionen von zerfetzten, zerrissenen Leichen. Jeden Morgen mit feuchter Hose erwacht. Seine Leidenschaft, seine Künstlerseele zu nichts Besserem gebraucht, als sich in zwanghaften Mordphantasien zu ergehen! Er lebte fast nur noch in seinen blutigen Träumen. Seine Realität verdämmerte zwischen den Tagen. Und was war seine Realität? Immer war er gescheitert. Ob als Buchhändler, Praktikant einer Lokalzeitung oder Hilfskrankenpfleger. Er hatte mit fünfunddreissig immer noch mit keiner Frau geschlafen und lebte bei seinem Vater, der fast verstummt war und dessen Scheitern er sich immer viel zu bewusst war.
 
Der Mörder betrachtete die Diazepamschachtel in der aufgezogenen Nachttischschublade. „Das muss ein Ende haben!“, murmelte er mit trockenen Lippen. Er würde heute im Morgengrauen seinen ersten und einzigen Mord begehen und sich endlich von jenem entsetzlichen Albdruck befreien. Danach mochte geschehen, was wolle. Mochte er untergehen, wie es ihm bestimmt schien. Mochte er ins Gefängnis wandern, es war ihm gleichgültig. Hauptsache, die Ursache allen Übels, sein Vater, war vernichtet! Oh, er hatte es satt, zuzusehen, wie dem Alten das Leben aus der Hand glitt. Und er hatte es satt, zuzusehen, wie es ihm genauso ging!
 
Der Mörder griff weiter hinten in die geöffnete Schublade und holte ein langes Küchenmesser hervor. Damit würde er es tun. Der Mörder schwitzte. Sein ganzes Nachthemd war klitschnass. Er musste es hinter sich bringen, bevor er wieder zu zweifeln begann. Fest schloss sich seine Hand um den Knauf des Messers. Langsam stand er auf, ging aus dem Hotelzimmer und zog die Türe hinter sich zu. Im Flur war es dunkel. Der samtene Teppichboden schluckte seine Schritte. Sehr gut. Dennoch hörte der Mörder etwas. Es war sein Herz, das er hörte. Er hörte es mit markerschütternder Wucht in seiner Brust klopfen. Jetzt hatte er die Zimmertür seines Vaters erreicht. „Father…“, murmelte er, „I want to kill you…“. Dann betrat er das Zimmer.
 
Die Gardinen seines Vaters waren offen, der Mörder konnte einen schmalen Silberstreif am Horizont erkennen. Es war Zeit, zu handeln. Sein Vater lag auf dem Rücken, halb bedeckt von seiner Decke und atmete regelmäßig. Seine rechte Hand lag auf seiner Brust. „Wie friedlich er aussieht.“, dachte der Mörder. Doch nein, hier lag er, der Grund für sein Scheitern, er war in seiner Hand. In seiner Hand. Und dem Mörder ging auf, dass sein Vater wehrlos war, dass er ihn hier einfach abschlachten würde können. Würde er davon auch eine feuchte Hose bekommen, wie in seinen Träumen? Würde es ihn erregen, den eigenen Vater zu töten? Er sah auf das Messer in seiner Hand. Er musste es jetzt tun, sonst tat er es nie. Er peilte das Herz seines Vaters an und holte aus. Das Messer sauste herab…
 
Als die Sonne an diesem Morgen ihre ersten Strahlen über den Horizont schickte, fand sie einen jungen Mann vor, der weinend über seinen Vater gebeugt kniete, immer wieder über seine Brust, sein Gesicht streichelnd. Er liebte seinen Vater unendlich. Liebte diesen guten, kleinen, etwas schüchternen Mann, der immer vor seiner Frau gekuscht hatte, der seine Träume verraten hatte und alles andere als ein Vorbild in Sachen Männlichkeit gewesen war. Aber er war gut gewesen, immer. Stets loyal zu ihm gestanden, seinem Sohn. Stolz auf ihn gewesen selbst im Scheitern. Sein Herz schlug für ihn, seinen Sohn. Ja, sein Herz schlug. Immer noch. Das Messer lag weggeschleudert am Fußende des Bettes. Mochten sein Vater und er auch keine Helden sein, mochten sie auch immer wieder gescheitert sein, aber eins waren sie: Menschen. Und als solche liebenswert. Der Sohn wusste jetzt, dass er und sein Vater zusammengehörten. Und dass er nie wieder würde morden müssen, so oder so. Und als sein Vater erwachte, gingen sie zusammen frühstücken. Die Sonne hatte inzwischen eine beträchtliche Höhe erreicht…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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