Manfred Bieschke-Behm

Mein Kiez – meine Straße – meine Erinnerungen daran Teil 2



Mein Kiez – meine Straße – meine Erinnerungen daran Teil 2
Auch ich holte regelmäßig mit einer mit Beulen versehenden Aluminiumkanne Milch. Einmal verließ ich mit meiner gefüllten Milchkanne den Lebensmittelladen, und wollte über die Straße nach Hause gehen. Da beobachtete ich fasziniert zwei Jungen meines Alters. Der eine schleuderte mit weit ausholenden Armbewegungen sein mit Lebensmittel gefülltes Netz. Immer im Kreis herum. Immer schneller und schneller. Ich war von dieser Aktion fasziniert. Was der kann, kann ich auch. Gedacht getan. Ich schleuderte, weil ich ja kein mit Lebensmitteln gefülltes Einkaufsnetz dabei hatte, meine mit Milch gefüllte Kanne so wie mein Vorbild wie ein Riesenrad im Kreis herum. Ergebnis: Der Deckel der Kanne flog weg, und die Milch hatte, nachdem ich mein Schleudertempo verlangsamte, offensichtlich keine Lust mehr in der Kanne zu verweilen. Das Drama war da. Erstens war ich blamiert, zweitens bekleckert und drittens hatte ich mit Strafe zu rechen. So viel zum Thema unüberlegter Nachahmungsdrang.  
Ab und zu ging meine Mutter mit mir und einem gefüllten Wäschekorb in die Drogerie. In einem Nebenraum befand sich eine Wäschemangel. Hier mangelten wir als eingespieltes Team Tischtücher und vor allen Dingen Bettwäsche. Die Wäschemangel bestand überwiegend aus einer großen motorbetriebenen Holzwalze. Das noch feuchte Wäschestück wurde von uns beiden „gestreckt“ und anschließend von der Walze „platt gewalzt.“ Durch die ausgeklügelte Technik erfolgte so eine Art Trocknung mit gleichzeitigem Bügeleffekt.
In dem Neubau schräg gegenüber von unserem Wohnhaus gab es einen Friseurladen. Hier konnten sich Kunden schon morgens ab sechs Uhr die Haare schneiden lassen. Gerne ging ich hin zu diesem Laden. Immer wieder war ich fasziniert von den Gerätschaften die im Laden zu bestaunen waren. Aber auch die Frauen, die mit  zum Teil riesengroßen Lockenwicklern unter Krach machenden silbernen Hauben saßen und Illustrierten lesend auf den Moment warteten, das die Friseure sie von den Ungetümen wieder befreiten, begeisterte mich. Meine Vorstellungskraft reichte nicht aus, die eine so aufwendige Prozedur gerechtfertigte. Die aufwendigen Frisurergebnisse ließen sich doch nicht lange halten. Spätestens nach dem nächsten Regen waren hochgesteckte aufwendig modellierte Locken mehr oder weniger Vergangenheit. Und dennoch musste sich der Aufwand für die Frauen gelohnt haben. Die jungen Frauen trugen – dem Modetrend entsprechend - die so genannte „Farah-Diva-Frisuren“ (Farah Diva war die Frau des Schahs von Persien und erste Kaiserin des Iran).Die zu Türmen hochtoupierten Haare, die nur durch unendlich viel Haarlack in ihrer Substanz gehalten werden konnten, wurden von den Besitzerinnen voller Stolz „spazieren“ getragen. Im Sommer, wenn die Ladentür offen stand, ging ich besonders gerne am Friseurgeschäft vorbei. Den Duft, den ich dann einatmen konnte, war meistens Labsal für meine Nase. Manchmal roch es allerdings alles andere als wohlriechend. Das lag dann wohl an den Chemikalien die für die Haarfärberei verwendet wurden. Blond war der große Renner und deshalb roch es immer öfter unangenehm nach ätzenden Färbemitteln. Nicht selten wunderte ich mich, weshalb sich die Damen so „quälen“ ließen.
Am Ende der Straße gab es den Kohlenladen der sich in einem Keller befand. Immer wieder beobachtete ich, wie schwitzende Kohlenträger herauskamen. Sie hatten entweder Säcke mit Kohlen über den Buckel geschultert oder trugen lange mit Briketts gefüllte rechteckige offene hölzerne Behältnisse die mit Lederriemen zum Schultern versehen waren. Die Aufgabe der Kohlenträger war es zunächst die von Kunden bestellten Kohlenmengen auf einen Transportwagen zu laden. Die Gesichter der Kohlenträger waren häufig schwitzig und von Ruß geschwärzt. Nur die weißen Zähne strahlten aus ihrem „Mohrengesicht“. Nicht selten wischten sich die Träger mit ihrem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Ihre Hemden hatten an allen möglichen Stellen Schweißflecke, was von großen Anstrengungen zeugte. War ihr Dreiradauto beladen, tuckert es irgendwo hin, wo es schon sehnsüchtig erwartet wurde. Am Ziel angekommen, wurden die bestellten Kohlen in die Keller getragen und dort auch gleich sachgerecht aufgestapelt.
Auch einen Schuster gab es in der Katzlerstraße. Durch die Schaufensterscheibe hindurch konnte ich die vollen Regale mit repariertem oder noch zu reparierenden Schuhen sehen. Wenn es die Jahreszeit erlaubte, hielt auch der Schuster seine Ladentür offen. Bei ihm roch es, wie so typisch bei einem Schumacher, nach Leder und Schusterleim. Ich beobachtete, wie der Meister oder sein Geselle die Schuhe routiniert bearbeiteten. Jeder Handgriff saß.  Der zu reparierende Schuh wurde geleimt oder genagelt. Manchmal auch genäht, gedehnt und geweitet. Ich war stets aufs Neue von dem handwerklichen Geschick fasziniert.
Das Tabakwarengeschäft, das gleichzeitig auch für die Abwicklung des Lotto- und Totogeschäftes zuständig war, hatte besonders zur Zeit der Maikäfer für uns Kindern Hochkonjunktur. Jeder wollte eine leere hölzerne Zigarrenkiste haben. In ihr wurden Kastanienblätter gelegt und das so ausgestattete Nest diente als Behausung und Futterquelle für erworbene Maikäfer. Die Krabbeltiere wurden entweder selbst gefangen oder für ein paar Groschen in der Zoohandlung gekauft.
Natürlich waren Maikäfer auch Tauschobjekte. Da es unterschiedlich gekennzeichnete Käfer gab, war das Tauschgeschäft jedes Mal ein Großereignis. „Müller“ und „Schonsteinfeger“ mussten es des Öfteren über sich ergehen lassen den Besitzer zu wechseln.
Überhaupt wurde viel gesammelt und getauscht. Zum Beispiel Oblaten auch Glanzbilder genannt. Ganz besonders die, die mit Flimmer versehen Lackbilder. Sie hatten unter der Vielzahl von Motiven und Formen einen ganz besonderen Stellenwert.  Wenn nicht getauscht, wurden Oblaten in Schreibwarengeschäfte gekauft. Manchmal bekam man die begehrten Objekte auch als Zugabe beim Kauf bestimmter Lebensmittel dazu. 
Die Oblaten wurden von den Sammlern, meistens waren es Mädchen, nach allen möglichen Kriterien sortiert und in voll geschriebene Schulhefte aufbewahrt. Dafür wurde jede Heftseite zur Hälfte nach innen eingeknickt. In die so entstandene Faltung konnten die Kostbarkeiten schadlos abgelegt werden. Denn nur Oblaten, die weder einen Knick oder sonst wie beschädigt waren, hatten einen gewinnbringenden Tauschwert.
Oblatenbeilagen waren sehr beliebt bei Eintragungen in einem Poesiealbum. Nach Möglichkeit schmückte eine zum Text passende Oblate das eingetragene Sprüchlein.
„So wie des Baches Quelle, so silberhell und rein, so sollen auch die Tage, in deinem Leben sein“. Das war der von mir am meisten verwandte Spruch. Stolz war ich, wenn sich die Gelegenheit bot, mich „verewigen“ zu dürfen. Jeder Eintragende wollte seinen Vorgänger an Kreativität übertrumpfen. Manchmal wurden zum Text mehr oder weniger gelungene kleine Bilder gemalt oder aber sogar personenbezogene Fotos beigefügt.
 
Was den Einen die Oblaten waren, waren den Anderen Sammelbilder einer Margarinefirma. Extra für diese Sammelbilder hergestellte Alben wurden fleißig gefüllte. Bilder, die doppelt vorhanden waren wurden versucht zu tauschen. Stolz konnte derjenige sein, der ein volles Album vorweisen konnte.
Eine Zigarettenfirma verschenkte beim Kauf einer bestimmten Zigarettenmarke kleine wie aus Elfenbein geschnitzte Tier- und Menschenfiguren. Auch diese Nachbildungen waren beliebte Tauschobjekte.
Zurück zu den Läden. Besonders attraktiv war für mich ein kleines unscheinbares Geschäft. Im Schaufenster saß die Ladenbesitzerin. Ihr konnte ich zusehen, wie sie mittels eines für mich nicht zu definierendem Gerät Laufmaschen von Perlonstrümpfen aufnahm. Eine Laufmasche kostet drei Pfennig, so stand es mit flüssiger Kreide geschrieben an der Schaufensterscheibe.
Damenstrümpfe aus Kunststoff waren kostbar und wurden nicht gleich entsorgt, nur weil sie eine oder mehrere Laufmaschen hatte. Die eine oder andere Frau hatte nicht das Geld übrig, um sich die Laufmaschen auffangen zu lassen. Deshalb konnte ich ab und zu beobachten, wie Frauen ihre Laufmaschen zum Stoppen brachten, indem sie die Endstelle mit Nagellack betupfen. Durch diesen Trick war die Laufmasche zwar nicht beseitigt, aber das Weiterlaufen der Laufmasche wurde verhindert. Wenn ich Lust dazu hatte, machte ich es mir zur Aufgabe Perlonstrümpfe tragende Frauen mit Nagellack betupfte Laufmaschen ausfindig zu machen und sie zu zählen. Keine wirklich lohnende Aufgabe aber eine  besondere Art der Beschäftigung.
 
Speziell angetan war ich von dem Feinkostgeschäft an der Ecke meiner Straße. Im Eingangsbereich vom Feinkostgeschäft "Fresche" stand fast immer ein Fass gefüllt mit losem Sauerkraut. Ab und zu galt es unter uns Kindern als Mutprobe an dem Fass vorbei zu gehen, um mit spitzen Fingern vom Kraut zu stehlen. Kaum war das Kraut in der Hand verschwunden, wurde der Gang erheblich schneller. Denn wer wollte sich schon erwischen lassen?             Manchmal kaufte sich auch einer aus der Clique für 20 Pfennige Sauerkraut. Während der Rest nur darauf warteten ehrlich erworbenes Sauerkraut essen zu können, musste die Verkäuferin zunächst mit einer langen Holzzange das Kraut in eine aus Zeitungspapier geformte, nach untern abgeknickte Spitztüte befördern. Es dauerte, im Vergleich zur Wartezeit nur wenige Minuten, und der „Sauerkraut-Spaß“ war schon wieder vorbei. Eigentlich schmeckte das gestohlen Kraut besser als das bezahlte. Darüber waren wir uns alle einig.
Im Laufe der Jahre veränderte sich das Straßenbild. Immer mehr Häuser wurden saniert. Die Baulücken verschwanden und sichtbare Kriegsschäden gehörten der Vergangenheit an. Läden wurden geschlossen oder gewerbemäßig anders genutzt. Das Spielen auf dem Fahrdamm wurde immer gefährlicher, denn es gab immer mehr Autos. Bald gab es auch keine „Brennholz für Kartoffelschalen“- Aktionen mehr und Milch wurde nicht mehr „lose“ gekauft. Früh um sechs konnte sich niemand mehr die Haare schneiden lassen, denn es gab allgemein verbindliche Ladenöffnungszeichen. Keiner brachte mehr Kuchenteig zum Abbacken zum Bäcker und längst gibt es nicht mehr die Dame mit den Fähigkeiten Laufmaschen aufzunehmen. Sammelobjekte und Oblaten wurden unmodern und aus uns Kindern wurden Jugendliche.
Heute, nach über fünfzig Jahre befällt mich ein eigenartiges sentimentales Gefühl, wenn ich „meine Katzlerstraße“ besuche. Wenn ich um die Ecke biege und sehe in Gedanken das Fass mit dem frischen Sauerkraut dort stehen und mich, wie ich nach der Köstlichkeit greife und mit klopfenden Herzen das gestohlene Kraut verspeise.
Das klopfende Herz spüre ich auch jetzt. Jetzt wo ich den Blick in die Vergangenheit wage. Jemand hat einmal zu mir gesagt. „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem Du nie vertrieben werden kannst!“ Ein Paradies war „meine Katzlerstraße“ nicht, aber sie ist es wert, dass ich mich an sie, und das was ich dort erlebte, erinnere.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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