Claudio Surland

Reicherts Pullover

Mir fällt grad ein: Da war noch was mit Sindelfingen.
Richtig, ich wollte mal wieder hin. Noch eine
Schippe Kohlen, und ich tu es. Nur: Die Tuff-Tuff
fährt nicht mehr, die Dampfbahn, die uns damals
hintrug. Das letzte Stück von Stuttgart hoch fast
vor die Haustür ...

Mein Thema heißt: "Wie ich zum ersten Mal nach
Sindelfingen kam".
Genau gesagt, war's 1948. Als Knirps aus dem zer-
bombten Hagen in die heile Schwabenheimat mei-
ner Oma. Ich riech es noch, das Dorfodeur. Den
Kuhmist in den unplanierten Seitenstraßen, auch
in unsrer - mit dem Hause meiner Urgroßeltern,
Garten, Scheune, Feldern -, das Heu, den Duft von
Ziege, Schwein und Hühnern. Weiß noch von Plumps-
klo im und Hebelbrunnen vor dem Haus, der uns
das Wasser spendete, von frisch gemachten Spätzle
Tante Maries und dem Most von eignen Gartens
Äpfeln, den Onkel Rudolph aus dem kühlen Keller
holte und kredenzte. Für mich das Paradies.

Doch ein Ereignis blieb am unvergeßlichsten.
Im großen Saal des "Adler" feierte die Oma mit ih-
rem Jahrgang das 50jährige. Höhepunkt des Fests
war Willy Reichert, der geniale Komiker aus Schtue-
gert, der, in dem bekannten Sketch, als Kohlenliefe-
rant mit sechs Pullovern beim Arzt nur die Briketts
abliefern wollte und es nicht konnte, weil der dau-
ernd sagte: "Auszieh'n!" Beim dritten Jumper erklomm
das Hagner Knäblein seinen Stuhl, um fröhlich auf
dem Tisch herumzuhüppen. Reichert mußte unter-
brechen. Der Saal in Staunen, doch Reichert fragte
lachend, wem "des Kerle do" gehöre. Meine Oma hob
verschämt die Hand. Er sagte noch was Nettes, dann
ging es weiter. Natürlich war mir nicht bewußt, welch
berühmten Mann ich da zur Pause genötigt hatte.
Jahre später hieß es noch in Sindelfingen, wenn ich
zu Besuch umherspazierte: "Ach, des Büable, des de
Willy Reichert soinerzoit boim Auftrett unterbroche
hett!" So hinterläßt man eine frühe Spur. ---

Wie ist es heute? In vorrückendem Alter? Die Begei-
sterung ist noch da, nur nicht mehr so - tischhüppend
spontan; sie hat was von der Tuff-Tuff im Vergleich
zum ICE. Symbolisch. Man wird gemütlicher; der
Viertelschwoab in mir zeigt sich mit Älterwerden
sparsamer im Äußern der Gefühle. Tief drin ist man
vergnügt, vielleicht vergnügter, weil dankbarer für
alles, was uns wirklich Freude macht und je gemacht
hat.

So ändert sich im Leben vieles, manches zum Besseren.
Wie das mit Sindelfingen ist, kann ich nicht sagen. (Es
ist schon längst kein "Dorf" mehr). Doch die Erinnerung
an mein spezielles Nachkriegsparadies und einen geni-
alen Künstler,  den ich - folgenlos für meinen  Hosenbo-
den - stören durfte, bleibt. Nach der Tristesse daheim, in
Großstadttrümmern, fand ich hier erstens Grund zu un-
beschwerter Freude und zweitens einen Fall, von dem 
sich sagen läßt: "Ein Humorist bleibt auch bei Störung
in der Rolle", was mir, mit dem Talent zum Lachen, bei
den Problemen, die noch kamen, fürs Leben Beispiel
wurde ...


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.09.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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