Xuan Hy Nguyen

Im Supermarkt



Langsam schob ich den Einkaufswagen vor mir her und passierte den Eingangsbereich. Die automatischen Schranken auf denen die leuchtend rote Aufschrift „30% Rabatt“ zu sehen war, öffneten sich nur langsam, als wollten sie die nur bedingte Behaglichkeit im Supermarkt vor mir verbergen. Aus allen Ecken strömten verschiedene Klänge und Geräusche, die den Raum auf einer lebendigen Art und Weise füllten.
 
 Ein, gefühlsmäßig auf 120 Dezibel geschätzter, lauter Schrei eines Babys durchdrang meine Ohren, während ich noch nebenher das fleißige, einheitlich taktierte Rollen der Räder der Einkaufswägen vernahm. Hier und da sah man oft lauter rote, provisorisch befestigte 20%-, 30%-, 15%Rabattschilder, die ihren Zweck der optischen Täuschung perfekt erfüllten. Ebenso wie die strahlend weißen Scheinwerfer, die den ganzen Raum erhellten und jeder Obstsorte ihre für uns bekannte Nuance verliehen. Es war ein herrliches Gefühl mir diese ganzen Obstpaletten anzuschauen. Stolz strahlt die Orange eine pure Lebensfreude aus und die uniformierten Bananen begrüßten mich alle einheitlich mit einem knallgelben Lächeln, während die blutroten und grasgrünen Äpfeln mein Spiegelbild in ihrem glänzendem (chemisch nachgeholfenem) Lack reflektierten, sodass ich meine aus der Reihe tanzenden Haarsträhne wieder ordnen konnte. Jedoch sah man auch viele genervte, lang gezogene Gesichter, die geistlos ihre Einkaufswägen vor sich her rollen ließen. In diesen Fällen konnte selbst die Orange mit ihrer Lebensfreude auch nicht mehr an der Laune dieser Menschen rütteln.
 
Konzentriert begutachtete ein Mann den Preis des Lieblingsmantels seiner Frau, die sich diesen Mantel heimlich in ihren Träumen wünschte. Während er jeden Winkel des Mantels sorgfältig, schon fast mit einer übertriebenen Genauigkeit untersuchte, starrte sie ihn erwartungsvoll mit offenem Munde und glänzenden Augen an, während sie ihm eine unterwürfige Geste zeigte. Es fehlten ihr nur noch ein paar Zentimeter mehr Zunge zum Hecheln, aufmerksame, spitz nach oben gerichtete Ohren und ein hin und her wedelnder Schwanz, dann wäre sie ein….
Würde sie diesen Mantel tatsächlich bekommen, würde er sowieso nicht zu ihrer momentanen, lumpigen Kleidung passen.
 
Ein paar Halbstarke mit labil hängenden Hosen schritten selbstbewusst und triumphierend mit einer affenartigen Haltung durch die Gegend, dabei sah es so aus, als würden sie sich mit ihren Füßen den Weg ertasten. Sie ließen ihre Blicke in die Ferne schweifen, während sie sich scheinbar emotionslos mithilfe von zwei lässig hängenden Kabeln von der restlichen Umwelt abkapselten.
 
Ihre Blicke besaßen eine äußerst hohe Ähnlichkeit mit die der tausendfach retuschierten Models auf den Postern der Parfümabteilung: Eine wunderschöne, makellose Frau schmollte übertrieben ihre Lippen und ließ ihre Blicke in die Ferne schweifen, als sehne sie sich nach etwas. Neben dem Poster stand ein anderes Poster, auf dem ein junger Mann ebenso seine Blicke in die Ferne schweifen ließ und ebenso seine Lippen schmollte. Auch ein etwas älterer Herr von der Marke Balldessarini ließ seine Blicke fernsüchtig schweifen. Erste Interessenten trauten sich an das Parfum heran und probierten es an ihren Händen, um anschließend mit einer zuckenden Bewegung das Parfum wieder auf seine ursprüngliche Position zu positionieren, danach ihre Blicke in Richtung Ausgang schweifen zu lassen, um möglichst schnell aus dem Supermarkt zu diffundieren.
 
„Wer will schon Stroh, wenn er auch Gold haben kann“, Zitat von Natasha Poly. Ein schönes tausendfach retuschiertes Model mit strohblonder Mähne und katzenartigen Augen fokussierte mich und propagierte mit dem Haarspray von „Elnett Salin L’Oréal Paris“ eine Verwandlung von Stroh zu Gold. Urplötzlich brachte in mir eine Empörung aus, als ich an den bemitleidenswerten Zustand meiner Haare vor 3 Tagen dachte: Bei mir war es eher  eine Verwandlung von Haaren zu Stroh.
 
Ich setzte mich auf die Ruhebank hinter den Tiefkühltruhen und schloss meine Augen. Leise, aus dem Nirgendwo ertönten auf einmal die etwas depressive, aber beruhigende Melodie des Liedes „Summertime Sadness“. Von nah und fern vernahm ich das monotone Rollen der Räder der Einkaufswägen, jedoch hörte ich kaum menschliche Gespräche. In meinen Ohren klang die Umgebung in diesem Moment so friedlich. Aus der Ferne hörte ich Schritte, die immer näher rückten. Sie wurden immer schneller und lauter. Ich machte die Augen auf und sah eine sportliche Frau, die hektisch durch den Supermarkt rannte, als würde jemand sie mit einem rosaroten Panzerauto jagen. Ich drehte meinen Kopf um 45° und erblickte eine lebhafte Diskussion zwischen einem kugelrundem Kind und seine Eltern, die in eine tiefe Kluft der Verzweiflung gefallen waren.
Logisch, mit Fakten unterlegt, argumentierte das Kind: „Aber die Nimm2 Gummis sind gesund, weil sie Vitamine haben und in jedem Gummi sind da so kleine Früchtchen drin versteckt! Ich will sie sofort haben! Ich will sie sofort haben!“
 -„Aber nein die Süßigkeiten sind nicht gut für deinen Körper…“
 -„Wie viel Mal hab ich dir das schon gesagt! Es sind keine Süßigkeiten, sondern darin sind kleine Früchte versteckt!!!“
 
Drüben an der Selbstbedienungswursttheke hörte ich zwei Frauen mit klagenden Stimmen über etwas diskutieren, während ihre Hände automatisch zum eingepackten Beef Steak griffen.
-„Ich find’ das so unglaublich schlimm…“
-„Ja ich auch…was meinst du denn genau?“
-„Ja das mit der Massentierhaltung…was den Tieren alles angetan wird, einfach nur schrecklich!“
-„Ja das stimmt die armen Tiere, ich hab in einem Dokumentarfilm gesehen, dass die Kühe…“
 
Unglaubliche lange, bis dato noch nie gesehene Schlangen standen vor den Kassen, als wäre es der 20.12.12
(pst: am nächsten Tag würde es dann theoretisch der 21.12.12 sein…)
-„Herr F. bitte zur Kasse 3! Ich wiederhole, Herr F. bitte zur Kasse 3!“
Wie aus heiterem Himmel hörte urplötzlich die Kasse 3 auf zu funktionieren und wird augenblicklich vom Fachpersonal umgeben. Ein Kunde ärgerte sich schwarz darüber, dass seine Quittung von der Kasse 3 verschluckt wurde. Zur gleichen Zeit breitete sich ein dumpfes Gemurmel in den Warteschlangen aus. Man hörte die beruhigende Melodie von „Waiting for You“. Doch die Wirkung des Liedes bezüglich der aufgebrachten Gemüter schien eher kontraproduktiv zu sein.
 
Währenddessen geisterten im Gesicht der Kassiererin immer wieder teuflische Züge umher. Gewieft, rollte sie ihre Augen hin und her und spielte mit ihren Gedanken das Spiel namens „Was wäre wenn…“
Schweißgebadet suchte sie nach Mitteln, die diese lästigen Kunden sofort wegjagen könnten. Diese Kassiererin, die schon seit gefühlten 100 Jahren dort arbeitete, war nicht an diesen langen Warteschlangen gewöhnt.
Dank der roten Rabattschilder waren all diese Kunden gekommen und plötzlich wurden diese Rabattschilder zu den neuen, unausstehlichen Feinden der Kassiererin, die in ihrem Kopf nun anfing einen diabolischen Plan zu schmieden.
Sie trieb ein gefährliches Rechenspiel:
-„Also wenn man 50% Rabatt kriegt, das heißt, dass man die Hälfte umsonst kriegt und wenn man 100% Rabatt kriegt, dann kriegt man alles umsonst, wenn man aber 0% Rabatt kriegt, dann bleibt der Preis ja gleich und man kriegt ja nichts umsonst…“
 
Nun ihre zündende Idee: Sie stieg ungeniert auf das Laufband der Kasse 3 und verkündete die unerwartete Nachricht: „Ab 19 Uhr heute gibt es bis zu minus 50% Rabatt!!“
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Xuan Hy Nguyen
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Pst: Dieser Text entstand während einer turbulenten Shoppingtour im Supermarkt, in der ich alles genau beobachtete.
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.09.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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